Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2017

Spalte:

490–493

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

CarrollR., M. Daniel, and J. Blair Wilgus [Eds.]

Titel/Untertitel:

Wrestling with the Violence of God. Soundings in the Old Testament.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2015. XIII, 178 S. = Bulletin of Biblical Research Supplement, 10. Lw. US$ 37,50. ISBN 978-1-57506-828-2.

Rezensent:

Walter Dietrich

Das Buch behandelt das Problem »Gott und Gewalt im Alten Testament« nicht in thematischen Längsschnitten, sondern in literarischen Querschnitten. Des Näheren werden Gen 22, Dtn, Jos, (Kla-ge-)Pss, Klgl, Am und Jer untersucht. Die Aufgabe teilen sich sechs Exegeten und eine Exegetin, von denen einer in Großbritannien wirkt, einer in Guatemala, die übrigen in den USA. Es ist von diesen Ausgangsbedingungen her klar, dass die große und schwierige Thematik in diesem Band nicht umfassend und abgerundet be­handelt werden kann, dass in ihm vielmehr gleichsam Streiflichter auf einige ihrer Facetten fallen.
Eine von den beiden Herausgebern stammende »Introduction« fasst nicht nur die nachfolgenden Artikel kurz zusammen (12–14), sondern diskutiert auch einige thematische Grundfragen (1–11). Schreckliche Ereignisse wie der Holocaust oder der Angriff auf die Twin Towers, allgemeiner: »[h]uman atrocities and natural disasters oblige constant reassessment of theological convictions« (2). Gerade der Gott des Alten Testaments wurde und wird immer wieder obsessiver Gewalttätigkeit beschuldigt: angefangen von Markion bis zu zeitgenössischen (amerikanischen) Autoren wie Eric Seibert und Kenton Sparks (europäische wie Carl Amery, Franz Buggle, Gerd Lüdemann oder Jan Assmann kommen nicht in den Blick). Dagegen stehen Versuche, konstruktiv mit der Problematik umzugehen, etwa von Miroslav Volf oder William Cavanaugh (Karl-Josef Kuschel, Manfred Görg, Walter Dietrich/Christian Link bleiben unerwähnt). Die Verfasser sehen fünf Felder, auf denen das Thema anzugehen ist (8–11): »Comparative Studies«, mit der Aufgabe, den alttestamentlichen Befund in den altorientalischen Kontext einzuordnen; »History of Reception«, mit der Zielsetzung, die einseitige Wahrnehmung der Wirkungsgeschichte des Alten Testaments als nur gewalt- (und nicht z. B. auch friedens-)fördernd zu korrigieren; »Theological Foundations«, das heißt das Bemühen, die Thematik v erstärkt in Gesamttheologien des Alten Testaments zur Sprache zu bringen (wie es etwa bei Brueggemann, Fretheim, McEntire bereits geschieht); »Textual Readings«, will sagen: die sorgfältige Untersuchung der einschlägigen Text(bereich)e nach den Regeln der exegetischen Kunst, in synchroner und diachroner Perspektive (»Passages cannot all be taken in the same way« [11]); »Virtuous Sensitivity«, womit Feinfühligkeit und Rücksichtnahme gegenüber Opfern von Gewalt gemeint ist. Offenbar ist der vorliegende Band ein Versuch, diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Der erste konkrete Beitrag stammt von Paul J. Kissling: »The Near-Sacrifice of Isaac: Monstrous Morality or Richly textured Theology?« (15–30) Der schon genannte Eric Seibert stellt in seinem Buch »Disturbing Divine Behavior« Gen 22 als krasses Beispiel eines abstoßend gewalttätigen Gottes hin. Eine solche Fehldeutung rührt daher, dass der Text wenig »emphatically« und dass er »in a fundamentally decontextualized way« gelesen wird (16). Sorgfältige Lektüre wird demgegenüber aufmerksam auf: die Parallelität von Gen 22,2 mit Gen 12,1; das Verb »versuchen, testen« in Gen 22,1; verschiedene, Hoffnung machende Signale im Text; sprachliche und stilistische Feinheiten, die auf anderes hinweisen als auf pure Gewalt; intertextuelle Bezüge, welche einen schlechten Ausgang der Geschichte als von vornherein unmöglich erscheinen lassen (z. B. Ex 13,12–15; 2Chr 3,1; Lev 18,21; 20,1–5; Dtn 12,31; 18,10). Die frühe jüdische und christliche Exegese verhandelte Gen 22 denn auch nicht unter dem Aspekt der göttlichen Gewalt, sondern menschlichen Martyriums (z. B. Philo, Josephus, 2 und 4Makk, Jubiläenbuch, Mk 14,12–26). Abschließend werden neuzeitliche und zeit-genössische Interpretationen vorgestellt: von Kant, Kierkegaard, Chilton, Sherwood und Levenson (Namen wie Benno Jacob, Erich Auerbach, Gerhard von Rad, Timo Veijola fehlen).
Daniel I. Block schreibt über »How Can We Bless Yhwh? Wrestling with Divine Violence in Deuteronomy« (31–50). Zuerst werden die einschlägigen Textbelege unter den Rubriken »Forms of Direct Divine Violence« und »Forms of Indirect Divine Violence« zusammengestellt (32–33), dann nach den Zielen oder Opfern (»Targets«) göttlicher Gewaltanwendung gefragt: den nichtisraelitischen (33–35: Moabiter, Pharao, Amoriter, Sihon und Og, Kanaaniter – die Amalekiter fehlen merkwürdigerweise) und den israelitischen (35–36: Polytheisten, Götzenverehrer, Mörder, Ehebrecher usw.). Göttliche Gewalt dient hauptsächlich dazu, in Israel moralische und kultische Standards durchzusetzen (36–41, hier Ausführungen zur Todesstrafe) und die Kanaaniter unschädlich zu machen (41–49). A usführlich wird das Thema »Bann« behandelt: Wortbedeutung, außerisraelitische Analogien, Jhwh als eigentliches Subjekt, die ausdrückliche Begründung der Bann-Aufträge, der Bann als »means of dealing with sin« (46), das Betroffensein sowohl Kanaans als auch Israels, die räumliche und zeitliche Begrenzung des In-stituts, mögliche Ausnahmen von ihm (hier aber nur Verweis auf Jos 2,8–11), im Hintergrund stehende Vorstellungen »of corporate identity and corporate solidarity« (47). Informationen zur Entstehung(szeit) des Deuteronomiums, zu möglichen Hintergründen im assyrischen Vertragsrecht, zu Problemen der Textdiachronie sucht man in dem Beitrag vergeblich – obwohl etwa die Bann-Gesetzgebung in Dtn 20 dazu dringend Anlass gäbe.
Hélène M. Dallaire befasst sich mit »Taking the Land by Force: Divine Violence in Joshua« (51–73). Eine »Brief History of Interpretation« behandelt Origenes, Epiphanius, die Puritaner und – sehr knapp – Johann David Michaelis und Johann Gottfried Herder. Unter dem Titel »Joshua: Ideology« kommen Joschija, assyrische Vasallenverträge sowie – sehr knapp – archäologisch und literarisch begründete Zweifel an der Historizität der Jos-Erzählung in den Blick. Zum Thema »Warrior God in Joshua« wird bemerkt, dass im Alten Testament einzig Rut und Hld nicht vom Krieg handeln. Ohne kritische Diskussion werden die 15 Elemente des Rituals des »Heiligen Krieges« nach Gerhard von Rad aufgezählt. Noch einmal – und kaum abgestimmt mit dem vorangehenden Artikel – wird der »Bann« behandelt (63–71), gipfelnd in Rechtfertigungsversuchen wie: »Israel was to remain holy in a world where temple prostitution, bestiality, homosexuality, and child sacrifice were practiced openly« (68); oder: Betreffs Kanaan »the evidence for profound moral corruption was abundant« (71). Der Beitrag fällt weniger durch Prägnanz und Originalität als durch zahlreiche Zitate und eine konservative Haltung auf.
Der Artikel von David G. Firth lässt durch seinen Titel aufhorchen: »Cries of the Oppressed: Prayer and Violence in the Psalms« (75–89). Gewalt begegnet in den Psalmen als von anderen zugefügte, als strukturell-gesellschaftliche und als erhoffte. Im letzteren Zusammenhang erscheint Jhwh als der, der Feinden Gewalt antun soll. Die Rachewünsche, die in »Imprecatory [Fluch-] Psalms« geäußert werden – zwischen 18 und 39 Psalmen sind ganz oder teilweise hierhin zu rechnen –, erscheinen namentlich angesichts des jesuanischen Gebots der Feindesliebe als problematisch. Sie sind indes vor dem Hintergrund der gesamtbiblischen »hope of Yahweh’s justice« (80) zu lesen. Generell überlassen die Beter ihren Wunsch nach Vergeltung dem gerechten Gott. Als Beispiele werden Ps 109 (»A Prayer of the Accused«, 82), Ps 69 (»A Prayer of a Sick«, 84) sowie Ps 137 und Ps 79 (»Communal Psalms«, 86) besprochen. In der »Conclusion« steht die wohlbedachte Mahnung: »these psalms ask us to take a position of powerlessness« (88); »only when we view ourselves as powerless […] we can begin to hope for God’s justice« (89); »violence such as was needed to bring about justice belongs to God alone in the Psalms« (89).
Heath A. Thomas schreibt über: »Suffering Has Its Voice: Divine Violence, Pain, and Prayer in Lamentations« (91–111). Im heutigen kirchlichen Leben führen Klagegebete eine Randexistenz, im alten Israel nicht. In den Threni reagieren Beter auf göttliche Gewalt mit Klagen und mit Schuldbekenntnissen. Als Beispiele werden Klgl 1,10.16; 2,1–9.20–22; 3,25–39 ausgelegt. 1,10 evoziert Bilder von sexuellem Missbrauch, »the enemy has raped Jerusalem« (96). In 1,16 wird »God’s distance« angesichts des Leides beklagt (97). In 2,1–9 erscheint Gott »as an enemy warrior« (99). »God’s violence in La­mentations associates with his activity, […] but also his distance and passivity« (100 f.). Es erscheint paradox: »sufferers pray to God against God« (105). Mit Claus Westermann und gegen Adele Berlin sind solche Texte, obgleich »confrontational«, als echte (und legitime!) Gebete anzusehen (107). »We must fight the temptation to avoid addressing divine violence altogether. Articulating divine violence and pain through prayer has benefits«, nämlich dass die Betroffenen das Leid nicht in sich hineinfressen und es auch nicht in Wut gegen andere ummünzen müssen (109).
Der Beitrag von M. Daniel Carroll R., überschrieben mit »›I Will Send Fire‹: Reflections on the Violence of God in Amos« (113–132), erinnert eingangs an die Hochachtung, die Befreiungstheologen den Propheten als »champions of the poor« entgegenbrachten (Severino Croatto, Jorge Pixley, Carlos Mesters). Neuerdings aber macht Interpreten zunehmend die Gewalthaltigkeit prophetischer Gerichtsansagen zu schaffen (Carol Dempsey, Julia O’Brien, Eric Seibert, Eryl Davies). Tatsächlich sehen die Propheten in Naturkatastrophen wie in Kriegsereignissen den richtenden Gott am Werk. Vieles davon ist indes »the rhetoric of that day« (120). Regelmäßig auch geben die Propheten »explicit reasons for God’s judgments« an; »divine violence is […] a response to human violence« (120 f.). Dass die Strafe pauschal ganze Völker trifft, erklärt sich aus den »dense cultural, ethnic, sociopolitical, legal, economic, and religious realities« (125; als Analogie dient Nazideutschland: 124). Gott ist aber nicht nur ein Strafender; es gibt ein Geheimnis (»mystery«) um »the conjunction of Yahweh’s compassion and anger of Yahweh in his pathos […] Although God does chastise, he does so with deep sorrow« (127). Schließlich gilt zu beachten: »The soon-coming judg­ment […] is not Yahweh’s final word«; in der prophetischen Literatur gibt es ein »movement toward salvation through judgment« (129). Ein Buch wie Am ist eine bleibende Kritik »of the religious construct that sanctifies the sociopolitical and economic status quo« (130). Das ist unbequem (»It is easier to worship a benevolent deity, not a demanding and uncomfortable one«, 131), aber unverzichtbar.
Das Schlusskapitel, verfasst von Elmer A. Martens, schlägt einen versöhnlichen Grundton an: »Toward an End to Violence: Hearing Jeremiah« (133–150). Zweifellos gibt es in Jer Passagen, in denen Gott als gewalttätig erscheint, doch »[t]he purpose of this essay is to present a portrait of God from the book of Jeremiah that at a minimum tempers the portrait of a violent God, and more maximally highlights a trajectory into the New Testament that envisions an end to violence« (134). Zwar ist Gott »intolerant of evil« (136), doch seine »harsh actions are limited« und »Israel is shown a way to avert desaster« (137). In der Hauptsache ist Gott »beneficent and good« (138, mit einer Reihe von Belegstellen in Jer), so dass sich ein »Portrayal of a God Who Loves« entwerfen lässt als »Challenge to a Violent and Solely Retributive God« (140–144). Im Mittelpunkt steht dabei das sogenannte Trostbüchlein Jer 30–33. Auch das Bild von Gott als Eheherrn – von Feministinnen als patriarchal-gewalthaltig verdächtigt – zielt letztlich nicht auf die Bestrafung, sondern auf die Rückkehr der untreuen »Frau« (144 f.). Namentlich in den šûb-šebût-Passagen und in Jer 31 ersteht das Bild einer neuen, »nonviolent world, one where shalom is a reality« (147).
Das Buch schließt mit einer Gesamtbibliographie (aufgrund derer es möglich gewesen wäre, sich in den Fußnoten auf Kurzaufrufe zu beschränken, doch finden sich dort nochmals die vollen bibliographischen Angaben) sowie Indizes von Autoren (europäische werden fast nur zitiert, wenn ihre Werke englisch geschrieben oder ins Englische übersetzt sind) und von Bibelstellen (wobei die in den Beiträgen behandelten Bücher massiv dominieren, während z. B. Ex, Ri, 1–2Sam, Hiob, Jes auffällig kurz kommen und Nah und Koh gar ganz fehlen).
Versuche, das Thema »Gott und Gewalt im Alten Testament« nicht im demonstrativen Gestus der Anklage und in denunziatorischem Ton, sondern im Bestreben nach vertieftem Verstehen und in differenzierter Art anzugehen, sind generell zu begrüßen. So ist auch dieses Buch zu begrüßen. Wie in ihm die anspruchsvolle Aufgabe angegangen wird, wo seine Stärken und wo seine Grenzen liegen, sollte im Vorangehenden gezeigt werden.