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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

543–546

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sautter, Hermann

Titel/Untertitel:

Verantwortlich wirtschaften. Die Ethik gesamtwirtschaftlicher Regelwerke und des unternehmerischen Handelns. Weimar b.

Verlag:

Marburg: Metropolis-Verlag 2017. 824 S. = Ethik und Ökonomie, 20. Geb. EUR 36,80. ISBN 978-3-7316-1267-4.

Rezensent:

Eilert Herms

Seit dem Aufblühen von »Wirtschaftsethik« hierzulande in den späten 1980er Jahren wird der Diskurs strukturiert durch die möglichen Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen »wirtschaftlichem« und »ethischem« Handeln: Die Sachlogik wirtschaftlichen Handelns wird als die Grundform jedes möglichen rationalen, also auch ethischen, Handelns behauptet (»ökonomischer Imperialismus«: in den USA Gary Becker und in Deutschland Karl Homann), oder die Sachlogik ethischen Handelns gilt so universal, dass die spezifisch ökonomischen Züge von Handeln (seine konkurrierende Gesinnungsorientierung) grundsätzlich als Ge­fährdung seines ethischen Charakters zu betrachten sind (»integrative Wirtschaftsethik«: P. Ulrich). Man kann aber auch sehen, dass zur Sachlogik ethischen Handelns selber der Unterschied verschiedener güterspezifischer Leistungsrichtungen, und unter diesen auch die wirtschaftliche, hinzugehört, so dass Wirtschaftsethik als »Bereichsethik« in Analogie zu anderen solchen (Rechtsethik, Medizinethik etc.) zu betreiben ist. Diese Sicht hat Hermann Sautter, emeritierter Göttinger Volkswirtschaftslehrer, seit Beginn der Debatte vor über 30 Jahren konsequent vertreten und nun im hier anzuzeigenden Opus magnum zusammenfassend vorgetragen.
Dessen erster Teil bietet S.s eigenes Verständnis von »Ethik« als »Theorie des moralischen Handeln« (27–76), profiliert durch Darstellung und Diskussion klassischer Ethik-Konzeptionen: Aristoteles, Christentum, Kant, Utilitarismus, Diskursethik (77–134), und die darin begründete Sicht des »Verhältnisses« zwischen »moralischer Legitimität« und »ökonomischer Rationalität« von Handeln, unter ausdrücklicher Absetzung von den alternativen Verhältnisbestimmungen Homanns und Ulrichs (135–198). Der zweite Teil untersucht die ethische Qualität des nationalen (199–464) und in-ternationalen (465–524) Ordnungsrahmens wirtschaftlicher Ak­tionen, der dritte dann die ethische Qualität des unternehmerischen Handelns im Rahmen nationaler (527-674) und internationaler Ordnung (675–728). Die formalen Stärken des Werkes – knappe und klare Beschreibung aller thematischen philosophischen, theoriegeschichtlichen und empirischen Sachverhalte, Zugänglichkeit für jeden gebildeten Laien durch bestens nachvollziehbare umgangssprachliche (fast nie mathematische) Beschreibungen wirtschaftlicher Funktionsmechanismen – bringen seine sachlichen Stärken ungehindert zur Wirkung: erstens einen hohen Informationsgrad vermöge vieler pointengenauer Referate philosophischer, wissenschaftlicher und politischer (staats-, rechts- und wirtschaftspoli-tischer) Positionen sowie vor allem einer Fülle von detaillierten Beschreibungen institutioneller Bedingungen und typischer Herausforderungen bzw. Konfliktlagen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Handelns auf nationaler und globaler Ebene. Zweitens die lange Serie von Beispielen, die das Allgemeinbeschriebene am Einzelfall verdeutlichen und als praxisrelevant beweisen. Drittens aber und vor allem die weitreichenden Sacheinsichten S.s. Der Rezensent greift ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige in seinen Augen besonders wichtige Punkte heraus:
a) Das ist zunächst S.s Sicht der Realität menschlichen Handelns als eines Vorgangs, dessen Eigenart nicht wie in den Naturwissenschaften durch sinnliche Beobachtung erfasst werden kann, weil er ein Entscheiden über folgenreiche Verhaltensweisen unter der un­abweisbaren Zumutung ist, sich an den Normen eines Sollens zu orientieren, die »wahr«, »real«, »objektiv« und »universal« sind (kog­nitivistischer Normenrealismus), weil »objektiv begründet«. Diese Begründung, obwohl am Ort des einzelnen Handlungssubjekts (-autors) und auch durch es vollzogen, schafft nämlich die verbindliche Zumutung (das Soll, die Norm) nicht, sondern findet sie als Implikat einer jedem Einzelnen vorgegebenen Realität: seines in­nerweltlichen Menschsein, das er mit allen möglichen seinesgleichen teilt. Diese »Letztbegründung« des Gesollten greift auf das eigene Welt- und Menschenbild der Aktanten zurück, ist insofern also individuell und beschränkt, aber dennoch zugleich allgemein und universal, weil das Reale, das alle diese individuellen Sichtweisen ermöglicht und verlangt und von ihnen intendiert wird, stets das schlechthin Eine und Gemeinsame ist: das Menschsein in dieser Welt. S. kann beides anerkennen: sowohl die unübersehbare Verschiedenheit der Beschreibungen dieser vorgegebenen Realität des Menschseins (schon innerhalb der westlichen Moderne und erst recht zwischen dieser und den Kulturen anderer Erdteile) als auch das »gemeinsame Erbe der Menschheit«: eben das Menschsein selbst und die »Minimalethik« des durch es selber jedem Menschen zugemuteten Solls: etwa der Wahrhaftigkeit, der wechselseitigen Schadensvermeidung und Hilfe, kurz: der wechselseitigen Achtung all dessen, was zur »Würde« des Menschseins gehört.
b) In der Verfassung des Menschseins liegt auch die Zumutung von Effizienz, also der »ökonomischen Rationalität« von Handeln. Von der Erfüllung des Gebots ökonomischer Rationalität dispensiert die interaktionelle Achtung der Würde des Menschseins nicht, sondern schließt dessen Erfüllung ein; und ebenso auch, wie S. (mit den Freiburger Ordoliberalen: Eucken, Röpke, Böhm, Rüstow) sieht, den Wettbewerbscharakter des menschlichen Zusammenlebens und damit den Markt als zugemutete Ordnung des Wirtschaftens (beides, besonders das Zweite, gegen P. Ulrich); damit aber auch die irreduzible Differenz zwischen wirtschaftlichem Handeln in einer solchen Ordnung (Teil 3) und dem auf die Erreichung und Erhaltung einer solchen Ordnung des Wirtschaftens gerichteten, also wirtschaftspolitischen, Handeln (Teil 2).
c) Weil den Menschen zugemutet, kommen Ordnungen des Marktes nicht allein aufgrund des wirtschaftlichen (ökonomisch rationalen) Handelns aller Einzelnen naturwüchsig zustande (ge­gen jeden Naturalismus von sozialer und wirtschaftlicher Ordnung [etwa Rotbard, Hayek]), sondern allein durch die Art und Weise, wie Menschen durch ihr politisches Handeln die für sie unabweisbare Ordnungsaufgabe in Orientierung an den letztlich in der Würde des Menschseins und des menschlichen Zusammenlebens begründeten ethischen Normen Handeln bewusst aufnehmen, zu lösen intendieren und auch lösen. S. beschreibt detailliert die Fülle dessen, was an solcher ethisch legitimer Ordnung für Politik national und international erreichbar, schon erreicht, aber auch noch zu erreichen ist.
d) Die irreduzible Differenz zwischen wirtschaftlichem Handeln von Unternehmen bzw. in ihnen und wirtschaftspolitischem Handeln der Staaten ändert nichts daran, dass auch Unternehmen als solche Einfluss auf das Zusammenleben im Ganzen und diesen verantwortlich wahrzunehmen haben; von S. anschaulich gemacht etwa durch Beschreibung der Wahrnehmung der CSR (Corporate Social Responsibility) der Unternehmen und vor allem ihrer Mitarbeit an Errichtung, Stabilisierung und Weiterentwicklung der politisch gewollten Ordnung des Wirtschaftens und im globalen Maßstab: etwa durch ihre durchaus mögliche Vorbereiterrolle für eine ethisch legitime (die Würde des Menschseins achtende) Ordnung in noch weniger entwickelten Ländern.
e) Die Interdependenz des Leistungsbereichs Wirtschaft mit dem Leistungsbereich Politik/Recht ist das Exemplar der Interdependenz aller für das menschliche Zusammenleben unabweisbaren Leistungsbereiche. Damit zeigt sich die ethische Grundzumutung, das Wirtschaften und die Ordnung des Wirtschaftens nicht als Selbstzweck zu betreiben, sondern als Mittel zur Erreichung von darüber hinausliegenden Zielen. Das Wirtschaften und seine Ordnung ist zu »mediatisieren« (88 f.102.148): horizontal auf die anderen gleichursprünglichen Aufgaben des Zusammenlebens (wo­mit sich zeigt: Wirtschaftsethik bewegt sich de facto im Rahmen einer alle wesentlichen sozialen Leistungsbereiche betrachtenden Sozialethik und gewinnt erst in diesem Rahmen konkret) und vertikal auf das »höchste Gut«, den Selbstzweck des Daseins jedes Aktanten. Daher: Kein ökonomisches Handeln, in dem sich nicht zugleich auch der nicht rechenhafte (nichtinstrumentelle), sondern selbstzweckorientierte Charakter menschlichen Handeln mitmanifestieren würde (verdeutlicht an J. Wielands Theorie des Unternehmens als Kooperationsgemeinschaft und dem »Wieland-Paradox« (E. H.), das für das Zustandekommen, das Bestehen und das Blühen eines »rechnenden« Unternehmens auch nicht-rechenhafte Aktionen unverzichtbar sind).
f) Diese Mediatisierung des wirtschaftlichen Handelns muss am Ort der einzelnen wirtschaftspolitischen und wirtschaftlichen Ak­teure stattfinden und wirksam sein. Wo und wann immer wirtschaftliche Akteure die Ziele ihres wirtschaftlichen Handelns nicht mehr als Mittel zum Zweck der Beförderung des Gemeinwohls und eines eigenen Lebenszieles, das über den persönlichen wirtschaftlichen Gewinn hinausliegt, verfolgen (von S. explizit als »Gier« be­schrieben), ergeben sich mehr oder weniger schnell mehr oder weniger weitreichende katastrophale Folgen: jedenfalls für andere (wie traurige Fallbeispiele zeigen), aber auch für die Einzelnen.
Den Hörern der diesem Buch zugrundeliegenden Vorlesungen, Studierenden der Wirtschaftswissenschaft, soll dem Vernehmen nach ihr Fach in einem völlig neuen Licht begegnet sein: nämlich im fundamentalanthropologischen Horizont einer Sicht der universalen Grundzüge des menschlichen Zusammenlebens als die Beschreibung eines seiner wesentlichen Aspekte in der Wechselwirkung mit anderen (explizit dem politischen, implizit aber auch dem kulturellen). So könnte das Werk vielleicht auch auf ökonomische Leser wirken.
Möglichst viele Leser muss man dem Werk aber auch in Theologie und Kirche wünschen. Für sie ist es eine denkbar genaue und reichhaltige Einführung in die systemischen Zusammenhänge des Wirtschaftens und der Wirtschaftspolitik in der globalisierten Mo­derne. Nur wer die hier entwickelten Zusammenhänge kennt und berücksichtigt, kann über Chancen und Gefahren der Globalisierung kompetent mitreden. Und wer sich darüber wundert, dass das Werk die Frage nach der ökonomischen Verantwortung des einzelnen Verbrauchers nicht stellt, wird jedenfalls eine Antwort auf diese Frage nicht mehr suchen vorbei an den systemischen Bedingungen, die hier beschrieben worden sind.