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Ausgabe:

Januar/2017

Spalte:

80–82

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Castellio, Sebastian

Titel/Untertitel:

Gegen Calvin. Contra libellum Calvini. Erstmals aus d. Lat. übers. v. U. Plath. Hrsg. v. W. F. Stammler.

Verlag:

Essen: Alcorde Verlag 2015. 431 S. m. 62 Abb. = Bibliothek Historischer Denkwürdigkeiten. Lw. EUR 36,00. ISBN 978-3-939973-62-1.

Rezensent:

Detlef Metz

»Audiatur et altera pars«, unter diesem Titel könnten die in der Reihe »Bibliothek Historischer Denkwürdigkeiten« im Alcorde Verlag erschienenen Übersetzungen lateinischer Texte von Sebastian Castellio und damit auch das vorliegende Werk gefasst werden. Nachdem im Calvin-Jahr 2009 manches den Genfer Reformator hinsichtlich seiner Rolle im Fall Servet Entlastendes gesagt wurde– auch Bekanntes, was jedoch kaum Wirkung entfalten konnte, herrscht doch schon seit Langem ein negatives Calvinbild vor, spätestens seit Stefan Zweigs »Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt« von 1936 die Wahrnehmung Calvins mitbestimmt –, kommt nun wiederum die Gegenseite in Gestalt Castellios an die Reihe. Auch die Intention des Herausgebers, vormals Programmleiter des Quell-Verlages, geht deutlich in die Richtung, der Stimme Castellios als einer Stimme gegen Calvin – so schon der den originalen lateinischen Titel verschärfende, auf die Person Calvins zuspitzende Titel der Übersetzung – und für Toleranz Gehör zu verschaffen, mit dem Ziel, die Folgen des damals wirkmächtigen Urteils Calvins über Castellio aufzuheben. Die Frage, ob diese Zu?spitzung des Titels zu Recht vorgenommen wurde, mag kontrovers diskutiert werden; angesichts der schwierigen Kommunikation zwischen dem Genfer Reformator und seinem ehemaligen Mitstreiter und angesichts der gerade auch in diesem Werk vorliegenden Tendenz zur Abrechnung mit dem, der seinen Weggang aus Genf provozierte mit der Folge zeitweiliger akuter Nöte, erscheint sie nicht inadäquat. Uwe Plath, der Übersetzer, nimmt mit dieser Übertragung den Faden seiner vor längerer Zeit betriebenen Studien zu Castellio, zum Fall Servet und zur Basler Kirchengeschichte wieder auf.
Castellios »Contra libellum Calvini« liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Er verfasste es im Jahre 1554 in lateinischer Sprache. Veröffentlicht wurde die Schrift damals nicht, nur als Manuskript im Untergrund verbreitet. Mit nachvollziehbaren Argumenten vermutet Plath, Castellio habe auf eine Publikation verzichtet, da das herrschende kirchenpolitische Klima seit Er?scheinen seiner Schrift »De haereticis an sint persequendi« – eine deutsche Übersetzung Letzterer erschien bereits 2013 in der ge?nannten Reihe im Alcorde Verlag – ein entsprechendes Ansinnen aussichtslos machte. Gerichtet war das Werk gegen Calvins »Defensio orthodoxae fidei«. Diese wiederum war eine Replik auf Vorwürfe gegen Calvin, die nach der Verbrennung Servets kursierten. Calvin rechtfertigte sein Vorgehen gegen Servet und verteidigte das Recht der Obrigkeit zur Bestrafung von Ketzern, unter Einschluss der Todesstrafe. Zugleich setzte er sich erneut ausführlich mit Servets Lehren auseinander. Castellios Gegenschrift ist in Form eines Dialogs gehalten und bietet von einer Person namens Vaticanus – diese repräsentiert Castellios Position – vorgebrachte Entgegnungen auf vorgeschaltete Äußerungen Calvins. Kommentiert werden 153 ausgewählte Abschnitte aus Calvins Defensio, ferner ein Passus aus der Institutio von 1536. Das Hauptgewicht liegt auf der Frage, ob eine christliche Obrigkeit Ketzer bestrafen dürfe. Castellios vorrangige Intention ist es zu erweisen, Calvins Lehre von der Ketzerverfolgung sei falsch: Die von ihm angeführten Bibelstellen trügen nicht das aus, wozu sie dienen sollen; andere dicta probantia widerlegten es vielmehr. Castellio kommt zu einer Relativierung des Ketzerbegriffs: Stets konkurrierten Wahrheitsansprüche miteinander, jeder Vertreter der einen Konfession werde mithin von denjenigen einer anderen Konfession für einen Häretiker gehalten; ein Dilemma, das erst im Eschaton durch Christus aufgelöst werde. Freilich lässt Castellio erkennen, dass auch er trotz seiner Toleranz in Bezug auf die verschiedenen Glaubenspositionen ein Einschreiten der Obrigkeit gegen impii in Gestalt von Gottlosen, Lästerern und Apostaten für legitim erachtet. Maßstab wahren Christentums ist ihm hingegen das rechte Tun, in der Lehre liegt dieser nicht. Castellio ist bewusst, dass Calvins Weise der Inkriminierung und Bekämpfung anderer Personen als Ketzer auch im eigenen Lager als problematisch empfunden wurde und der Anerkennung seiner von ihm als recht erkannten Lehre eher im Wege stand.
Erstmals gedruckt wurde die Schrift im Jahre 1612 in den Niederlanden, im Kontext des Streits zwischen Remonstranten und Calvinisten – Erstere fanden hier einen Kronzeugen für ihre Position. Grundlage der Übersetzung Plaths ist diese Ausgabe. Ein darin nicht übernommener Teil des Fragments des Manuskripts von Castellios Hand, das sich in der UB Basel befindet, ist in die Übersetzung aufgenommen. Der Erstdruck enthielt außer dem Vorwort des niederländischen Herausgebers, in dem auch Castellios Name genannt wird, eine Widmung seiner Biblia sacra an den englischen König Eduard VI., zu dieser Bibelausgabe gehörige Anmerkungen zu den biblischen Texten 2Kor 10 und 1Tim 1, die anonyme, wohl von Castellio verfasste »Historia de morte Serveti«, ferner eine ebenfalls mutmaßlich von ihm formulierte Abhandlung über die Anfänge von Calvins Wirksamkeit in Genf sowie einen Brief Castellios an Nikolaus Blesdijk, den Schwiegersohn des Täufers David Joris. All diese Beilagen wurden von Plath mit übersetzt und im Anhang geboten, so dass sich nahezu ein Äquivalent der Erstausgabe ergibt.
Es liegt eine vorzügliche, durchaus kritischen Maßstäben genügende Ausgabe vor. Beigefügt sind Bibelstellenregister, Personenregister und Bildnachweis; dazu ist sowohl die Einführung als auch der Quellentext mit zahlreichen hilfreichen Anmerkungen versehen. In der Bibliographie werden Bibelausgaben und -lexika, die Werke Castellios, Ausgaben der Werke Calvins, dazu andere Quellen (Beza, Bullinger, Luther, Täufer, Zwingli) verzeichnet, ferner sind wichtige Titel der Forschungsliteratur aufgeführt. Die ausführliche Einführung (9–43) informiert über die Vor- und Nachgeschichte des Werkes. Die Übersetzung ist flüssig, zugleich nahe am Original. In den Anmerkungen hat Plath erkennbare Lese- und Druckfehler der lateinischen Erstausgabe verzeichnet. In der Feststellung, eine kritische Edition des lateinischen Originals bilde ein Desiderat, ist Plath nur beizupflichten – gerade für eine weitere Erhellung des Konflikts und eine genauere Verortung von Castellios Standort in den zeitgenössischen Diskussionen um Toleranz und Religionsfreiheit.
Plath gebührt das Verdienst, das bislang schwer greifbare Werk einem größeren Kreis zugänglich gemacht zu haben. Dass er Partei nimmt, ist der Einleitung abzuspüren. Gleichwohl, ungerechtfertigte Vorwürfe seines Protagonisten gegen Calvin benennt er als solche. Das Werk demonstriert, dass Castellio eine fundamental andere Auffassung vom christlichen Glauben vertritt als Calvin. Mit der Einsicht in die historische und situative Bedingtheit der Ketzerbekämpfung Calvins wie auch der Aussagen Castellios zur Sache, ebenso mit dem entsprechenden Verdikt über Calvins Handeln ist freilich diese materiale Frage, welchem Verständnis von Christentum der Vorzug gebührt, noch nicht entschieden. Die Entscheidung wird naturgemäß unterschiedlich ausfallen, je nachdem welcher Maßstab angelegt wird. Auch dafür aber gibt die vorliegende Ausgabe wichtige Impulse.