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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1268–1269

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Boschung, Dietrich, Hölkeskamp, Karl-Joachim, u. Claudia Sode[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Raum und Performanz. Rituale in Residenzen von der Antike bis 1815.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015. 354 S. m. 19 Abb. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-515-11082-2.

Rezensent:

Benedikt Kranemann

Rituale in Residenzen sind kein bevorzugtes Thema der Theologie und näherhin der Liturgiewissenschaft, wohl aber die Frage nach Raum und Performanz. Sie wird sowohl mit Blick auf historische Fragestellungen wie auf Gegenwartsphänomene immer wieder bearbeitet. Insofern lohnen die Beiträge dieses Sammelbandes die Lektüre theologisch Interessierter. Die Autorinnen und Autoren äußern sich zu Theorie, Methodik und Modellbildung und arbeiten diese mit Blick auf einzelne Rituale im Raum aus. So begegnet man Umzügen und Auftritten von Herrschern, Leichenbegängnissen und Prozessionen unterschiedlicher Art. Man kann fragen, ob damit die Vielzahl der Rituale in Residenzen, die sich über Jahrhunderte beobachten lassen, wirklich schon abgedeckt ist, wenngleich ohne Frage hochinteressante Beispiele referiert werden.
Ein exzellenter Beitrag von Karl-Joachim Hölkeskamp, »›Performative turn‹ meets ›spatial turn‹. Prozessionen und andere Rituale in der neueren Forschung« (15–74), eröffnet das Buch. Er bietet einen sehr guten Forschungsüberblick, der zeigt, dass Kulturen ihre Werte und Orientierungen nicht allein in Texten formuliert haben (und formulieren), sondern eben auch in Performances, das heißt u. a. in Ritualen. Das sollte die Theologie noch mehr zur Kenntnis nehmen, denn religiöse Rituale und gerade auch Liturgien sind als Formen symbolischer und ästhetischer Kommunikation eben keineswegs ein Nebenschauplatz der Theologie. Hölkeskamp erhebt für politische Kulturen den Anspruch, dass ihre Rituale »einer kollektiven Identität« (25) dienen. Das wird man entsprechend auch für Gottesdienste formulieren müssen, ebenso die Feststellung, dass solche Rituale nicht nur auf die Dar-, sondern auch die Herstellung von Orientierung und Identität zielen (27). Viele Aspekte, die erwähnt werden, sind aus der Literatur bereits bekannt, werden aber in einen neuen und interessanten Zusammenhang gestellt. Wer über Prozessionen forschen will, bekommt hier nicht nur viel Literatur (54–74) an die Hand gegeben, sondern erhält auch Hinweise, wie man einem im Raum verorteten Ritual nachgehen, seine Handlungssequenzen und seine Syntax beschreiben und verstehen kann (41–47). Dabei werden immer wieder neu die Zusammenhänge und wechselseitigen Abhängigkeiten von Raum, Präsenz und Performanz sichtbar.
Peter Franz Mittag, »Der potente König. Königliche Umzüge in hellenistischen Hauptstädten« (75–97), arbeitet den militärischen wie zivilreligiösen Anteil jener Feierlichkeiten heraus, die Macht und politische Potenz, Göttlichkeit der königlichen Familie, Verehrung der Götter etc. nicht zuletzt für die Zuschauer anzeigen sollten. In der Hauptstadt und in der griechischen oikumene konnten danach über die Umzüge, die Teil königlicher Politik waren, unterschiedlich akzentuierte Botschaften kommuniziert werden.
Egon Flaig, »Prozessionen aus der Tiefe der Zeit. Das Leichenbegängnis des römischen Adels – Rückblick« (99–126), beschreibt die pompa funebris als »das semiotisch aufwendigste und szenographisch wichtigste kommemorative Ereignis der römischen Kultur« (113), was man nach seinen Schilderungen gut nachvollziehen kann. Im Zusammenspiel mit am Prozessionsweg gelegenen Monumenten konnte z. B. Vergangenheit in ihrer Linearität visualisiert werden. Interessant wäre ein Vergleich mit spätantiker christlicher Begräbnis-praxis.
Elke Stein-Hölkeskamp, »Zwischen Parodie und Perversion. Verkehrungen des Triumphes in der frühen Kaiserzeit« (127–142), untersucht die Dekonstruktion von Triumphzügen, deren Elemente dann in neue Großrituale im Raum eingebaut werden konnten, die den Ordnungsvorstellungen des jeweiligen Potentaten entsprachen. Dietrich Boschung, »Architektur und Ritual. Zum Auftreten des Kaisers in Rom« (143–166), geht der Bedeutung von Bauten für politische Repräsentation nach: Sie schufen Kontexte und Raumstrukturen für entsprechende Rituale, waren aber auch rituelle Ausdrucksmittel. In der Darstellung auf Reliefs blieben Räume und Rituale präsent.
Hans-Ulrich Wiemer, »Rom – Ravenna – Tours. Rituale und Residenzen im poströmischen Westen« (167–218), bezieht sich u. a. auf den Einzug Chlodwigs in Tours 508 und den Besuch Theoderichs in Rom 500. Bei Chlodwig beobachtet er die Neukonstruktion eines Rituals mittels Rückgriff auf römische Rituale. Demgegenüber hielt sich Theoderich bei seinem Besuch in Rom eng an die Abfolge des römischen adventus, um sich als Herrscher gemäß römischen Erwartungen zu präsentieren. Indem er Traditionen für seine Zwecke instrumentalisierte, transformierte er sie zugleich (203). Für Chlodwigs Einzug, der ganz neu gestaltet war, spricht Wiemer hingegen von »Hybridisierung« (204).
Claudia Sode, »Ritualisiertes Totengedenken in Byzanz. Zu den Begräbnis-umzügen byzantinischer Kaiser (4.–10. Jahrhundert)« (241–259), ist für den Liturgiewissenschaftler besonders interessant, weil kaiserliche Repräsentation und Liturgie zum Teil einfach nebeneinanderstehen, die Rolle der beteiligten Kirche nicht genau zu klären ist und deutlich wird, wie man auf alte Praktiken der Kommunikation und Interaktion zurückgreift, indem man prozessionaliter die von Alters üblichen Räume durchschreitet.
Ruth Macrides, »Processions in the ›other‹ ceremony book« (261–278), nimmt das Book of Ceremonies als Quelle und widmet sich der Frage, wie sich Rituale im öffentlichen Raum ändern, wenn sich die politische Nutzung des Raumes gewandelt hat.
Nach Susanne Wittekind, »Bischöfliche Leichenprozessionen im Hochmittelalter oder die Inszenierung des Bischofs als Stadtherr, Büßer und Heiliger« (279–308), dienen diese Prozessionen der Huldigung und Bekundung von Treue, legen aber auch Fürbitte für den Toten ein und markieren mit ihnen zugleich die »Leerstelle« (280), die der Tote hinterlässt. Die Vfn. nennt eine Reihe von Fragen, die abzuarbeiten sind, wenn man der Bedeutung von Raum für die Liturgie der Prozession gerecht werden will (282). Sie zeigt, wie die Totenliturgie in aller Kontinuität Varianten ausweist und durch Texte und Riten ergänzt und erweitert werden kann. Das ist ein wichtiger Hinweis für die liturgiewissenschaftliche Diskussion um Variabilität und Invariabilität von Liturgien. Räumen und Wegen sind liturgische Bedeutungen eingeschrieben, die durch die Prozession im aktuellen Kontext aufgegriffen werden. »Durch die konkrete Weglenkung und Raumausstattung können einzelne Sprachbilder der (Toten)Liturgie aktiviert werden und neuen Bedeutungsgehalt erlangen.« (303)
Gerd Schwerhoff, »Das Ritual als Kampfplatz. Konflikte um Prozessionen in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt« (309–332), der sich für das Rituale Romanum 1614 überraschenderweise auf eine Ausgabe von 1623 bezieht, geht der Konfliktaustragung zwischen verschiedenen Gruppen in Prozessionen nach. Das ist sicherlich in der Frühen Neuzeit kein neues Phänomen gewesen, aber erhielt besonderes Gewicht, wenn beispielsweise katholische Prozessionen nach dem Tridentinum den wahren Glauben repräsentieren sollten. Prozessionen sind ein geeignetes Medium für verschiedene Akteure, denn sie sind gestaltungs- und bedeutungsoffen. Sie sind häufig Teil einer langen Konfliktgeschichte. Die Prozessionen bieten kleineren Gruppen die Chance, sich nach außen als groß zu inszenieren.
Genannt seien noch: Judith Herrin, »Urban riot or civic ritual? The crowd in early medieval Ravenna« (219–240); Gudrun Gersmann, »Von toten Herrschern und Trauerzeremonien. Die Überführung der sterblichen Überreste Ludwigs XVI. nach Saint-Denis 1815« (333–354).
Der Band bereichert die Forschung zum Zusammenspiel von Raum und Ritual und gibt auch für die theologische Forschung neue Impulse, insbesondere für Forschungen zu Prozessionen, ihren unterschiedlichen Bedeutungsebenen, Traditionen und Neu­entwicklungen, Funktionen usw. Doch nicht nur in dieser Perspektive sind die Beiträge wertvoll. Sie unterstreichen vor allem die Bedeutung solcher Rituale für das jeweilige Gemeinwesen und seine Identität. In dieser Spur auch die theologische Bedeutung vergleichbarer Prozessionen zu untersuchen und sie in ihrer Bedeutung für die jeweilige Kirche oder religiöse Gruppe (neu) zu würdigen, lädt dieses anregende Buch ein.