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Ausgabe: | November/2016 |
Spalte: | 1293–1295 |
Kategorie: | Praktische Theologie |
Autor/Hrsg.: | Haendler, Otto |
Titel/Untertitel: | Schriften und Vorträge zur Praktischen Theologie. Eingel. u. hrsg. v. W. Engemann. Bd. 1: Praktische Theologie. Grundriss, Aufsätze, Vorträge. |
Verlag: | Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 671 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-03138-2. |
Rezensent: | Michael Meyer-Blanck |
Die Auseinandersetzungen um die Rezeption der Humanwissenschaften und insbesondere der Psychologie »gehören zu den facettenreichsten und am schärfsten geführten Diskursen der Praktischen Theologie des 20. Jahrhunderts«, bemerkt Wilfried Engemann in seinem Vorwort zu dem ersten, nunmehr vorliegenden Band der Otto-Haendler-Werkausgabe, dem in den nächsten Jahren vier weitere Bände folgen sollen.
Otto Haendler (1890–1981), der in Greifswald und dann von 1950–1967 an der Humboldt-Universität Berlin Praktische Theologie lehrte, war ein psychoanalytisch orientierter Fachvertreter, der etwa drei Jahrzehnte vor dem Durchbruch der Pastoralpsychologie um 1970 die Arbeit am eigenen Selbst in den Mittelpunkt einer Theorie der theologischen Existenz stellte. H.s Rückgriff auf die Tiefenpsychologie C. G. Jungs war damals in der Homiletik ebenso wie in der Seelsorge und Pastoraltheologie vollkommen unzeitgemäß. Das herrschende verkündigungstheologische Paradigma ließ das Buch »Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundfragen und Grundlagen« (1. Aufl. 1941) ebenso auf Unverständnis stoßen wie den »Grundriss der Praktischen Theologie« von 1957. Dabei war H. selbst durchaus in der Theologie seiner Zeit beheimatet, denn immer wieder sprach und schrieb er davon, dass die wahre Selbstfindung des Menschen erst im Evangelium vollendet werde. In einem Festschriftenbeitrag formulierte er 1954 den Spitzensatz: »Theologie ist Wissenschaft von der Offenbarung Gottes, oder sie ist nicht.« (556) H. gehörte zu den Berneuchenern und Michaelsbrüdern, die in der Spätphase der Jugendbewegung die Dimension der Leiblichkeit, die Methode der Meditation und die Komplexe Psychologie C. G. Jungs entdeckt hatten, aber damit in der ausklingenden Wort-Gottes-Theologie auf wenig Gegenliebe stießen. Das vorsichtig Multiperspektivische und Unzeitgemäße dieser Praktischen Theologie ist das eigentlich Interessante.
H. hat schon einiges Interesse in der Sekundärliteratur gefunden, besonders durch die einschlägige Monographie von Kerstin Voigt (Otto Haendler – Leben und Werk, Frankfurt am Main 1993), aber mit der jetzt begonnenen Werkausgabe wird die Beschäftigung mit H. und seiner Zeit auf eine neue Basis gestellt. Wilfried Engemann ist dafür zu danken, dass er die umfangreiche Arbeit mit den bereits publizierten und den in den Archiven lagernden Texten auf sich genommen hat. Dabei handelt es sich bei der Ausgabe aber nicht um »Gesammelte Werke«, denn Bestandteil der geplanten fünf Bände sind nur die praktisch-theologisch relevanten Äußerungen (8 f.), damit allerdings die überwältigende Mehrheit aller vorhandenen Texte.
Im Zentrum des vorliegenden ersten Bandes steht der erwähnte »Grundriss« von 1957, der im ersten Teil erneut zum Abdruck kommt (113–481). Im zweiten Teil des Buches (511–599) finden sich fünf Aufsätze und Vorträge, und beide Teile werden durch sehr ausführliche Kommentare des Herausgebers eingeleitet. Engemann betrachtet so H.s Grundriss »im Spiegel der Theologie- und Rezeptionsgeschichte« (19–112) und beschreibt im zweiten Teil »Kontext und Fokus einzelner Argumentationsmuster« von H.s Praktischer Theologie (487–510).
Besondere Sorgfalt verwendet der Herausgeber auf die Deutung des von H. verwendeten eigentümlichen Begriffes der Praktischen Theologie als »Strukturtheologie« (22–43). Diese Kategorie ist wohl am besten als Bemühen zu verstehen, sowohl die bloße Ansammlung pastoraler Arbeitsfelder zu überwinden als auch die seit dem 19. Jh. geläufig gewordene ekklesiologische Fokussierung der Praktischen Theologie. Es geht um die »Strukturen« im Individuum sowie in Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft, in welche die Praktische Theologie einzuzeichnen und innerhalb derer sie zu entfalten ist. Die Praktische Theologie gewinne nach H. dadurch Plausibilität, so Engemann, dass sie »die Strukturelemente der Kirche jeweils in ihrer horizontalen Anbindung an Menschen und Situationen wahrnimmt« (26). Es gehe um die Abgrenzung von einer Praktischen Theologie, die »ihre Argumente aus pastoraltheologischer Selbstbetrachtung zu gewinnen« suche und aus zeitlosen Prämissen von Amt, Bibel, Kirche und Offenbarung ableiten wolle (34). »Struktur« stehe dagegen für operationale und relationale Modelle, die nicht deduktiv vorgehen, sondern verschiedene Reflexionsperspektiven miteinander zu verbinden suchen.
Besondere Sympathie findet beim Herausgeber die Kritik an formelhaften Argumentationsmustern. Das gilt etwa für die verdinglichende Rezeption der Formel »Wort und Sakrament« in der Praktischen Theologie. H. hielt dagegen, dass »die Kirche wesentlich eine Gemeinschaft von Personen ist und nicht Anteilnahme an dinglichen Werten« (Haendler, Grundriss, 310 [201]). Die Verkündigung wurde von ihm – der Zeit durchaus entsprechend – christologisch und existential akzentuiert und ebenfalls zeittypisch wurden Unterricht, Predigt und Seelsorge unter die Kategorie der »Verkündigung« subsumiert (63).
In Parallele zu Carl Rogers und zugleich durchaus unabhängig von ihm formulierte H. schon in seinem Grundriss von 1957 basale personenbezogene Prinzipien, die das Eigene und Unableitbare der Rat suchenden Menschen in den Mittelpunkt stellen: Das »Ich«, das »Selbst« soll gesucht, geachtet und gestärkt werden. Nicht alles, was wahr ist, muss gesagt werden, aber es darf nichts gesagt werden, was nicht wahr ist (78). H.s fragende und problematisierende Art von Praktischer Theologie wird dabei von Engemann der souverän kategorisierenden Praktischen Theologie von Dietrich Rössler positiv entgegengestellt:
»Wenn man die entsprechenden Kapitel bei Haendler und Rössler miteinander vergleicht, ist offensichtlich, dass der eine – Haendler – nicht müde wird, Fragen aufzuwerfen und auf Probleme hinzuweisen, während der andere – Rössler – mit Blick auf die gesamte Geschichte der Praktischen Theologie zuverlässig über gefundene Antworten informiert.« (88)
Das ist ein starkes Urteil und die gesamten fünf Bände des Projektes werden zeigen, ob und inwiefern es zutrifft. Auf jeden Fall ging es H. – ganz in Übereinstimmung mit Rössler – darum, die Möglichkeit zu glauben mit der Entwicklung von Subjektivität zu-sammenzudenken. Der Freiheitsbegriff sollte dabei, so Engemann, »nicht nur heilstheologisch relevant« sein, sondern »in anthropologischer Hinsicht für die Seelsorge als Hilfe zum Leben-Können« Bedeutung gewinnen (95). Der »Grundriss« von 1957 kommt damit als zugleich zeittypisch und als darüber hinausweisend zur Geltung.
Mit den Vorträgen im zweiten Teil werden dieser Konzeption noch einige Facetten hinzugefügt. Zu notieren ist hier etwa H.s Kritik am Verständnis der Praktischen Theologie als Ethik (551). H. charakterisierte diese »alte Auffassung« als eine von »Enge« und »Formalismus« geprägte (551). Diese Einschätzung (aus einer Festschrift 1954 für den so umstrittenen Domprediger Bruno Doehring) ist insofern bemerkenswert, als gerade diese Zuordnung im aktuellen angelsächsischen Diskurs geläufig ist. Von bleibender Aktualität ist das Bemühen H.s um diejenigen, »denen das Denken von der Kirche her Hemmungen bereitet« (557). Dieser ebenfalls in der Doehring-Festschrift 1954 stehende Satz wurde in dem Jahr formuliert, als die politisch konsolidierte DDR mit der massiven Propagierung und Durchsetzung der Jugendweihe begann, und ist eine bleibende Herausforderung. Überhaupt habe ich diesen Text (545–560) als den historisch wie sachlich am meisten anregenden gelesen.
Den weiteren Bänden der Edition sieht die Fachwelt mit Spannung entgegen, zumal die ausführlichen und sorgfältigen biographisch-bibliographischen Anhänge und Register des ersten Bandes (601–671) sehr hilfreich und benutzerfreundlich sind.