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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1400–1402

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Frisch, Ralf

Titel/Untertitel:

Was fehlt der evangelischen Kirche? Reformatorische Denkanstöße.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 280 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-05030-7.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Wäre die im Titel dieses Buches enthaltene Frage mit einem Wort zu beantworten, müsste es »Transzendenz« oder »Metaphysik« heißen. Nach dem Urteil Ralf Frischs, der an der Evangelischen Hochschule Nürnberg Systematische Theologie lehrt, ist »der Himmel auf dem Boden der Tatsachen der real existierenden Volkskirche kein Thema mehr« (93). Unter dem Eindruck der marxistischen und materialistisch-naturwissenschaftlichen Religionskritik scheint der evangelischen Kirche »der Sinn für die letzten Dinge und die letzten Fragen des Kosmos abhanden gekommen zu sein«. Sie kommt für viele Menschen nicht mehr als Ort der Transzendenz infrage, nachdem wir uns »unsere schöpfungsspirituellen Wurzeln abgeschnitten« haben und als Kirche geistlich und intellektuell verkümmern (98). Diese Kirche scheint vergessen zu haben, »was sie ist, was sie hat, wo sie herkommt und woraus sie lebt« (109). F. will unter Bezug auf die Reformation Denkanstöße geben mit dem Ziel, »dass die evangelische Kirche der Zukunft keine unfreiwillige An­leitung zum Kirchenaustritt darstellt, sondern zu Christus und ins Herz des Heiligen führt« (41). Der Protestantismus nimmt bis heute an einem Entsakralisierungsprogramm teil, das dazu führte, »das herrschende Bild der geheimnislosen Welt für objektiv, normativ und unhintergehbar« zu halten (136). Der wissenschaftliche Reduktionismus unserer Zeit verwirft Metaphysik, stellt aber selber eine solche dar. F. plädiert für eine vernünftige Me­taphysik, die zu denken wagt, »dass die Welt auf Fundamenten ru­hen könnte, die nicht mit den Erkenntnisinstrumentarien der exakten Wissenschaften zu Tage zu fördern sind« (138). Der moderne Protestantismus habe »den fundamentalistischen Atheismus zu­tiefst verinnerlicht, indem er Immanuel Kants Philosophie folgt und für ihn nurmehr ethische Fragen oder Fragen interreligiöser Toleranz, nicht aber metaphysische Fragen Bekenntnisfragen sind« (ebd).
Nach F.s Meinung ist die evangelische Kirche für viele Menschen uninteressant, weil sie sich nicht von der säkularen Welt unterscheidet und keine Alternative zum Geist unserer Zeit bietet. Dazu trägt die akademische Theologie bei, in der bestimmte Strömungen »ihr Existenzrecht am effektivsten dadurch zu sichern trachten, dass sie der evangelischen Theologie ihre christliche Substanz ausblasen« (205) und »eine um ihre christliche Substanz bereinigte evangelische Theologie umstandslos mit Luthers reformatorischer Erkenntnis kurzschließt und identifiziert« (218).
Die Zitate zeigen, dass F. bewusst provoziert. Oft mildert er scharfe Urteile, indem er in Frageform oder im Konjunktiv spricht. Denkanstöße müssen heute wohl provozierend formuliert werden, um Gehör zu finden. F. bekennt seine Liebe zu seiner Kirche, die freilich zugleich oft eine enttäuschte Liebe ist. Er fällt niederschmetternde Urteile, bescheinigt der deutschen evangelischen Kirche aber zugleich, dass sie »eine nicht nur sozialethisch, sondern auch religiös blühende Landschaft ist« (34). Aus praktisch-theologischer Sicht kommt das Problem der religiösen Kommunikation in der säkularen Welt zu kurz. F. beobachtet, dass viele Mitarbeitende in Kirche und Diakonie der christlichen Botschaft »nichts mehr zutrauen und so die Vermittlung, nicht aber den göttlichen Inhalt der Botschaft zu ihrem Gott machen« (113). So richtig es ist, die sachliche Priorität des Inhalts gegenüber der Form zu betonen, so wenig lassen sich inhaltlicher und methodischer Aspekt in der Kommunikation voneinander trennen. Die Abwertung der Methodenfrage, wie sie in der Dialektischen Theologie erfolgte, hilft nicht weiter. Praktisch bedeutsam ist auch, dass F. die Vernachlässigung des Ästhetischen im Protestantismus kritisiert. »Stillosigkeit statt Sinn für das Heilige« wirft er der Kirche vor (221). In der Praktischen Theologie wird allerdings dieses Defizit seit einiger Zeit gesehen und bearbeitet. Die Frage, wie Sichtbares für das Unsichtbare transparent werden kann, ist weder der Kirche noch der Theologie fremd. Entscheidend ist, ob das oder der Unsichtbare in personaler Beziehung geglaubt, erfahren und bezeugt wird. Dazu kann es helfen, vorreformatorische Traditionen wie die Mystik, die Metaphy sik und das Mönchtum wieder für die evangelische Kirche zu gewinnen. Notwendig ist eine Fundamentalität des Glaubens zwischen der Skylla des Fundamentalismus und der Charybdis des Relativismus, auch angesichts des Islamismus, den F. deutlich kritisiert. Fundamental ist die Verkündigung und Erfahrung des in der Heiligen Schrift sich offenbarenden Gottes, der in der Welt ist, aber nicht in ihr aufgeht. F. beruft sich oft auf Karl Barth, ohne dessen Religionskritik zu übernehmen. Vielmehr kann er eine »Freigabe der Droge Religion« fordern (34). Er verteidigt die Barmer Theologische Erklärung gegen deren liberale Kritiker. Seine reformatorischen Denkanstöße fordern zur Besinnung auf die Grundlagen der evangelischen Kirche heraus. Es fällt aber auf, dass keiner der 59 Abschnitte des Buches expressis verbis die fundamentale Bedeutung der Heiligen Schrift thematisiert. Vielleicht liegt die von F. beklagte spirituelle und metaphysische Blutarmut am Verlust der norma normans?
Ein Kompliment gebührt dem Verlag für die schnelle Herstellung des Buches. Auf S. 60 wird noch das türkische Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erwähnt. Zwei Monate danach lag das Buch auf dem Schreibtisch des Rezensenten.