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Ausgabe: | Dezember/2016 |
Spalte: | 1391–1392 |
Kategorie: | Dogmen- und Theologiegeschichte |
Autor/Hrsg.: | Lopes Pereira, Jairzinho |
Titel/Untertitel: | Augustine of Hippo and Martin Luther on Original Sin and Justification of the Sinner. With a Foreword by R. Saarinen. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 505 S. = Refo500 Academic Studies, 15. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-55063-2. |
Rezensent: | Martin Ohst |
Der römisch-katholische Brasilianer Jairzinho Lopes Pereira verfasst in Belgien eine Dissertation über Augustin und Luther. In Finnland wird sie betreut und angenommen, und ein traditionell renommierter deutscher Verlag druckt sie in englischer Sprache. Mehr Globalisierung, mehr Ökumene geht wohl kaum. Und nach den gegenwärtig gültigen Erwartungsschemata muss dabei doch eigentlich Innovation herauskommen – zumal angesichts eines beeindruckenden, fast schon beängstigenden Arbeitsprogramms.
Der erste Hauptteil traktiert »Original sin and the development of Saint Augustine’s theology«, und zwar in vier Schritten: Zunächst wird das Verhältnis von Sünde und Menschennatur erörtert, daraufhin wendet sich die Untersuchung der Bedeutung der Sündenlehre für Augustins Lehre von der Erlösung zu, und nach einer Darstellung der Erbsündenlehre in Augustins Auseinandersetzung mit Julian von Aeclanum fasst ein Abschnitt über Gnade, Glaube und Verdienst in Augustins Rechtfertigungstheorie die Ergebnisse zusammen. Der zweite, Luther gewidmete Hauptteil ist umfangreicher und feiner aufgegliedert. Im Zentrum der Erörterung stehen jeweils Luthers Niederschriften zur Röm-Vorlesung (1515/16), wobei der Vf. auch auf die 1. Psalmenvorlesung zurückgreift und vielfach spätere Schriften bis zu den Opp. in Psalmos und zum Kleinen Gal-Kommentar einbezieht. Nach einem einleitenden Abschnitt über »Augustine in the context of Luther’s call for reformation of the doctrine of the church« werden die folgenden Themen traktiert: Gebrauch und Interpretation der antipelagianischen Arbeiten Augustins, Rechtfertigung und Glaube, der Mensch als Sünder und Gerechter, Bekenntnis und Demut in Luthers Rechtfertigungsverständnis, Gesetz und Evangelium.
Nun birgt allerdings der Versuch des Vergleichs zweier solcher intellektueller Gebirgsmassive seine ganz eigenen Probleme: Zwischen Augustin und Luther liegt ja ein Jahrtausend Frömmigkeits-, Geistes- und Theologiegeschichte, deren unerschöpflicher Reichtum sich füglich als Reihe von Fußnoten zu Augustin bezeichnen ließe, wobei deren Urheber jeweils im lebendigen Austausch miteinander und mit dem großen Impulsgeber und Meisterdenker ihre ganz eigenen Absichten verfolgt haben. Darum ist es ja seit der großen Blüteperiode deutscher protestantischer Dogmengeschichtsschreibung üblich geworden, derartige Vergleiche lediglich im Modus der exemplarischen Rekapitulation des Weges von Augustin zu Luther anzustellen – man denke etwa an Meisterwerke wie Jörg Baurs »Salus Christiana« (1968) und Berndt Hamms Erstling über »Promissio, Pactum, Ordinatio« (1977) – Arbeiten, die der Vf. allerdings ebenso wenig kennt wie Holls Pionierstudie über Luthers Römerbriefvorlesung oder die Arbeiten von Reinhard Schwarz zum jungen Luther. Der direkte Vergleich, den der Vf. unternimmt, verzichtet auf diesen ebenso mühevollen wie erkenntnisträchtigen Untersuchungsgang. Stattdessen dekontextualisiert er Augustin und Luther und loziert sie gleichsam in einer Versuchsanordnung der künstlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Man mag gegen meine Kritik einwenden, dass der Vf. doch immer wieder darauf hinweise, wie angelegentlich Luther sich in seinem Kampf gegen die Schultheologie seiner Zeit als Fortsetzer von Augustins Kampf gegen Pelagius und seine Anhänger stilisiere. Aber diese Horizontverschmelzung kann man doch nicht einfachhin als stabile Voraussetzung der Rekonstruktion in Anspruch nehmen, sondern man muss sie auf die in ihr waltende Argumentationsstrategie hin prüfen. Und dann lässt sich genau unterscheiden zwischen der Lebens- und Kampfsituation des nordafrikanischen Bischofs, der in einer Welt rapiden politisch-kulturellen Zerfalls die katholische Kirche als dynamische Gestaltungs- und Erziehungsmacht formte, und der des Augustinermönchs, der alle Höhen und Abgründe spätmittelalterlicher Bußfrömmigkeit durchschritten und durchlitten hatte, und dem nun die Schriften des Kirchenvaters zur nach Paulus wichtigsten Bezugsgröße bei der Formulierung seiner eigenen schöpferischen Gedanken wurden.
Im Grunde gibt die Untersuchung des Vf.s selbst diesem Einwand Recht, und das bezeugt wider Willen ihre von mir oben nachgezeichnete Makrostruktur. Es ist dem Vf. nicht einmal ansatzweise gelungen, Luthers Gedankenbildung Zug um Zug auf die Augustins zu beziehen. Die von ihm solchermaßen implizit konzedierte Tatsache, dass hier aus ganz unterschiedlichen Problemstellungen und Anforderungen heraus ganz unterschiedlich strukturierte Gedankengefüge entworfen worden sind, hat ihn nun aber nicht veranlasst, sich ein tertium comparationis zu suchen oder zu konstruieren. Dessen Funktion muss die mit leitmotivischer Persistenz wiederholte These erfüllen: »In light of these soteriological and anthropological insights, [it; M. O.] is not difficult to understand Luther’s proximity to the anti-Pelagian Augustine. The affin-ity between the two theologians is much stronger than admitted in modern scholarship« (469). Ein Blick auf Luthers Ausführungen zu Themen wie Sünde, Willensfreiheit, Rechtfertigung und Prädes-tination zeige, »that the Lutheran Reformation was or, at least, started as a conscious and deliberate attempt to return to a ge-nuine Augustinianism« (ibd). Dieser These werden die Textbefunde ein- und untergeordnet – aber doch nicht so rigoros, dass die Fragwürdigkeit des ganzen Unternehmens verborgen zu bleiben vermöchte. Das wird exemplarisch deutlich, wenn man die Abschnitte über den Glaubensbegriff vergleicht. Auch wenn der Augustin gewidmete Passus (232–243) nicht hinreichend deutlich macht, dass der Glaubensbegriff bei Augustin noch ganz andere Haftpunkte und Bezüge hat als die Justifikationstheorie, und wenn die zentrale Frage ungestellt bleibt, was denn eigentlich der Glaube nach Augustin »glaubt«, wird doch so viel deutlich: Der Glaube rechtfertigt nach Augustin, weil und sofern er als das verdienstliche Werk des Menschen par excellence an der Spitze aller weiteren steht, und zwar genau deshalb, weil der Glaube, wie alle verdienstlichen Werke, von der göttlichen Gnade, welche den Willen freisetzt, verursacht und zugleich vom befreiten menschlichen Willen vollbracht wird: Nostra merita – Dei munera! Der entsprechende Abschnitt des Luther-Teils (351–356) konstatiert, der Glaube gewähre dem »believer […] a true union with Christ, […] an ontolo-gical communion with the divine nature« (351). Unbeschadet der Frage, ob sein letzter Teil außerhalb Finnlands konsensfähig ist, steht der ganze Satz jedenfalls in krassem Widerspruch zu der Behauptung, dieser »approach« sei »fully Augustinian« (ebd.)! Sicher, auch Augustin kann, der Mystik eines Bernhard präludierend, von der Verheißung einer Gemeinschaft mit der göttlichen Natur reden. Aber die ist einer Etappe des Heilsweges vorbehalten, die weit jenseits derjenigen liegt, auf welcher es der Glaube mit dem inkarnierten Logos zu tun hat. Augustins Glaubensbegriff und seine Justifikationstheorie insgesamt stehen eben doch ganz eindeutig am Anfang derjenigen frömmigkeits- und theologiegeschichtlichen Entwicklungsreihe, die zur spätmittelalterlichen Bußfrömmigkeit geführt hat. Und indem Luther diese in ihrer mönchisch-elitären Zuspitzung von innen heraus überwand, ist er nicht etwa an den Anfang dieser Entwicklungsreihe zurückgekehrt, sondern hat eine neue begonnen. Und als er das tat, da haben ihm selektiv angeeignete augustinische Gedanken und Gedankenverbindungen bei der Klärung und Ausformulierung seiner eigenen Einsichten gedient. Gerade eine unbefangene Lektüre der Notate zur Röm-Vorlesung zeigt auf Schritt und Tritt, dass unter der Oberfläche der selbstverständlichen Papst- und Kirchentreue des Bettelordenstheologen sich schon die Differenzen zu Augustin in der Ekklesiologie und der Sakramentenlehre, die auch der Vf. einräumt (vgl. 475), vorbereiten – und zwar genau im Zentrum der Rechtfertigungslehre, wo ein ganz neues Gesamtbild von Gott, seinem Willen und seinem Wirken am Menschen Gestalt gewinnt.
So bietet dieses Buch keine Innovation, sondern lediglich den überzeugungsstarken, aber argumentationsschwachen Appell zur Regression – auf eine Betrachtungsweise, die im Grunde seit Alb-recht Ritschl und Hermann Reuter überwunden ist.