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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1423–1425

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Merkl, Alexander

Titel/Untertitel:

Si vis pacem, para virtutes‹. Ein tugendethischer Beitrag zu einem Ethos der Friedfertigkeit.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos; Münster: Aschendorff Verlag 2015. 473 S. = Studien zur Friedensethik, 54. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-8487-2704-9 (Nomos); 978-3-402-11698-2 (Aschendorff).

Rezensent:

Marco Hofheinz

Bereits der programmatische lateinische Obertitel verrät die Ausgangsthese der Untersuchung von Alexander Merkl: »Wenn du den Frieden willst, dann sei tugendhaft.« Die Untersuchung wendet sich – mit anderen Worten – der »Suche nach Grundhaltungen für die vielfältigen Aufgaben des Friedenshandelns« (20) zu. Tugendethik und Friedensethik – mit dieser doppelten Themenangabe sind die beiden Brennpunkte benannt, um die die Untersuchung gleichsam elliptisch kreist. Mit dem Brennpunkt »Tugend« wendet sie sich einem klassischen Typus der Ethik bzw. klassischen Thema der Morallehre zu, mit dem zweiten Brennpunkt »Frieden« einem nicht weniger klassischen Thema der Soziallehre. Es geht M. so­wohl um Grundlegungsfragen der (Friedens-)Ethik als auch ma-teriale (friedens-)ethische Konkretionen. Das intradisziplinäre Zu­gleich dieser doppelten Fokussierung ist für Anlage wie Ausführung der Untersuchung entscheidend. M. benennt gar einen fünffachen Bezugsrahmen seiner Untersuchung (vgl. 28–58): 1. die Schnittstelle von Individual- und Sozialethik bzw. Tugend- und Friedensethik, 2. ein katholisches Friedensethos, 3. die US-amerikanische Perspektive, 4. »Peacebuilding« als aktuelles Paradigma ge­genwärtiger Friedensethik, 5. Bernhard Häring als ein führender Vertreter der nachkonziliaren katholischen Morallehre.
M. konstatiert ein eklatantes Defizit hinsichtlich systema-tischer, inhaltlicher wie auch konkretisierender Vertiefung für eine friedensrelevante Tugendethik. Um ein entsprechendes Forschungsdesiderat einzulösen, greift er nur höchst indirekt auf die jahrhundertelange Tugendtradition in der Theologie zurück, insofern er auf aktuelle tugendethische Ansätze aus der deutsch- und englischsprachigen Diskussion sowie in der orientierenden Vergewisserung (Teil I: 59–133) auf friedensethisch relevante Äußerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und jüngster Hirtenworte (»Gerechter Friede« [2000], »The Harvest of Justice Is Sown in Peace« [1993]) auf tugendethische Implikationen hin untersucht.
Es erfolgt anschließend eine systematische Grundlegung einer friedensethischen Tugendtheorie (Teil II: 135–259), die im Hauptteil in kontextbezogene tugendethische Konkretionen und Synthesen überführt wird (Teil III: 261–435). Im zweiten Teil werden friedfertige Tugenden definiert als moralisches Können oder Sein, die in Entscheidungssituationen friedensethisches Handeln orientierend (an-)leiten. Als eine relationale Größe verortet M. sie in einem »friedensethischen Viereck«, das neben der Tugend die ebenfalls wechselseitig aufeinander bezogenen und gemeinsam auf das normative Prinzip des Friedens ausgerichteten Größen Norm, Praxis und Institution umfasst. Dieses Viereck soll veranschaulichen: »Leistungsfähig wird der Tugendbegriff […] erst dort, wo er in seiner normativen (bspw. Menschenrechte), institutionellen (bspw. Zivilgesellschaft) und praktischen (bspw. Versöhnungshandeln) Verwiesenheit verortet wird. Tugenden sind komplementäre Größen; Tugendethik ist eine komplementäre Ethik zu norm- und institutionsethischen gleichwie praktischen Bezügen. Die Friedensethik ist demnach eine integrative Ethik, da sie alle diese Komponenten zu integrieren hat, um Ethik im Vollsinn zu sein« (209). Die Konturierung des als normative Leitidee verstandenen Friedensbegriffs erfolgt durch dessen Charakterisierung als »ein dynamischer, kontinuierlicher, relationaler und spannungsvoller Prozess zunehmender Konflikteindämmung« (210).
Nach methodischer Vorbereitung wird im Hauptteil (III) die Systematisierung der Tugenden der Friedfertigkeit (peaceable virtues) vorgeführt und zwar nach einem offenen, relational und gestuft konzipierten Einteilungsschema, das nach Tugenden des Glaubens (erste Stufe: Glaube, Liebe, Hoffnung), omnirelationale Grundtugenden (zweite Stufe: Klugheit, Demut und Kreativität als Haltung), relationale Grundtugenden (dritte Stufe: Wachsamkeit, Self-care, Gerechtigkeit) und partikular-relationale Tugenden (Brüderlichkeit, Toleranz, Dialog, Gewaltfreiheit, Mut, Geduld und Gelassenheit, Humor, Kritik, Erinnerungsbereitschaft, Dankbarkeit und Barmherzigkeit) differenziert. Der für die friedensethische Konkretion unverzichtbare Kontextbezug wird durch Öffnung des Tugendbegriffs hin zu normenethischen, institutionsethischen und praxis bezogenen Erwägungen hergestellt, die die Notwendigkeit der »Synthesen« von Tugend mit Norm, Institution und Praxis betonen. Hier wird einmal mehr deutlich, dass M. »Tugendethik nicht als isolierte Form des Ethiktreibens« (133) verkümmern lassen möchte. Mit einer der/m Eiligen sehr zu empfehlenden ergebnisorientierten Rückschau, die den »roten Faden« der Untersuchung nachzeichnet (437–446), und einer Ertragssicherung (446–450) schließt die Untersuchung.
Zweifellos leistet die Untersuchung einen wichtigen Beitrag sowohl für eine theologisch reflektierte Tugendethik als auch eine an der Perspektiverweiterung interessierte Friedensethik, die die Relevanz von Tugenden für die Ausprägung eines Friedensethos nicht außer Acht lassen möchte. Anschaulich führt die Untersuchung in drei Durchgängen vor Augen, wie sich Friedens- und tugendethische Reflexion stimulieren und bereichern können. Beeindruckend ist insbesondere die Vielzahl der zusammengeführten deutschsprachigen (B. Häring, D. Witschen, D. Mieth, E. Scho-ckenhoff, K. Demmer, H.-G. Justenhoven) und angloamerikanischen (J. F. Keenan, C. E. Curran, E. S. McCarthy, D. Philpott, G. F. Powers) Beiträge. Dieses Vermittlungsverdienst ist angesichts eines nach wie vor recht rezeptionsträgen deutschsprachigen Diskurskontextes kaum zu überschätzen.
Bedauerlich ist es, dass M. in seiner ansonsten höchst anregenden und gewinnenden Untersuchung die implizit in der aktuellen EKD-Friedensdenkschrift (2007) entfaltete Verhältnisbestimmung von Tugend-, Pflichten- und Güterethik nicht aufnimmt. Sie teilt mit ihm das Interesse, keine Verabsolutierung eines Ethiktyps zu vollziehen, sondern eine komplementäre und relationale Konzipierung der Ethik vorzunehmen. Weiterführend zu fragen wäre m. E., ob die entlang des Phänomens »friedensstiftendes Handeln« zu berücksichtigende, d. h. auf dessen Dispositionen, Regeln und Ziele bezogene Trias aus Tugend-, Pflichten- und Güterethik (als Grundformen der Ethik) dem Anliegen M.s nicht noch stärker Rechnung tragen könnte. Ansonsten wird sicherlich der Verdacht schwelen, dass Moral- und Soziallehre hier allein als Tugendethik und dementsprechend konsequent unter diesem expliziten Oberbegriff entfaltet wird. Den Verdacht, nur die subjektiven Voraussetzungen des sittlichen Handelns in den Mittelpunkt rücken zu wollen, hat diese sehr gelungene Untersuchung gewiss nicht verdient. Ihm könnte indes noch effektiver entgegengetreten werden.