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Ausgabe: | September/2017 |
Spalte: | 876–878 |
Kategorie: | Religionswissenschaft |
Autor/Hrsg.: | Müller, Hannelore |
Titel/Untertitel: | Religionen im Nahen Osten. Bd. 2: Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien. |
Verlag: | Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. XI, 446 S. m. 19 Tab. Geb. EUR 66,00. ISBN 978-3-447-10334-3. |
Rezensent: | Martin Tamcke |
Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:
Müller, Hannelore: Religionen im Nahen Osten. Bd. 1: Irak, Jordanien, Syrien, Libanon. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2009. XI, 372 S. Geb. EUR 54,00. ISBN 978-3-447-06077-6.
Hannelore Müller hat zwei Bände zu den Religionen im Nahen Osten vorgelegt. Im ersten Band behandelt sie die Länder Irak, Jordanien, Syrien und Libanon. Im zweiten Band folgen die Türkei, Ägypten und Saudi-Arabien. Nicht in den beiden Bänden behandelt werden: Iran, Kuwait, Bahrain, Katar, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate, Yemen, Libyen und der Sudan. Freilich sind die bereits in diesen Bänden erfassten Länder gegenwärtig in der westlichen Hemisphäre von besonderem Interesse.
M. gibt transparent Auskunft über die Herkunft ihrer Zahlenangaben, was bei deren steter Strittigkeit hilfreich ist. Aber natürlich können auch die bei ihr gegebenen Zahlen nur potentielle Richtwerte sein. Der Überblick zur Geschichte erfolgt in kurzen Notizen chronologisch. Das ist hilfreich für den schnellen Zugriff und macht das Buch so zu einem Instrument für Interessierte (»in erster Linie an fachlich interessierte Kreise, und aus diesem Grunde sind die Inhalte derart präsentiert, dass sie auch von Nicht-Spezialisten und ohne umfangreiche Vorkenntnisse verstanden werden können«). Und das gehört zu den Absichten M.s. Mit ihrem Ansatz, einen Überblick über die Religionen bieten zu wollen, ruft sie noch einmal die multikulturelle und multireligiöse Wirklichkeit in diesen Ländern in Erinnerung, M. spricht von der Darstellung der »Religionsgeschichten«. Und damit steht sie quer zum religiös-politischen Trend in den von ihr behandelten Ländern. Sie hebt gerade auf Pluralität ab. Das primäre Ziel ihrer Darstellung sei es, »religiöse Pluralität als Normalzustand, das Mit- bzw. Nebeneinander der Religionen im Nahen Osten herauszustellen«. Das
ist in Zeiten, in denen genau dies seinem Ende nahezukommen scheint, noch einmal ein mutiges Unterfangen der Hoffnung auf Diversität anstelle einer Betrachtung, die womöglich nach derzeitigem Zahlenstand von Mitgliedern religiöser Gemeinschaften verfährt und dabei gänzlich anders geschrieben werden würde. Ihre Darstellung ist erklärtermaßen nicht thematisch, sondern auf das jeweilige Land bezogen.
Der Schwerpunkt liegt bei der Geschichte der Religionen im 20. Jh. Die Methodik versteht M. selbst als eine »religionswissenschaftliche« und beschreibt sie als »Umgang mit Religionen ohne jegliche Wertung und mit dem Ziel, zu einem besseren Verständnis beizutragen«. Die Wertungsfreiheit ist natürlich nur intentional, Wertung an sich stets unumgehbar, auch für M. Aber zu einem besseren Verständnis trägt solch ein Leitfaden sicher bei und versagt sich auch der momentan blühenden »Versteherei«. M. gibt nicht vor, zu verstehen, aber liefert die zentralen Fakten. Es bleibt nicht aus, dass immer wieder erstaunliche Defizite zu verzeichnen sind. Die Protestanten im Irak (die Baptisten schafften es noch einmal, das weltweite Interesse auf sich zu lenken, als sie nach der amerikanischen Invasion/Intervention im Irak in großangelegten Einsätzen sich im Irak missionarisch präsent machten, aber es gibt Protestanten nahezu aller Schattierungen) und selbst im Libanon (wo sie mit einem Parlamentssitz fest im System des Religionsproporzes verankert sind und drei Universitäten des Landes sich der protestantischen Mission verdanken) geraten M. fast zum Ausfall. Besonders die Protestanten in der Türkei hätten der Konvertiten wegen, aber auch der gegen sie gerichteten Aggressionen wegen, stärkerer Aufmerksamkeit bedurft. In Ägypten werden die Kopten überraschend kurz behandelt, die siebzehn protestantischen Kirchengemeinschaften des Landes und die Nil-Synode werden in ihrer Bedeutung für die religiösen Entwicklungen kaum erfasst. Zuweilen – und das macht die Würdigung der Länder je einzeln schwierig – kommt eine Kirche in einem Land praktisch nicht vor, wird dafür in einem anderen ausführlich behandelt. Die Syrisch-Orthodoxe Kirche hatte bis in die 20er Jahre in der Türkei ihren Sitz im Safrankloster südlich von Mardin und stellt heute die zweitgrößte Kirchengemeinschaft der Türkei, wird aber nicht dort behandelt, sondern unter Syrien, wohin das Patriarchat und zahlreiche Gruppen von Gläubigen und Überlebenden nach dem Völkermord migrierten. Es ist richtig, das die Assyrische Apostolische Kirche des Ostens einst in der Südosttürkei ansässig war, aber heute ist sie dort nicht mehr vorhanden (sehr wohl aber noch kleine Gemeinschaften der Chaldäer, z. B. in Mardin). Schön ist die Aufnahme auch kleinerer Religionsgemeinschaften wie der Mandäer oder Jeziden im Abschnitt »Irak«, der Drusen im Abschnitt »Libanon« oder gar der »Dönme« in der Türkei (die gegen das Ökumenische Patriarchat erwachsene Türkische Orthodoxe Kirche wird eher nur angedeutet, aber durch den Hinweis auf Knüppels Monographie doch ausreichend gewürdigt). Muslimische Minderheiten, z. B. in Ägypten, vermisst man schmerzlich (leider fehlt auch die einschlägige Untersuchung der Freiburger Islamwissenschaftlerin und Arabistin Johanna Pink, die jüngst zusätzlich noch eine Geschichte Ägyptens vorlegte). Es wäre nun freilich zu einfach, alle Versäumnisse und Fehler oder zu vagen Auskünfte hier aufzulisten.
Gemessen an dem, was momentan an informierender Literatur zu dieser Region zu erreichen ist, ist der Leser hier gut bedient. Er sollte aber von vornherein wissen, dass er die Darstellung nicht überfordern darf. Was sie leistet, ist, jedem Interessierten einen Leitfaden an die Hand zu geben, von dem her er selbst weiter differenzieren und verifizieren muss. M. weist immer wieder selbst auf offenkundige Fehlstände hin (etwa zur religiösen Pluralität in Saudi-Arabien, da sie dort eben nur entgegen der Rechtslage aufzuspüren wäre). Auch ihre Zurückweisung der potentiell möglichen Aufnahme Nordafrikas in den Titel des Bandes, in dem Ägypten behandelt wird, lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass es bei diesen beiden Bänden bleiben wird. Das mag man angesichts der kulturellen und religiösen Netzwerke und Überlappungen zwischen Iran und Irak (bis hin zu den Schiiten des Libanon) etwa oder der Bedeutung der Ibaditen über den Oman hinaus bedauern, aber angesichts der gegenwärtigen Sachlage ist das eine verständliche Entscheidung.
Schließlich bleibt für den von den aktuellen Vorgängen bewegten Leser die Frage: Was leisten die Bände angesichts der Migrationsströme, die besonders die Christen der Region erfasst haben? M. reagiert in jüngeren der beiden Bände darauf. »Der brutale Homogenisierungsprozess, den islamistische Terrorgruppen seit einigen Jahren dort betreiben, hat die Religionsgeographie der Region gravierend verändert. Flucht und teils existenzielle Vernichtung sind für viele zum Alltag geworden.« Sie selbst hält die Hoffnung aufrecht aufgrund der Geschichte der Region, in der die religiösen Minderheiten zwar immer wieder neue traumatische Erfahrungen ihrem kollektiven Bewusstsein hinzuzufügen haben, doch damit noch nicht an ihr Ende gekommen waren und sind. M. möchte noch den Vorbehalt gelten lassen, dass noch nicht abzuschätzen sei, ob »diese Katastrophe das Ende der religiösen Pluralität im Nahen Osten« eingeläutet habe. Ernsthafte Pluralität ist aber wohl kaum dort, wo nur noch verschwindende Prozentzahlen Andersgläubiger Vertreibung, Migration und Völkermord überlebt haben. Zudem wäre das Beieinander von Säkularismus und Islamismus hier nicht weniger aufschlussreich. Dennoch: M.s beiden Bände gehören in die Hand eines jeden, der sich schnell zur Welt der Religionen und Konfessionen des Nahen Ostens informieren möchte. Und er bekommt in beiden Bänden womöglich jenen Abgesang auf so manche der dortigen religiösen Gemeinschaften, wie er sich jetzt mindestens zeitweise einzustellen scheint. In der Türkei starb die Christenheit des Tur Abdin infolge u. a. des Bürgerkrieges mit der PKK praktisch aus (3.000 Christen sollen im Höchstfall dort noch leben), und ob die Khabur-Region in Syrien oder Mosul im Irak die geflüchteten Christen wirklich in größerer Zahl wiedersehen wird als Rückkehrer an jene Orte, aus denen sie brutal vertrieben wurden, scheint wohl nur in eingeschränktem Maß eine berechtigte Hoffnung.
Was also leisten die Bände? Sie rufen in Erinnerung, sie führen den Stand vor Augen, der z. B. in Syrien vor dem Krieg anzutreffen war. Und damit machen sie auch Gegenwart verständlich. Mögen die Bände so auch die Wunde mit wachhalten, die da in den letzten Jahren der religiösen Pluralität geschlagen wurde.