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Ausgabe: | Januar/2017 |
Spalte: | 90–92 |
Kategorie: | Dogmen- und Theologiegeschichte |
Autor/Hrsg.: | Elkar, Tim Christian |
Titel/Untertitel: | Leben und Lehre. Dogmatische Perspektiven auf lutherische Orthodoxie und Pietismus. Studien zu Gerhard, König, Spener und Freylinghausen. |
Verlag: | Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2015. 347 S. Geb. EUR 67,95. ISBN 978-3-631-65605-1. |
Rezensent: | Walter Sparn |
Die Marburger Dissertation (2014) ist ausdrücklich keine kirchengeschichtliche, sondern eine strikt dogmatikgeschichtliche Untersuchung; der Zusammenhang von »Leben und Lehre« wird nur im Blick auf dogmatische Äußerungen darüber in den Blick genommen. Tim Christian Elkar wählt je zwei lutherisch-orthodoxe (l.-o.) und pietistische (p.) Dogmatiken aus: die »Loci theologici« Johann Gerhards (1610–1622), Johann Friedrich Königs »Theologia positiva« (1664, hrsg. u. übers. 2006), Philipp Jakob Speners Predigtsammlung »Evangelische Glaubenslehre« (1688) und Johann Anastasius Freylinghausens »Grundlegung der Theologie« (1703, ND 2005). Die Auswahl wird in der Einleitung (15–51) begründet in ihrem für »lutherische Orthodoxie« (l. O.) bzw. »Pietismus« (P.) repräsentativen Charakter, wie ihn auch die neuere Forschung belegt (Bibliographie: 317–347). Ausgangsthesen benennen die »Konzentration auf Christologie und Soteriologie« (44), den »Ausgangspunkt im reformatorischen Rechtfertigungsverständnis mit seiner Zentralstellung des Heils« und die dabei wesentliche Beziehung der Glaubenslehre zum Leben des Gläubigen (49–51). Die Skizze der »Historischen Rahmenbedingungen« (B., 53–70) summiert die Forschung zu beiden theologiegeschichtlichen »Epochen« und zu ihrem Streit – der Vf. vermutet schon, dass »die dogmatischen Positionen gar nicht so weit voneinander entfernt lagen« (70).
Der Abriss der »Dogmatische(n) Rahmenbedingungen« (C., 71–104) folgt dieser Vermutung, indem er die reformatorische Rechtfertigungslehre als »Grundlage für l. O. und P.« statuiert – wobei Melanchthon, dessen Bildung und Systematisierung »evangelische[r] Dogmen« in beiden Epochen nachwirken, »von der Lehre und nicht primär vom Leben her«, Luther aber »sozusagen aus dem Bußkampf seines Lebens« kam (79). Der formalen Charakteristik der Werke (84 ff.) folgt die Feststellung dreier Elemente ihres Rahmens: das seit Gerhard klar ausformulierte Schriftprinzip als »hermeneutischer Schlüssel für l. O. und P.« (91 ff.), das Theologieverständnis (95 ff.) und die Heilsbedürftigkeit des Sünders (102 ff.). Im ersten und im dritten Element werden die darin gestellten Aufgaben (methodische Hermeneutik, Status-Anthropologie) jedoch nicht erwähnt; im dritten wird die »Frage nach Wissenschaft und Person« wenigstens als solche benannt (102).
Der Hauptteil D. »Das Heil« (105–293) wendet sich 1. der Methodik zu, d. h. der Loci-Methode und ihrer Ablösung durch die analytische Methode bzw. der »Konvergenzmethode« und des »pneumatologischen Schema(s)« der pietistischen Autoren (112 ff.). Der Vf. übergeht wichtige Dinge, z. B. den Einsatz der Frage nach »Vier Ursachen« bei Gerhard (106), lässt ein klares Verständnis nicht erkennen, wenn er z. B. vom Zweck der Theologie sagt, er sei »entweder objektiv Gott oder formal die Freude an Gott« (109), und er verharmlost die im Pietismus heikle Beziehung von Rechtfertigung und Heiligung als »Konvergenzmethode« (114 f.). Kein Wunder, dass dem Vf. unerklärlich bleibt, wieso Spener sich von der analytischen Methode abkehrte – er bemerkt nicht, dass dessen Dogmatik in einem andern Sinne »praktisch« ist als die Gerhards (der damit poimenisch meint). Doch hat der Vf. gewiss Recht, von »soteriologischer Gliederung« bei der analytischen und von »anthro-pologischer Zuspitzung« bei der Konvergenzmethode zu reden (122 ff.). Zum Zweck des dogmatischen Vergleichs nimmt er 2. eine »Systematische Neuordnung der Begriffe« der Quellen vor, d. h. ordnet sie heute gängigen Perspektiven auf das Heil des Menschen zu (127 ff.). Das ergibt vier »Beobachtungsfelder«, zuerst, bzw. 3., den »Heilsrahmen«, gebildet durch die Lehre von der Gnadenwahl Gottes, die Christologie und die Pneumatologie (138 ff.). Der Vf. stellt Stoffreduktionen und Schwerpunktverlagerungen in den pietistischen Autoren fest etwa bei den Ämtern Christi, die nicht mehr aus der Idiomenkommunikation, sondern aus der Messianität Christi begründet werden (148 ff.), sowie bei der Lehre von den Ständen Christi (157 ff.). Fazit: Die Spannung zwischen dem Geschenk, das Christus darstellt (»Trost«), und dem Vorbild, das er der Nachfolge ist (»Pflichten«), werde problematisch stark (167 f.). Lehrreich sind die Beobachtungen zur Einführung des vierfachen Amtes des Heiligen Geistes durch Spener (angeregt wohl durch Luther und J. K. Dannhauer), zur besonderen Bedeutung des Strafamtes und zu den Nachwirkungen bis zu Schülern S. J. Baumgartens (168 ff.).
Das zweite Beobachtungsfeld sind der »Weg zum gerechtfertigten Sünder« (4., 184–216), die Heilsmittel (5., 216–245) und »die Wirklichkeit Gottes im Menschen« (6., 245–264). Interessant ist der Versuch, die Problematik des späten Begriffs »ordo salutis« zu vermeiden und lieber »Gnadenelemente« zu sagen (189 ff.). Berufung, Bekehrung, Wiedergeburt, Erneuerung, Heiligung, mystische/spirituelle Einheit mit Gott werden als Lehren dargestellt. Vieles ist allen Autoren gemeinsam; doch die pietistischen gliedern Buße und Bekehrung aus den Gnadenelementen aus, die Gnadenerleuchtung ein. Der Vf. beobachtet eine Dynamisierung nach innen und außen, sieht aber die Gefahr, dass die enge Verbindung mit dem Tun des Menschen – gegen die Absicht – die Rechtfertigungslehre in den Hintergrund schiebt (210 ff.). Die Unterschiede in der Darstellungsweise des Heilsmittels des Wortes als Gesetz und Evangelium sieht der Vf. nicht als Beeinträchtigung der Gemeinsamkeit in der Sache; allerdings bilde die Lehre von den Schlüsseln bei den beiden pietistischen Autoren ein eigenes und wichtiges Lehrstück (216 ff.). Dass die pietistische Sakramentenlehre sich von ihrem alttestamentlichen Kontext löst und sich stärker mit den Sakramentsteilnehmern und deren Pflichten beschäftigt, sieht der Vf. wiederum nicht als erheblich an (233 ff.). Als »Wirklichkeit Gottes im Menschen« kommen der Glaube, die guten Werke, das Kreuz und das Gebet zur Sprache. Der Vf. stellt die abweichende Bestimmung der Buße in den pietistischen Werken fest: Sie »verschmelzen das Angebotshandeln Gottes und das Antworten des Menschen auf das Engste miteinander« (262). Wie hier zerstreut der Vf. auch bei den guten Werken den möglichen Eindruck der Werkgerechtigkeit (263 f.). Im dritten Feld, der »Ekklesiologie« (264–278), wird die Dreiständelehre nicht berücksichtigt; das Interesse der pietistischen Autoren an der »unsichtbaren Kirche« will der Vf. nur als »Schwerpunktverlagerung« verstehen, was freilich widersprüchliche Aussagen über das Verhältnis der wirklich Glaubenden zur sichtbaren Kirche zur Folge hat (276 f.). Das vierte Feld, die »Eschatologie« (278–293), werde durch die Abtrennung ihrer Themen vom Heilsziel des ewigen Lebens durch König gestärkt (283) – das Verblassen der Apokalyptik wird nicht in Anschlag gebracht. Entschärft wird auch die wichtige Frage nach einer »speziellen p. Eschatologie« (286) damit, dass chiliastische Tendenzen, die »den Rahmen der l. O. verlassen« (!), minimiert werden und ins Fazit münden »Einigkeit im Ziel – Unterschiede auf dem Weg« (291).
Es ist eindrücklich, wie die Untersuchung immens fleißig viele Einzelbefunde benennt und zusammenstellt. Doch sie bewegt sich auf der Ebene der doktrinalen Propositionen und aggregiert Lehrstücke, rekonstruiert sie aber weder in ihrer argumentativen Logik noch in ihrer historischen Transformation. So bleiben angesprochene Differenzen zugunsten eines, von »Ausdifferenzierungen« und »Schwerpunktverlagerungen« abgesehen, einheitlichen Ganzen weit unterbelichtet; von zwei »Epochen« kann keine Rede sein. Dieses doktrinale Aggregat, das das »Leben« nur als normatives Postulat der »Lehre« kennt, abstrahiert nicht nur von der damaligen Frömmigkeitsgeschichte, sondern verspielt auch den aktuellen Wert jener »Schwerpunktverlagerungen«. Die Zusammenfassung (295–316) bekräftigt leicht modifiziert die Anfangsthesen und sieht die Impulse der behandelten Dogmatiken für die heutige Dogmatik daher darin, dass lutherische Orthodoxie und Pietismus, in ihrer Betonung der Lehre bzw. des Lebens, im Bild des »gemeinsamen Schiffes« aus beiden »Elementen« vorgestellt werden können. Klarheit und Orientierung im Heute müssen auch heute austariert sein, soll das Schiff nicht in Schieflage geraten, seinen Passagier, den Menschen, vielmehr zum Heilsziel bringen (309 ff.). Ob die »Lücke zwischen kirchlicher Lehre und persönlichem Leben« (315) sich auf derart metaphorischem Wege schließen lässt?