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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

201–204

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Siegert, Folker

Titel/Untertitel:

Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur. Apokrypha, Pseudepigrapha und Fragmente verlorener Autorenwerke.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. X, 776 S. Geb. EUR 149,95. ISBN 978-3-11-035191-0.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Dass die Literatur des hellenistischen Judentums entscheidende er­schließende Kraft für das Verständnis der Schriften des Neuen Testaments hat, gilt heute als Konsens. Das war nicht immer so, wenn man an die Hochschätzung von Talmud und Midrasch einerseits, der so genannten »Gnosis« andererseits, als angeblichen »Parallelen« zum Neuen Testament in der neutestamentlichen Exegese im 20. Jh. denkt. Die Erforschung des griechischsprachigen Judentums in hellenistisch-römischer Zeit steht demgegenüber den Schriften des Neuen Testaments nicht nur zeitlich näher, sondern auch kulturell und theologisch, verdankt sich doch die Entstehung und Ausbreitung der frühesten »christlichen« Bewegung viel mehr diesem Milieu als einem angeblich »hebräischen Denken«, wie schon die Sprache des Neuen Testaments zeigt. Dass diese Sprache zugleich auch den Schlüssel zur griechisch-römischen Kultur, Zivilisation, Literatur, Philosophie, ja, sogar Religion bietet, braucht dabei kein Streitpunkt zu sein. Ein Antagonismus zwischen Judentum und Hellenismus wird heute von niemandem mehr ernsthaft vertreten.
Mit dieser grundlegenden Einsicht in die Bedeutung des hellenis-tischen Judentums für die neutestamentliche Exegese ist freilich nicht schon automatisch auch die Kenntnis seiner Quellen verbunden. Über Philon und Josephus und vielleicht noch die original oder sekundär griechischen Septuaginta-Schriften reicht das Wissen von Studierenden der Theologie nicht unbedingt immer weit hinaus (das aller Theologie Lehrenden?). Für Studierende vor allem will die vorliegende »Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur« von Folker Siegert geschrieben sein (86). Das damit verbundene Anliegen, die Schriften des Neuen Testaments und die Entstehung des Christentums historisch, literarisch, kulturell und religiös zu kontextualisieren, kann nur begrüßt werden. Der Quellenbereich, den es dabei zu bearbeiten gilt, ist freilich denkbar weit und die Textüberlieferung zum Teil äußerst komplex. Allein schon die Quellen nachvollziehbar zu ordnen, ist eine wissenschaftliche Herausforderung. S. schließt neben den Qumran-Schriften und den Rabbinica auch Philon und Josephus von vornherein aus (dazu gibt es genug Einführendes) und entscheidet sich für eine Anordnung nach Textsorten, innerhalb dieser für die chronologische Reihenfolge. Daraus ergeben sich acht Hauptteile, deren Überschriften hier genannt seien, um die Vielfalt der behandelten Texte sichtbar zu machen: 1 Übersetzungen aus dem Hebräischen bzw. Aramäischen, 2 Original Griechisches in bibelähnlicher Pseudepigraphie, 3 Autorenwerke (Prosa) in fragmentarischer Überlieferung, 4 Jüdische Prosaschriften unter pagan-griechischem Pseudonym, 5 Metrisches, 6 Sonstige jüdische Texte, 7 Texte von unsicherer Zuordnung, 8 Jüdisches Erzählgut in kirchlichen Sammelwerken und Kompendien. Dass mit diesen Überschriften keineswegs i mmer Textsorten bezeichnet werden, ist evident, aber im Grunde un­vermeidlich, denn hinter jeder Zuordnung zu einer Textsorte steckt immer schon ein ganze Kette an gelehrter Diskussion. Schwerer wiegt demgegenüber, dass sich unter Titeln wie »Sonstige jüdische Texte« oder »Texte von unsicherer Zuordnung« Schriften wie die Sapientia Salomonis oder das Matthäusevangelium verbergen. Dem liegen Entscheidungen von S. zugrunde, die er an betreffender Stelle auch je­weils begründet, aber wer ahnt das schon (Studierende?), wenn er nicht das ganze Buch von Anfang bis Ende liest. Immerhin gibt es am Ende ausführliche Register, die auch die antiken und modernen Buchtitel verzeichnen (griechisch, lateinisch, deutsch), und das de­taillierte Inhaltsverzeichnis dokumentiert die Zuordnungen im Einzelnen.
Die eben angedeuteten Zuordnungsprobleme werden in einer sehr ausführlichen Einleitung zur Einleitung thematisiert (1–101). Neben Begründungen zur Quellenauswahl, terminologischen Fragen, methodischen Problemen, historischen und philologischen Zu­sammenhängen, Hinweisen zu Hilfsmitteln, Abkürzungen und Quelleneditionen findet sich dort auch ein Abschnitt »Jüdisch oder christlich? Probleme der Zuordnung« (56–67). Damit greift S. eine Debatte auf, die in der jüngsten Forschung zur jüdisch-hellenistischen Literatur zunehmend Raum gewinnt. Nach Abkehr von den rabbinischen Quellen hatten sich Neutestamentler weitgehend undiskutiert auf einen »Kanon« jüdischer Schriften gestützt, der sich ungefähr mit dem Sammelwerk »Jüdische Schriften aus hellenis-tisch-römischer Zeit« (Gütersloh 1973 ff.) deckt. Dabei wurde zu wenig beachtet oder zumindest nicht immer klar genug herausgestellt, dass wir es hier (abgesehen von wenigen Qumran-Texten und dokumentarischen Quellen) ausnahmslos mit allein durch christliche Tradenten überlieferten und in christlichen Abschriften erhaltenen Texten zu tun haben (was im Übrigen ebenso für Philon, Josephus und die Septuaginta gilt) und dass dies so gut wie immer auch im überlieferten Wortlaut der Texte erkennbar wird. Zwar gab es um den jüdischen Ursprung einiger weniger dieser Schriften schon länger Debatten (etwa zu den »Testamenten der Zwölf Patriarchen«). Dass hier aber ein Grundproblem der griechisch-jüdischen Literatur liegt, ist erst in jüngster Zeit mit Nachdruck betont worden, insbesondere durch J. Davila und R. Bauckham, auf die sich S. auch bezieht. Zu Recht weist er darauf hin, dass allein das Vorkommen biblischer Stoffe und das Fehlen explizit christlicher Aussagen oder neutestamentlicher Anspielungen noch kein Ausweis jüdischen Ursprungs sein müssen, denn antike Christen konnten ohne Weiteres und aus guten biblisch-theologischen Gründen ihrerseits solche Texte produzieren, um ihrer Überzeugung, in der Verheißungslinie des biblischen Gottesvolkes zu stehen, Ausdruck zu verleihen. Je geschickter sie dabei literarische Mittel wie die Prosopopoiie oder die Pseudepigraphie anwandten, desto weniger wollten und konnten sie als christliche Autoren entdeckt werden.
Man kann daraus die Schlussfolgerung ziehen (wie es etwa Davila tut), sämtliche durch Christen überlieferte antike Schriften auch nur als christliche, und nicht als jüdische Quellen anzusehen, jedenfalls so lange, wie vorchristlich-jüdischer Ursprung nicht zweifelsfrei erwiesen ist, was angesichts der Überlieferungslage aber oft faktisch unmöglich ist, so dass am Ende dann doch wieder allein die talmudischen Texte (und die Qumran-Schriften) als »echt« jüdisch übrig bleiben – eine merkwürdige Ironie der Forschungsgeschichte! Selbst die Septuaginta wäre in diesem Fall zu Teilen allein als christliche Quelle zu werten, was sie nach ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer in sich vielfältigen Überlieferungsgestalt in der Tat auch ist. So weit geht S. in seiner Einleitung nicht. Aber immerhin für zwei (bzw. drei) der mit der Septuaginta überlieferten ursprünglich griechisch verfassten Schriften tendiert er zur Annahme christlichen Ursprungs der überlieferten Endgestalt oder zumindest christlichen Einflusses auf sie: die Sapientia Salomonis und das 2. Makkabäerbuch (sowie das in LXX-Handschriften und unter den Werken des Josephus überlieferte, erst Ende des 2. Jh.s n. Chr. sicher bezeugte 4. Makkabäerbuch).
Besonders detailliert stellt sich seine literargeschichtliche Rekonstruktion beim 2. Makkabäerbuch dar. S. ordnet es unter die »Autorenwerke […] in fragmentarischer Überlieferung« (wer würde es da wohl suchen?) und unterscheidet drei Entwicklungsstufen der Textentstehung: das verlorene, aber in 2,23 erwähnte fünfbändige Ge­schichtswerk des Iason von Kyrene (daher die Zuordnung), eine daraus erstellte, an derselben Stelle genannte Epitome (die üblicherweise mit 2Makk gleichgesetzt wird) sowie die in christlichen Bibel­handschriften seit dem 2. Jh. überlieferte Endgestalt. Im Grunde müsste noch eine vierte Stufe hinzugefügt werden: die Ausmalung von 2Makk 6–7 im 4. Makkabäerbuch, aber diese Schrift behandelt S. erst später unter der Rubrik »Jüdisches Eingehen auf Christliches« (obwohl er seine diesbezügliche These schon bei 2Makk voraussetzt). In zum Teil detaillierter philologischer Argumentation einschließlich zweier ausführlicher Exkurse zum Thema Martyrium und Auferstehung der Toten will er zeigen, dass eine literarische Scheidung zwischen den genannten Entwicklungsstufen möglich oder wenigs-tens denkbar ist, die zu der Annahme führt, das Werk des Iason, geschrieben zw. 160 und 152 v. Chr. in Jerusalem, sei vom Epitomator zwischen 124 und 63 v. Chr. ebenfalls in Judäa/Jerusalem grundlegend überarbeitet worden, habe seine überlieferte Endgestalt aber erst im 2. Jh. n. Chr. in der Diaspora erhalten, entweder durch eine christliche Endredaktion oder, wenn durch jüdische Redaktoren, dann in Reaktion auf christliche Überzeugungen von Martyrium und Auferstehung. Die Pointe des Ganzen: 2Makk 6–7 fallen als (einzige!) Belege für eine vorchristlich-jüdische Idee von Martyrium und Auferstehungsglauben aus!
Die Sapientia Salomonis findet sich, zusammen mit dem 4. Makkabäerbuch, dem Testament Hiobs und dem »Testament des Schweinchens«, aber auch aus Josephus’ rekonstruierten Quellen wie dem »Tobiadenroman«, verschiedenen magischen und astrologischen Texten sowie anonymen Zitaten bei Kirchenvätern oder paganen Autoren und (als »Irrläufer«) dem »Brief des Hannas an Seneca«, nach geduldiger Suche im Kapitel »Sonstige jüdische Texte«, Unterrubrik »Jüdisches Eingehen auf Christliches«. Für sie hält S. mit Nachdruck fest, dass ihr Platz in den frühesten christlichen Zusammenstellungen des Kanons schwankt und »die Entscheidung, diese Schrift dem kirchlichen Alten Testament beizugeben, offenbar erst spät (fiel)« (544). Bei der Analyse der Schrift geht er von literarischer Einheitlich keit aus, notiert aber unter »Christliches?« bzw. »Eingehen auf Christliches« mehrere Passagen, für die er Einflüsse von neutestamentlichen Aussagen her vermutet. So sei etwa die sich in 3,13 f. zeigende ablehnende Haltung zur Sexualität sonst nur christlich belegt (vgl. Mt 19,12). Vor allem die Passage 2,12–20 kann sich S. nur als »Kommentar zum Tod Jesu […] aus der Zeit kurz nach 30« erklären und vermutet daher: »Vielleicht ist der Verfasser ein Judäer […], den das Geschehen um Jesus angewidert hat, ohne dass er ihm Heilsbedeutung beimäße.« (558) Für die Schrift als Ganze ergibt sich daraus dann die Erwägung, »ob die ›Christlichkeit‹ der Sapientia nicht teilweise wenigstens ein Reflex ist auf bereits entstandenes, aber doch von außen betrachtetes Christentum« (556). Als Adressaten der Schrift vermutet S. »die Judenheit Roms zur Zeit des dort aufkommenden Christentums« (559).
Solche Urteile fordern die Forschung massiv heraus und werden kaum ohne Weiteres Anerkennung finden – das weiß S. Die Stärke seines Buches liegt darin, die Komplexität der Überlieferung und die damit zusammenhängenden Probleme ihrer Interpretation und Rekonstruktion immer wieder bis ins Detail vor Augen zu führen, die Schwäche in einem gewissen Bestreben, möglichst immer auch eigene, und nicht selten eigenwillige Lösungen vorzuschlagen, de-ren Überzeugungskraft, vorsichtig gesagt, steigerungsfähig ist. Das argumentum e silentio etwa bei den Thesen zu 2Makk und SapSal scheint mir in seiner Tragkraft deutlich überfordert. Dazu kommt die Schwierigkeit, S.s Buch im Blick auf seine impliziten Leser einer Gattung zuzuordnen. Als Lehrbuch scheint es mir, ganz abgesehen von Umfang und Preis, ungeeignet, nicht nur wegen seiner zahlreichen eigenwilligen Thesen, sondern mehr noch wegen der Unübersichtlichkeit im Aufbau (die ja mit dem zuvor genannten Punkt zusammenhängt) und der häufig abschweifenden Argumentation im Detail. Die zu jeder Schrift angeführten oft seitenlangen katalogartigen Aufzählungen von Hinweisen zu Literatur, Hilfsmitteln, aber auch vielen historischen und theologischen Einzelfragen der »Einleitung« sind kaum überschaubar und nicht selten schlicht überflüssig (wer braucht etwa den ständigen Hinweis auf eine Website zur frühjüdischen Literatur, die seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gepflegt wird und von Anfang an nicht als wissenschaftliches Hilfsmittel gedacht war?). Für die Spezialforschung bietet S. dagegen unendlich viele Anregungen, gerade auch für diejenigen, die sich seinen Thesen oft nicht anschließen werden. Seine überragenden philologischen und historischen Fähigkeiten und seine außergewöhn-liche Quellenkenntnis ebenso wie die intellektuelle Schärfe seiner kri tischen Diskussion von Problemen der jüdisch-hellenistischen Literatur sollten im Meer von Einzeldiskussionen zu bisweilen abseitigsten antik-jüdischen bzw. -christlichen Quellen nicht untergehen!