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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

677-679

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Grössl, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Freiheit des Menschen als Risiko Gottes. Der Offene Theismus als Konzeption der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und göttlicher Allwissenheit.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2015. 335 S. m. Abb. = Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie, 3. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-402-11893-1.

Rezensent:

Klaus E. Müller

Dass sich der klassische Theismus mit seiner Rede von einem personalen, frei die Welt schaffenden und in sie intervenierenden, mit Providenz, Allmacht und Allwissen ausgestatteten Gott in einer abgründigen Krise befindet, ist schon länger bekannt. Die Wissensdispositive der Spätmoderne und die von ihnen freigesetzten theologiekritischen Fragen lassen ein solches Gottesbild als ein so supranaturalistisch wie mythisch-unaufgeklärtes Relikt längst vergangener Epochen erscheinen. Die einschlägigen Argumente sind gravierend. Wer angesichts dieses Befundes keinen radikalen Schnitt setzen möchte und etwa in Richtung panentheistischer Konzeptionen aufbricht, die vielen der im Raum stehenden Anfragen Paroli zu bieten vermöchten, sucht sich in Nischen zu retten, die vorderhand angetan scheinen, Essentials der eigenen Tradition und Überzeugung zu retten. So kommt es, dass sich jetzt auch katholische Theologen in die Arme einer theologischen Denkform ursprünglich primär methodistischer Provenienz flüchten: den »Open theism«. Johannes Grössl kommt das Verdienst zu, in seiner Studie außerordentlich wohlwollend und differenziert das Areal dieses Ansatzes vorzustellen, seine Potentiale auszuloten, auf In­konsistenzen hinzuweisen und unabgegoltene theoretische Überhänge auf den Punkt zu bringen.
Das geschieht in einer klaren siebenteiligen Schrittfolge: Zu­nächst werden das leitende Anliegen des Offenen Theismus – das Verhältnis von Freiheit (des Menschen) und Liebe Gottes (Kapitel 1; 13–32) sowie die Ursprungskontexte dieses Ansatzes in der unitarischen, arminianischen und methodistischen Theologie inklusive seiner Nähe und Abgrenzung zur Prozesstheologie benannt (Kapitel 2; 33–45). Dem folgen umfängliche Überlegungen zum Problem menschlicher Willensfreiheit vor allem auch im Blick auf den Begriff des Glaubens und den der Prädestination (Kapitel 3; 47–70). Damit ist der Boden für die zentrale Fragestellung der Arbeit bereitet: Wie denn das Verhältnis von Freiheit und Allwissenheit näherhin zu bestimmen sei (Kapitel 4, 71–136) und welche theologischen und metaphysischen Implikationen ins Spiel kommen, wenn an einem starken Begriff menschlicher Freiheit festgehalten wird (Kapitel 5, 137–178). Eine konsistente Bestimmung dieses Verhältnisses ist nach Überzeugung vieler einschlägiger Autoren (und des Vf.s) nur möglich, wenn Schöpfung als ein Risiko Gottes gedacht wird (von »Weltabenteuer Gottes« wird gelegentlich im Umkreis einschlägiger Überlegungen von Hans Jonas gesprochen, der allerdings in der Arbeit nicht erwähnt wird) (Kapitel 6; 179–264). Dass des Vf.s persönliche Sympathie dabei durchgehend dem behandelten Ansatz gilt, macht das Kapitel 7 (vgl. 265–300) klar, in dem er den Offenen Theismus der traditionellen katholischen Lehre konfrontiert, um Ersteren über die seiner Ansicht nach gegebenen hermeneutischen Spielräume der katholischen Lehrtradition als eine auch katholischerseits zumindest im Kern akzeptable Position zur Geltung bringen (mit der Pointe, dass er das wesentlich mit Rekurs auf die Katholische Dogmatik von Gerhard Ludwig Müller – dem derzeitigen Präfekten der Römischen Glaubenskongregation – tun muss, der sich als einer der wenigen Autoren der letzten Zeit zum Thema »Eigenschaften Gottes« ausgelassen hat, um aber zugleich aufzudecken, wie wenig plausibel sich dessen Überlegungen ausnehmen).
Die ganze Untersuchung hängt der Vf. sehr geschickt dabei in ein konzeptionelles Gerüst ein, das über fünf Stellschrauben jus­tiert wird: Es sind die Begriffe der Freiheit, des Syndroms von Allmacht, Allwissenheit und Vorsehung, des Begriffs der Liebe, der Zeitlichkeit und des Handelns. Den heißen Kern bildet dabei natürlich das Doppel von Freiheit und Allwissenheit. Wann immer Freiheit als menschliche Freiheit ernst genommen wird, kann es weder einen philosophischen noch einen theologischen Kompatibilismus geben. Nur über eine wie auch immer genau zu fassende Zeitlichkeit Gottes (vgl. 137) lassen sich beide Dimensionen miteinander vermitteln, indem sie in eine Risikotheorie des Schöpfungsgeschehens eingebettet werden. Nur unter diesem Label lassen sich der Gedanke einer Vorsehung Gottes und die moralische Verantwortung endlicher Agenten zusammenführen. Das alles steht unter der Prämisse: »Wenn […] das Geschenk der Freiheit an den Menschen logisch notwendigerweise mit sich bringt, dass Gott in die freien Entscheidungen der Menschen nicht eingreifen kann, und es außerdem im Widerspruch zu seiner Natur steht, die einmal geschenkte Freiheit wieder zurückzunehmen, dann schränkt Gott im Erschaffen von freien Wesen nicht seine Allmacht ein.« (198) Die transzendental fundierte Freiheitstheologie Th. Pröppers, die für diese Fragen ausgesprochen einschlägig wäre und die der Vf. ausweislich der Bibliographie wahrgenommen hat, sowie die ebenfalls in diesem Kontext einschlägige Zimzum-Lehre der Kabbala bringt der Vf. an dieser Stelle nicht ins Spiel. Summa summarum kommt der Vf. in dieser Risiko-Frage zu einem bedingt stabilen Resultat: »Der Offene Theist kann nicht plausibel begründen, wie Gott das primäre Schöpfungsrisiko ausschließen kann. Wenn Gott Menschen einen freien Willen gibt, muss er zum Zeitpunkt der Schöpfung im Kauf nehmen, dass sich möglicherweise alle seine Ge­schöpfe gegen ihn entscheiden, und somit die Schöpfung scheitert. Da aber Gott aus der Sicht des Offenen Theismus diese Möglichkeit von Anfang an kennt und sie als notwendigen Begleitumstand der Ermöglichung einer Beziehung von Gott und Mensch akzeptiert, bleibt trotz dieses Risikos Gottes Souveränität gewahrt.« (218)
Den argumentativen Aufwand, den die Open Theists betreiben, ist beträchtlich. Der Vf. teilt ihn über weite Strecken affirmativ, verschweigt aber nicht, dass und wie oft diese Strategie auf dünnes Eis gerät (vgl. etwa 238). Über weite Strecken wirken die Überlegungen des Offenen Theismus wie eine »vierte« Scholastik (nach der klassischen Scholastik, der Barockscholastik und der Neoscholastik), die sich aus dem Repertoire der analytischen Philosophie speist und auf diesem Weg in den Bereich von Spekulation gerät, die sich kaum mehr lebensweltlich geschweige denn homiletisch rückverankern lassen. Das größte Problem scheint mir darin zu liegen, dass der Open Theism dem schlechthin basalen Problem der Krise gegenwärtiger Gottesrede dogmatisch-dekretorisch aus dem Weg geht, dies freilich mit der erklärten Intention größerer Nähe systematischer Gotteslehre zu biblischen Traditionen – vielleicht sogar vor sich selbst? – camoufliert (vgl. 14–17). Der Vf. bringt das lapidar auf den Punkt mit dem Satz: »Für Offene Theisten ist die univoke (Herv. K. M.) Zuschreibung von Personalität zentral.« (280) Exakt hier scheint mir auch – gegen den Vf. – die entscheidende Achillesferse des Open Theism gegenüber der katholischen Lehrtradition zu liegen, die immer wusste, dass eine Person christologisch und nochmals ganz anders auch trinitätstheologisch auf hochgradige Weise analog in Gebrauch genommen wird. Zugleich bricht hier wieder einmal das seit Jahrzehnten ungelöste hermeneutische Problem durch, das – ausgerechnet – der Erz-Atheist Richard Dawkins einmal auf die Formel brachte, christliche Theologien zögen die Demarkationslinie zwischen literaler und allegorisch-metaphorischer Schriftauslegung im moralischen Blindflug.
Das Verdienst der Arbeit des Vf.s besteht darin, klar und unprätentiös in eine primär im angelsächsischen Bereich angesiedelte Debatte einzuführen. Eher untergründige Verbindungslinien zu Hans Urs von Balthasar und der Innsbrucker Schule der »Dramatischen Theologie« werden kurz gestreift (vgl. 302 f.). Ob eine – wenn auch vorsichtige – Umleitung katholischen Gottdenkens in Richtung evangelikaler Ansätze in Sachen Gottesfrage bestehende Blo-ckaden aufzulösen und die Standards der von Theologie zu erwartenden intellektuellen Redlichkeit zu erreichen vermag, bleibt eher fraglich.