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Ausgabe: | September/2017 |
Spalte: | 885–887 |
Kategorie: | Judaistik |
Autor/Hrsg.: | Aus d. Hebr. übers. u. hrsg. v. H.-J. Becker. |
Titel/Untertitel: | Avot de-Rabbi Nathan B. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2016. V, 189 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 162. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-154088-2. |
Rezensent: | Andreas Lehnardt |
Die Sprüche der Väter nach Rabbi Natan (hebr. Massekhet Avot de-Rabbi Natan, abgekürzt ARN) gehören zu den sogenannten außerkanonischen Traktaten des Babylonischen Talmud. Dieses wichtige Kompendium rabbinischer Weisheit und Theologie basiert auf den in der Mischna überlieferten, vermutlich erst in nach-talmudischer Zeit redigierten Sprüchen der Väter (Pirqe Avot) und ist in zwei unterschiedlich langen, stark voneinander abweichenden Fassungen erhalten. Das Alter der Versionen dieses Werkes lässt sich nicht exakt datieren, zumal mit einem längeren, vermutlich seit dem 3. Jh. n. Chr. andauernden Redaktionsprozess zu rechnen ist. Die jüngere Fassung A wurde erstmals 1550 gedruckt und findet sich in der Ausgabe des Babylonischen Talmud, Wilna 1880–1886, zusammen mit den anderen kleinen Traktaten im Anschluss an die Ordnung Neziqin, hinter dem Traktat Eduyot. Da ARN nicht zu den Lehr- und Lernstoffen der traditionellen Talmud-Schulen gehörte, wurde seine Erforschung und Kommentierung erst spät begonnen. Eine synoptische Ausgabe beider Versionen wurde erstmals 1887 von Salomon Schechter herausgegeben (Nachdruck mit einem Vorwort von M. Kister, Jerusalem 1997). Die weniger verbreitete Version B scheint die ältere Form bewahrt zu haben. Sie wurde bereits 1975 von A. J. Saldarini ins Englische und 1987 von M. A. Navarro Peiró (zusammen mit Version A) ins Spanische übersetzt. Der Verfasser der vorliegenden Übersetzung ins Deutsche, Hans-Jürgen Becker, hat 2004 in Zusammenarbeit mit Christoph Berner, Wolfram Drews und Ulrike Kämpf eine Edition sämtlicher Fragmente von ARN A und B aus der Kairoer Genisa und 2006 in Zusammenarbeit mit Christoph Berner eine Synopse beider Versionen herausgegeben. Textgrundlage seiner Übersetzung bildet daher keine der alten Druckfassungen, sondern zu weiten Teilen die Sammel-Handschrift MS Parma, 2785 (de Rossi 327), die 1289 in Spanien vollendet wurde. Nur an den Stellen, an denen diese Handschrift Lücken aufweist, werden andere Textzeugen, vor allem die in Italien im 15. Jh. angefertigte MS Vatican, Biblioteca Apostolica 303, herangezogen. Beide Versionen von ARN zusammen zu übersetzen, erwies sich vor dem Hintergrund der in der Einleitung zur Synopse entfalteten Ausgangslage der handschriftlichen Überlieferung als schwierig. Die Unterschiede beider Versionen erweisen sich als viel größer, als die erwähnte Edition Schechters auf den ersten Blick vermuten lässt (siehe Einleitung in die Synopse, IX). Daher beschränkt sich der vorliegende Band auf die Übersetzung einer Version, und auch in den Fußnoten zur Übersetzung werden nur wichtige Lesarten in den Textzeugen von Version B mitgeteilt. Ein Vergleich mit Version A kann anhand der Parallellisten in der Synopse (XIX–XXVI) erfolgen. Die Komplexität der handschriftlichen Überlieferung von Version B wird daran deutlich, dass an mehreren Stellen unterschiedliche Textzeugen synoptisch übersetzt sind. Hierdurch wird der Charakter von Kürzungen und redaktionellen Straffungen hervorgehoben und die Beurteilung der Unterschiede erleichtert. Bemerkenswert sind die zahlreichen Unterschiede von Lesarten etwa an den Stellen, in denen rabbinische Dikta in den Handschriften unterschiedlichen Gelehrten zugeschrieben werden (vgl. 56 zu ARN B 16,2). Parallele Überlieferungen einzelner Dikta in Talmud und Midrasch, die gelegentlich ebenfalls unterschiedliche Lesarten bieten, sind in die Anmerkungen zur Übersetzung nicht aufgenommen. Eine vollständige Erfassung der innerrabbinischen Überlieferung des Traktates, etwa auch in den weit verstreuten mittelalterlichen Zitaten, war nicht beabsichtigt. Nützlich sind philologische Hinweise, etwa zu Lehnwörtern aus dem Griechischen und Lateinischen, und knappe Erläuterungen zu Realien: so z. B. zur sogenannten Megillat Ḥasadim, der »Rolle der Frommen«, einem verlorenen jüdischen Werk (78, Anm. 638), das auch in anderen rabbinischen Schriften erwähnt wird. Insgesamt ist der Anmerkungsapparat knapp gehalten und erleichtert dadurch das Lesen längerer Passagen. Auffällig ist, dass das in diesem Band verwendete Umschriftsystem des Hebräischen von dem in der Synopse und in der Edition der Genisa-Fragmente verwendeten abweicht. Sogar im Deutschen bekannte biblische Personennamen werden transkribiert, d. h. nicht – wie etwa in den Bänden der von Becker mitherausgegebenen Reihe Übersetzung des Talmud Yerushalmi (36 Bde., Tübingen 1975–2016) – nach der verbreiteten Schreibweise (etwa nach der Einheitsübersetzung) wiedergegeben: So steht »Mosche« statt Mose, »Chawa« statt Eva, »Qajn« statt Kain; Ausnahmen betreffen Ortsnamen. Termini, die in vergleichbaren wissenschaftlichen Übersetzungen rabbinischer Texte unübersetzt bleiben, sind dagegen konsequent ins Deutsche übertragen. Hierdurch können gelegentlich Konnotationen verlo ren gehen; vgl. etwa ARN B 1,35, wo Adam als »mein Meister« bezeichnet wird, im Hebräischen jedoch »Rabbi« steht. Hinter der Verwendung des Titels Rabbi könnte in diesem Kontext subtile Kritik stehen, die durch die Übersetzung des Wortes mit »Meister« im Deutschen nicht transportiert wird. Ins Deutsche übersetzt wird auch die Gottesbezeichnung Ha-maqom, »der Ort« (63 mit Anm. 13). In den Bänden der Übersetzung der Hekhalot-Literatur (4 Bde., Tübingen 1987–1995) und in einigen Bänden der erwähnten Übersetzung des Talmud Yerushalmi wird dieser Gottesname dagegen transkribiert wiedergegeben und in einer Anmerkung erklärt. Andere rabbinische Termini wie Olam ha-ba, »kommende Welt« (110), werden von Becker (auch orthographisch) nicht besonders hervorgehoben und scheinen als bekannt vorausgesetzt. Manche spezifisch rabbinische Wendung findet sich daher erst über einen Vergleich mit dem hebräischen Original oder im Registerteil: So etwa die Begriffe »Aggadot« oder »Halakhot«, wobei Letzterer nicht ins Register aufgenommen ist (vgl. 188). Eine Wendung wie »Dor ha-plaga« (9 u. 165) für die Generation der Turmbauer von Babel wird ebenso als bekannt vorausgesetzt. Einige Fußnoten bieten Anmerkungen zu variierenden Übersetzungsmöglichkeiten, wobei hebräische Termini in Originalsprache in Klammern beigegeben werden (104 mit Anm. 857 zu Derekh Ere ṣ, »landläufige Betätigung«). An vielen Stellen folgt die Übersetzung eng der Vorlage, gibt typische rabbinische Formeln kongruent wieder, wodurch der Stil des Deutschen insgesamt nahe dem des Hebräischen gehalten wird. Nur selten finden sich Sätze, in denen notwendige Konjekturen der hebräischen Vorlage berücksichtigt werden (vgl. zu 1,39 S. 12 mit Anm. 49). Diese wenigen Beobachtungen mögen unterstreichen, was von Becker in der knappen Einleitung zu Recht betont wird: Manche Bedeutungsebenen des hebräischen Originals lassen sich im Deutschen kaum wiedergeben. Umso mehr ist dem Übersetzer zu danken, die Mühe auf sich genommen zu haben, diese grundlegende Quelle (auf der Basis einer vorläufigen Übersetzung seines Mitarbeiters Dr. Harald Samuel) einem deutschen Leserkreis zugänglich gemacht zu haben. Beckers zitierfähige Übersetzung von ARN B stellt nicht nur einen wichtigen philologischen Beitrag zu einem wichtigen talmudischen Traktat dar, sie erschließt diese wichtige Quelle rabbinischer Weisheit aufgrund ihrer gut lesbaren Sprache auch für einen breiteren Interessentenkreis. Zentrale aggadische Motive und Passagen der rabbinischen Literatur werden auf solider philologischer Basis erschlossen und manches Motiv – etwa die wichtigen Abschnitte zu Adam, Abraham oder David – sowie zahlreiche bemerkenswerte Weisheitsdikta früher Rabbinen, zu denen die Anmerkungen konzeptionell bedingt recht knapp ausfallen, werden nun vielleicht wieder stärker in den Fokus der Forschung geraten. – Der Band ist durch Register der Personen, Orte und Begriffe erschlossen. Insgesamt bietet er eine wertvolle Grundlage für die Beschäftigung mit rabbinischem Denken und mit der Überlieferung der sogenannten kleinen talmudischen Traktate.