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Ausgabe:

Juni/2017

Spalte:

652–654

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Karnitscher, Tünde Beatrix

Titel/Untertitel:

Der vergessene Spiritualist Jo­hann Theodor von Tschesch (1595–1649). Untersuchungen und Spurensicherung zu Leben und Werk eines religiösen Nonkonformisten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 398 S. m. 6 Abb. u. 1 Kt. = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 60. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-55843-0.

Rezensent:

Friedemann Stengel

Die gleichzeitig in München und Szeged angenommene Dissertation der Germanistin und Slawistin Tünde Beatrix Karnitscher beschreitet das in der Tat wenig ausgeleuchtete Feld um J. Th. von Tschesch, der als wichtiges Verbindungsglied zwischen dem von Jacob Böhme tingierten schlesischen Gelehrtenmilieu und Pietis­ten verschiedener Couleur seit dem späten 17. Jh., insbesondere Gottfried Arnold und Friedrich Christoph Oetinger, erkannt worden ist.
K. hat internationale Bibliotheken von Amsterdam bis Wrocław durchgearbeitet, sie hat die Textgeschichten der veröffentlichten und unveröffentlichten Werke von Tscheschs und insbesondere seiner eindrücklichen Sammlung von mehr als 1200 Epigrammen rekonstruiert und in die Darstellung seiner Biographie organisch eingearbeitet. Geradezu detektivisch und auf der Basis weit verstreuter Hinweise in Archiven oder Stammbüchern und mit Hilfe von Allusionen in den erwähnten Epigrammen wird dabei allen relevanten Hinweisen nachgegangen. Sie erhellen die Biographie von Tscheschs zwischen Studium, Hoflaufbahn, Italienreise und seiner selbstgewählten, kirchen- und herrschaftskritisch inspirier ten Isolation, insbesondere im Blick auf seine frühen und dann stärker werdenden Verbindungen zu Jacob-Böhmisten und zu Böhme selbst. Dabei gelingt es K. gut, die in von Tscheschs programmatischem Eklektizismus begründeten Differenzen und Mo­difizierungen von Lehrelementen Böhmes herauszuarbeiten (z. B. 227–244).
Diese aufwändige »Spurensicherung« geschieht höchst kenntnisreich mit einer geradezu perfektionistischen Note, die der insgesamt sehr verdienstvollen Arbeit eine zuweilen etwas expertokratische Schlagseite verleiht. Dafür fällt auf, dass text- und überlieferungsgeschichtliche Fragen bei solchen kirchenkritischen und auch rezipierten Texten von Tscheschs wie der Trewhertzigen Erinnerung/An die Evangelische Priesterschafft in Deutschland oder Pfingst Erstlinge zwar detailliert bearbeitet werden, aber man in­haltlich nur wenig erfährt. Möglicherweise hätte hier das Gewicht von manchen Details auf die genauere Deskription auch des Inhalts verschoben werden können. Beeindruckend ist die mehr als 60 Seiten umfassende Zusammenschau, die die buchgeschichtlichen, prosopographischen und von Tscheschs eigenes literarisches Schaffen betreffenden Ergebnisse noch einmal bündelt. Weitere Anhänge enthalten aufschlussreiche tabellarische und schematische Übersichten über Netzwerke, Korrespondenzen und Schriften von Tscheschs.
Augenfällig wird anhand der vorliegenden Arbeit die insbesondere seit Ernst Troeltsch kanonisch gewordene Begriffsbildung »Spiritualismus«, die von da an wie ein Selbstläufer historische Forschungsliteratur bestimmt, allerdings zwei divergierende Perspektiven miteinander vermischt und daher dringend auf den Prüfstand geschichtstheoretischer Überlegungen gehört. Denn einerseits fasst Troeltsch unter dem Spiritualismus-Begriff die von und um Luther polemisch zurückgewiesenen »Schwärmer« zusammen, die im Gegensatz zu Luthers exklusiver Identifizierung von Schriftbuchstaben und Heiligem Geist die Wirkung des Heiligen Geistes auch jenseits des Schriftwortes behaupten – beispielsweise in der menschlichen Seele, in der Natur oder in Offenbarungen –, wobei hier genau zwischen den eigenen Behauptungen der »Schwärmer« und der gerade von Luther immer wieder unterstellten Außenwirkung böser Geister oder des Teufels bei seinen Gegnern zu unterscheiden ist. Auf der anderen Seite hängt Troeltschs Diagnose eng mit seinem eigenen historischen Kontext zusammen, dem des Spiritismus nämlich, der prominent etwa von Alan Kardec vertreten worden ist und von dem sich selbst als »Spiritualismus« bezeichnende Bewegungen im Anschluss insbesondere an Andrew Jackson Davis zu unterscheiden sind. Troeltsch selbst hat diese Bewegungen in den Soziallehren (931) eindrücklich als »geheime Religion der Gebildeten in der Moderne« und »Asyl« für deren »Religiosität« diagnostiziert – also als Katalysator für die schleichende Entfremdung von den volks- und staatskirchlichen Institutionen und als unerwarteten Geburtshelfer der Entkonfessionalisierung seit dem 19. Jh. Es ist ein Desiderat historisch-kritischer Forschung, den Zusammenhang zwischen den experimentierenden, parapsycho-logischen und Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebenden spiritistischen Strömungen des 19. und frühen 20. Jh.s und der von prominenten Diskursteilnehmern wie Ernst Troeltsch in ge­schichtsteleologischer Manier vorgenommenen Übertragung dieser Strömungen (hier) auf die Frühe Neuzeit genau zu untersuchen. Denn die idealtypischen Voraussetzungen dieser Kategorien und ihrer paradigmatischen Anwendung auf Jahrhunderte zu­rückliegende Vorgänge können die konkreten literarisch-rezep-tionellen Befunde nur beschneiden. Die Fortschreibung der von Luther aufgemachten kontingenten Front gegen theologischeGeg­ner ebnet angesichts der überaus facettenreichen theosophischen, kabbalis­tischen, hermetischen, paracelsistischen oder alchemistischen Li­teraturen und Praxen, die sich auf den zweiten Blick hinter den sogenannten Spiritualisten verbergen, die Heterogenität und His­torizität dieser konkreten Positionen ein. Außerdem sind diese Strömungen auch innerhalb des späteren, Orthodoxie beanspruchenden Luthertums wenigstens partiell rezipiert worden, so dass sich ein Hiatus zwischen Spiritualismus und Nicht-Spiritualismus zwar behaupten, aber historisch nur schwer begründen oder nachvollziehen lässt. Unübersehbar sind nämlich die von K. festgestellten und von Tscheschs Spiritualismus vermeintlich begründenden Texte, die er verarbeitet hat: theosophische Schriften, nicht nur solche von Jacob Böhme, hermetisch-neuplatonische Autoren wie Marsilio Ficino, das Corpus Hermeticum selbst, Paracelsus oder auch Sebastian Franck. Diese Texte und Autoren kollektiv un­ter Luthers »Schwärmer«- oder Troeltschs und anderer Spiritualismus-Begriff zu rubrizieren, wäre ein ideengeschichtlicher Eingriff ins historische Arbeiten, der die Komplexität historischer Kontexte unzulässig reduziert und dadurch auch simplifiziert.
Solche Studien wie die vorliegende sollten Anlass sein, die geis­tesgeschichtlichen und reduktiven, im Grunde aber nicht historischen, sondern geschichtsphilosophischen Kategorien des 19. Jh.s durch die konkreten literarischen und rezeptionellen Kontexte zu ersetzen. Es ist allerdings zu betonen, dass K. diese Probleme deutlich vor Augen stehen (z. B. 16–24), sie den Schritt zu einer deutlicher emanzipativen Kritik an den konventionellen Denkschemata aber scheut. Außerdem wäre die den Spiritualismus-Begriff treffende historische Kritik ohne Weiteres auch auf den Humanismus-Begriff auszudehnen, der – sofern etwa Ficino ihm zugeordnet wird – als Gegen- oder Parallelbegriff zum Spiritualismus eine weitere Konfusion nach sich zieht (21, siehe daher: F. Stengel: Was ist Humanismus? PuN 41 [2015], 154–211). Es gehört zu den aus meiner Sicht dringlichen Aufgaben historiographischer Theoriearbeit, diese Denkschemata nicht weiterhin unhinterfragt als gegeben hinzunehmen, sondern sie selbst der historischen Kritik zu unterziehen, sie also dort zu kontextualisieren, wo sie generiert worden sind.
Dies würde auch auf die unverkennbare und von K. nachdrücklich herausgearbeitete Rezeption von Tscheschs im Pietismus ein schärferes Licht werfen: bei Arnold, den Petersens, Oetinger, kenntnisweise auch bei Francke und Spener. Hier wäre den Konsequenzen der Einsicht entgegenzublicken, dass es sich dabei um den Transport nicht etwa pauschal »spiritualistischer«, sondern konkret hermetisch-neuplatonischer und im Sinne Böhmes theosophischer Literatur handelt, die unter Anknüpfung an den prominent von Ficino kolportierten hermetischen Gedanken einer Prisca Theologia in den konfessionellen Auseinandersetzungen schon des 17. Jh.s für eine, auch Nichtchristen einschließende, Suprakonfessionalität streitet (20.120.174.183 ff. passim). Gerade die Beobachtungen zu von Tscheschs Überlegungen über (wahre) Religion/Kirche/Sekte (180–198) beeindrucken auf dieser Ebene und führen in die reichhaltige, letztlich theosophische Debatte über religiöse Irenik und die Universalität des Heiligen Geistes in der Frühen Neuzeit hinein.
Die prosopographisch, werk- und zeitgeschichtlich sehr detaillierte Darstellung bietet beste Voraussetzungen für die weitere theologie- und philosophiegeschichtliche Einordnung Theodor von Tscheschs und stellt einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der Frühen Neuzeit dar, der nicht nur denen zugute kommt, die sich speziell mit Werk und Person von Tscheschs auseinandersetzen möchten.