Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

493–495

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ebach, Ruth

Titel/Untertitel:

Das Fremde und das Eigene. Die Fremdendarstellungen des Deuteronomiums im Kontext israelitischer Identitätskonstruktionen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XII, 345 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 471. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-036173-5.

Rezensent:

Michaela Geiger

»Das Fremde und das Eigene« ist die leicht überarbeitete Fassung der Dissertation Ruth Ebachs, die an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereicht wurde. Das gewählte Thema ist nicht nur politisch aktuell, sondern verbindet verschiedene alttestamentliche Forschungsdiskurse auf kluge Weise miteinander. Über die – in einem knappen Forschungsüberblick (2–7) präsentierten – Studien zu den »Fremden« von Bertholet (1896), van Houten (1991), Bultmann (1992), Ramírez Kidd (1999) und zuletzt Zehnder (2005) geht die vorliegende Arbeit in dreifacher Hinsicht hinaus. Die Konzentration auf das Buch Deuteronomium ermöglicht es, die Darstellung der Fremden differenziert wahrzunehmen und ihre Entwicklung zu erfassen. Die Begriffe gēr und nokrī werden als Teil eines größeren Phänomens, des Umgangs mit »dem Fremden«, analysiert. Und schließlich werden die Fremdendarstellungen in ihrer Funktion für die kollektiven Identitätskonstruktionen Israels gedeutet.
Der Zusammenhang von Identität und Fremdheit soll mit Hilfe ausgewählter soziologischer Denkfiguren erfasst werden (9–23). Die größte Herausforderung dieser Arbeit liegt im fehlenden Forschungskonsens in Bezug auf die Redaktionsgeschichte des Deuteronomiums. E. beschränkt ihren Forschungsüberblick auf die Mo­delle von Nielsen (HAT, 1954–1993), Rose (ZBK), Veijola (ATD) und Otto (HThKAT), die alle von einem vorexilischen (Ur-)Deutero-nomium ausgehen (26–29; vgl. dagegen Hölscher 1922, Kratz 2000, Finsterbusch 2012). Mit ihnen setzt sie eine dreistufige Entstehung des Buches in vorexilischer, exilischer und nachexilischer Zeit voraus und nimmt nur für die analysierten Texte redaktionsgeschichtliche Zuordnungen vor.
Der Hauptteil der Arbeit besteht aus der Analyse der Fremdendarstellungen des Deuteronomiums in den drei Epochen. Kapitel 2 »Exklusion und Inklusion« (34–148) behandelt das vorexilische Deu­teronomium. Zunächst wird der Begriff gēr (meist ge­schlechts­neutral als »Fremdling« übersetzt; Anm. 156) im dtn Gesetz untersucht (38–61) und folgendes Grundmuster herausgearbeitet: Der gēr ge­hört zu den personae miserae, begegnet immer als Handlungsobjekt und Gegenüber des »Du«, hat aber durchaus Rechte (42–45). Gegen Bultmann sei es »wahrscheinlicher«, dass der gēr »von außerhalb des Gottesvolkes kommt« (51). Begründet wird dessen Schutz mit der Erinnerung an den Sklavenstatus Israels in Ägypten: Durch die »Temporalisierung der Perspektive« (Stichweh) werde die »asymmetrische Beziehung reziprok« (60). Vom gēr wird der nokrī abgegrenzt (62–69), bei dem es sich in dtn und dtr Texten um einen Nichtisraeliten handelt, »der in Handelsbeziehungen zu den Mitgliedern des israelitischen Volkes steht, von ihrer speziellen religiösen und sozialen Gesetzgebung jedoch nicht tangiert wird« (69). Es folgen gründliche redaktionsgeschichtliche und thematische Exegesen: das Ge­meindegesetz (Dtn 23,2–9*: Zulassung be­stimmter Volksangehöriger zur Versammlung Jhwhs), die Kriegsgesetze Dtn 20 und 21,10–14 (Kriegskontakt mit Fremden) und Dtn 13,2–12* (Verehrung anderer Götter als innerisraelitisches Problem). Im Anschluss an Otto deutet E. Dtn 13* als vorexilischen Text, der die VTE im Sinne eines »Kulturtransfers« (313) aufgreift. Im Zusammenhang mit der Formel »Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen« (Dtn 13,6 u. ö.) interpretiert E. das in der 2. P. Sg. angesprochene »Du« treffend als »potentielles Handlungssubjekt« (131), aus dessen Handlungsfähigkeit sich die Verantwortung für die Gemeinschaft ableitet (135). Die Integration der sozial Schwachen in die »Mitte« Israels sei die »(positive) Kehrseite der ›gemeinschaftsreinigenden‹ Praktik der Exklusion« (147). Die Ergebnisse werden zusammengefasst (144–148), jedoch nicht zu den Grundlinien der vorexilischen Theologie des Deuteronomiums in Beziehung gesetzt.
Im »kursorisch angelegten« (32) Kapitel 3 mit dem Titel »Rettung der Gottesbeziehung« (149–189) geht es um das dtr Deuteronomium, dessen Entstehung E. im babylonischen Exil verortet (die Situierung in Jerusalem wird knapp abgewiesen; vgl. Anm. 94). Als hermeneutischen Schlüssel schlägt sie den Begriff »Verfassungspatriotismus« vor: »Durch die Stilisierung als Moserede vor der Landnahme und damit durch die Umgebung der Gesetze mit einem paränetischen Rahmen wird das dtr Gesetz zu einer Art Verfassungsentwurf.« (156) Wie sich »Verfassung« und die dtr Stilisierung als Erzählung zueinander verhalten, wird nicht diskutiert, wie überhaupt die rhetorische Gestalt der Texte wenig Aufmerksamkeit erhält. E. unterscheidet die innere Rahmung (Dtn 5–11*; 28,1–14), in der es insbesondere um die Abgrenzung von fremden Göttern geht, von der äußeren Rahmung (Dtn 1–3*; 29,1–14), in der die Beziehung zu fremden Völkern im Mittelpunkt steht. Zusammenfassend (186–189) begreift E. die Auseinandersetzung mit den Fremden als »Ausdruck der prekären Identität Israels selbst«: »In der Erzählung, wie sich ganz Israel diesen Fremden gegenüber verhält, kann die im Exil lebende Splittergruppe sich selbst zu ganz Israel machen und so ihre Identität konstituieren und wahren.« (187)
In Kapitel 4 »Abgrenzung und Weltoffenheit« (190–293) behandelt E. die Texte, die dem Deuteronomium nach der Rückkehr der Exilierten in die persische Provinz Jehud zugewachsen sind (vgl. die Betonung des Landbesitzes in den historisierenden Gebotseinleitungen, 224–232). Die Perspektive auf den gēr ändert sich, wenn dieser in Dtn 31,12 f. als Mitglied des Volkes ebenfalls die Tora hören und bewahren soll. Dagegen wird die Abgrenzung von »Fremden« im eigenen Land schärfer, wie E. differenziert an Dtn 7 sowie an Dtn 18,9–14; 20,15–18 und 17,14–20 herausarbeitet. Diese Texte seien nicht generell fremdenfeindlich, sondern richteten sich gegen die bei der Rückkehr im Land vorgefundenen Israeliten, die »durch Konstruktion als Fremde aus der kollektiven Identität« exkludiert (222) und, in einer weiteren redaktionellen Stufe, aufgrund ihrer religiösen Praktiken als Gefahr für das eigene Volk wahrgenom-men wurden (223). Die Rede von anderen Völkern außerhalb Israels erfolgt, z. B. in Dtn 29,21–28; 32,26 f., als »Spiegel und Folie für Israel« (291), während die antiquarischen Notizen (Dtn 2,10–12.20–23; 3,9.11) JHWHs Verfügungsmacht über alle Territorien der Völker bezeugen.
Der Darstellung der Fremden in den drei Epochen folgt ein übergreifendes Kapitel 5 (294–310), das die Bedeutung der »Fremde« für Israels Ursprung herausstellt: »In der Fremde entsteht Israel und wird zum Volk« (309), das gilt für Israels Erwählung aus den Völkern (Dtn 14,2) ebenso wie für den Exodus (Dtn 26,5), für Horeb- und Moabbund (Dtn 29,9–14). Wie diese – in sich schlüssigen – Überlegungen methodisch zu dem Vorangehenden stehen, wird nicht ganz deutlich.
Am Ende des Bandes steht eine Zusammenfassung der Ergebnisse in terminologischer, chronologischer und – leider erst hier ex­plizit – in textpragmatischer Hinsicht (311–320). E. kommt zu dem Schluss: »In der Fremde hat sich das prekäre Eigene neu konstituiert. Durch die Ausgrenzung von vermeintlich Fremden und Fremdem und durch jeweils neue Fremdendarstellungen konstruieren die deuteronomistischen Verfasser immer wieder neu das ideale Israel.« (320) Literaturverzeichnis und Bibelstellenregister runden das Werk ab.
E. hat eine anregende Studie vorgelegt, die sich durch ihre differenzierte Wahrnehmung der Konstruktionen des/der Fremden auszeichnet. Die Implikationen dieser »Außenperspektive« für die Theologie des Deuteronomiums hätten durchaus noch stärker herausgestellt werden können.