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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1038–1041

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kirk, J. R. Daniel

Titel/Untertitel:

A Man Attested by God. The Human Jesus of the Synoptic Gospels.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Eerdmans 2016. XVII, 638 S. Geb. US$ 60,00. ISBN 978-0-8028-6795-7.

Rezensent:

Armin D. Baum

An britischen Universitäten gibt es eine Gruppe von Neutestamentlern, die sich seit den 1990er Jahren scherzhaft als »Early High Christology Club« bezeichnet. Diesem Club hat Larry Hurtado 2003 unter dem Kürzel »EHCC« sein grundlegendes Buch »Lord Jesus Christ« gewidmet. Diese Gruppe von Bibelwissenschaftlern ist der Meinung, dass bereits die frühesten christlichen Quellen eine hohe göttliche Christologie bezeugen, die sich wahrscheinlich auf den ersten Jüngerkreis kurz nach der Kreuzigung Jesu zurückführen lässt. In diesem Zusammenhang vertritt Richard Bauckham die These, dass Jesus auch in den synoptischen Evangelien nicht nur als menschlicher Agent Gottes handelt, sondern Teil hat an der Identität des Gottes Israels.
Gegen diese These und ihre Hauptvertreter wendet sich der US-amerikanische Exeget Daniel J. R. Kirk in seinem Buch »A Man Attested By God«. Seines Erachtens schreibt sich der synoptische Jesus keine göttliche Identität zu, sondern agiert als reiner Mensch, den Gott durch seinen Geist zu seiner messianischen Aufgabe ermächtigt hat (39–41.258–260). K. bestreitet nicht, dass das Neue Testament Bücher (wie das Johannesevangelium, den Kolosser- oder den Hebräerbrief) enthält, in denen Jesus als göttlicher und präexistenter Gottessohn dargestellt wird. Er lehnt diese hohe göttliche C hristologie auch nicht ab (16). Aber er legt Wert auf die Fest-stellung, dass Matthäus, Markus und Lukas lediglich eine hohe menschliche Christologie enthalten (3–4.7 u. ö.).
In seinem grundlegenden ersten Kapitel beschreibt K. »idealisierte menschliche Figuren« im frühen Judentum (44–176): Einige frühjüdische Texte schreiben Menschen wie Adam, Mose, Elia, David oder Henoch gelegentlich Handlungen oder Eigenschaften zu, die normalerweise für Gott allein reserviert sind. Dadurch werde diesen Menschen jedoch kein göttlicher Status zuerkannt, sondern lediglich angezeigt, dass Gott sie zu seinen Agenten erwählt hat. Auch wenn solche idealisierten Menschen wie Mose und He­noch in frühjüdischen Texten auf Gottes Thron sitzen und angebetet werden, würden sie dadurch nicht vergöttlicht. K.s Folgerung l autet, daher werde auch der synoptische Jesus nicht als göttlich dargestellt, wenn ihm Handlungen oder Eigenschaften zugeschrieben werden, die üblicherweise nur Gott zukommen. Eine solche Argumentation (des »EHCC«) sei methodisch verfehlt. Im frühjüdischen Kontext habe man eine Person nur dadurch als göttlich eingestuft, dass man ihr Präexistenz oder eine Beteiligung am Schöpfungshandeln Gottes zuschrieb.
Diese Argumentation ist nicht frei von Schwächen: Gelegentlich entdeckt K. in antiken jüdischen Texten (wie 1Chr 29,20–22) die Anbetung eines Menschen (104–105), wo sie m. E. nicht zu finden ist. Das Hauptproblem seiner Interpretation der frühjüdischen Texte besteht aber darin, das er immer wieder feststellen muss: Wenn Menschen (wie Mose) Handlungen und Eigenschaften zu-geschrieben werden, »die üblicherweise für Gott allein reserviert sind«, würden sie dadurch keineswegs vergöttlicht, sondern blieben (idealisierte) Menschen (89.173 u. ö.). Schlüssiger ist m. E . eine u. a. von P. W. van der Horst, (JJS 34 [1983], 21–29) vertretene Deutung. Sie lautet, dass in der Henochliteratur und vor allem beim Tragiker Ezechiel die Menschen Henoch bzw. Mose dadurch, dass sie einen göttlichen oder Gottes Thron besteigen, tatsächlich vergöttlicht werden. In diesem Fall zeigt das von K. rekapitulierte Material lediglich, dass es auch in Teilen des antiken Judentums die Tendenz gab, einzelnen Menschen göttliche Funktionen zuzuschreiben. Die (vom »EHCC« gestellte) Frage, ob und inwieweit die ersten Christen mit ihrem Messias Jesus von Nazareth ähnlich verfahren sind, ist methodisch keineswegs verfehlt, sondern historisch sinnvoll und notwendig.
Wenn K. Recht hätte, dass im antiken Judentum Präexistenz das einzige hinreichende Kriterium für Göttlichkeit war, könnte seine Auswertung der synoptischen Evangelien sich auf die weithin anerkannte Beobachtung beschränken, dass sie keine eindeutigen Präexistenzaussagen enthalten. So einfach macht es sich K. jedoch nicht, sondern analysiert die Christologie der Synoptiker in aller Ausführlichkeit.
Sein zweites Kapitel hat K. der Bezeichnung »Sohn Gottes« in den synoptischen Evangelien gewidmet (177–260). Er betont, dass »Sohn Gottes« im Judentum Bezeichnung für einen menschlichen König war. In diesem Sinne werde mit den Worten »Sohn Gottes« auch der synoptische Jesus als menschlicher Messias bezeichnet. Als von Gott ermächtigter menschlicher König regiere er in Gottes Auftrag die Welt und habe Macht über menschliche Körper, chaotische Wasser und dämonische Kräfte. Mit all dem bleibe das Jesusbild der Synoptiker im Rahmen der frühjüdischen Kategorie des idealisierten Menschen.
Um seine strikte These durchzuhalten, ist K. gezwungen, im Vorübergehen auch das Jesuswort in Mk 13,32 par mit seiner aufsteigenden himmlischen Rangordnung (»nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern nur der Vater«) als Aussage über einen rein menschlichen Gottessohn zu deuten (210–211). Entsprechend verfährt er mit der trinitarischen Taufe »im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes« in Mt 28,19 (383–385).
In Kapitel 3 analysiert K. den Ausdruck »der Sohn des Menschen« in den Synoptikern (261–358). Mit diesem Ausdruck bezeichne sich der synoptische Jesus in erster Linie als Mensch (270–272). Dieser Mensch schreibe sich jedoch göttliche Tätigkeiten zu. Der Sohn des Menschen tut, was nur Gott tun kann (297). Mit solchen Aussagen beanspruche der synoptische Jesus aber keine ontologische, sondern lediglich eine funktionale Göttlichkeit (261–263, vgl. 398–399). Auch die Beschreibung seiner Verklärung und die Ankündigung seines Kommens in Herrlichkeit blieben im menschlichen Rahmen (313). Weil auch der Weg des Menschensohns ans Kreuz, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt keine Präexistenz voraussetzten, bezögen auch sie sich nicht auf ein göttliches Wesen, sondern auf einen idealisierten Menschen (356).
Um seinem Deutungsziel treu bleiben zu können, muss K. die Aussage der synoptischen Schriftgelehrten, nur Gott könne Sünden vergeben (Mk 2,7 par), als Irrtum deuten (273–281). Denn Propheten und der Täufer können K. zufolge genauso Sünden vergeben wie der synoptische Jesus. Dass Jesus die Vergebung der Sünden weder von Gott erbittet noch sie im Namen Gottes zuspricht, sondern vielmehr beansprucht, selbst Sünden vergeben zu können (vgl. O. Hofius, JBTh 9 [1994], 125–143), bleibt außer Betracht.
Nicht überzeugend ist zudem, dass K. die wichtige Unterscheidung zwischen funktionaler und ontologischer Göttlichkeit durch die These ergänzt, funktionale Göttlichkeit sei auf der menschlichen Ebene angesiedelt. M. E. ist eine solche Zuordnung funktionaler Göttlichkeit im Rahmen des frühjüdischen und frühchristlichen Denkens nicht plausibel. Wer tut, was nur Gott tun kann, überschreitet damit das menschliche Maß.
In Kapitel 4 argumentiert K., dass auch die Geburtsgeschichten des Matthäus und Lukas von einer eschatologischen menschlichen Figur handeln. Dasselbe gelte für die synoptischen Ostergeschichten (359–412). Kapitel 5 ist den synoptischen Wundern Jesu gewidmet (413–488). Daran, dass auch Jesu Jünger Wunder tun, werde sichtbar, dass auch Jesu eigene Wunder keine Handlungen in göttlicher Macht sind (425–430). Wie seine Jünger sei der synoptische Jesus kein Wundertäter, sondern menschliches Medium des Wirkens Gottes, ein idealisierter Mensch, »den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte tat« (Apg 2,22). Aus diesem Zitat aus der Pfingstpredigt des Petrus hat K. den Titel seines Buches gebildet.
Darauf, dass Jesus in den synoptischen Evangelien (bis auf die mögliche Ausnahme in Mk 7,34) ohne Gebet heilt, geht K. nicht ein. Die Frage nach Jesu Identität ergibt sich in den Synoptikern nicht daraus, dass Jesus Wunder tut, sondern daraus, wie er sie tut. Dies erklärt sich vor ihrem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund. Im Alten Testament vollbringt nur Gott Krankenheilung. Menschen können Gottes Heilung nur erbitten. Dasselbe gilt für das antike Judentum (vgl. M. Becker, WUNT 2/144, 431–442; W. Kahl, FRLANT 163, 234–236). Aus jüdischer Sicht sprengt das »ich will« in den synoptischen Heilungswundern Jesu (Mt 8,3) den Rahmen menschlicher Möglichkeiten. Auf diesen Aspekt der Wunder Jesu kommt K. in seinem Buch nur in wenigen Sätzen zu sprechen (487–488). Eine entscheidende methodische Lücke seiner Untersuchung besteht m. E. darin, dass er zwar den frühjüdischen Texten über »idealisierte menschliche Figuren« ein umfangreiches Kapitel ge­widmet hat, die mindestens ebenso relevanten alttestamentlichen und frühjüdischen Wundererzählungen aber nicht im Zu­sam­menhang analysiert, sondern nur sehr selektiv in seine Exegese der Synoptiker eingestreut hat.
In Kapitel 6 argumentiert K. abschließend, dass auch synoptische Zitate aus dem Alten Testament, in denen Aussagen über Gott auf Jesus angewendet werden, nicht besagen sollen, dass Jesus mehr als ein Mensch sei (489–569).
K.s Buch zeigt, dass nicht alle Aspekte des synoptischen Jesusbildes, die als Belege für eine hohe göttliche Christologie in An­spruch genommen werden, tatsächlich in diesem Sinne gedeutet werden können. Insofern stellt sein Buch für den »EHCC« und seine Sympathisanten eine willkommene Herausforderung dar, ihre Argumentation weiter zu überprüfen und zu verbessern.
K.s eigene Argumentation hat m. E. jedoch mehrere grundlegende Schwächen: Die Interpretation der frühjüdischen Texte über Personen, die tun, was nur Gott tun kann, ist nicht überzeugend. Die antiken jüdischen Wundererzählungen werden nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Und es gibt eine Reihe synoptischer Jesuslogien und Wundererzählungen, die sich nicht in eine menschliche Christologie einfügen. Daher halte ich den Nachweis, dass der synoptische Jesus kein göttlicher Agent Gottes ist, nicht für gelungen.