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Ausgabe: | Mai/2016 |
Spalte: | 481-486 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Klaiber, Walter |
Titel/Untertitel: | Das Matthäusevangelium. Teilbd. 1: Mt 1,1–16,20. |
Verlag: | Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2015. 333 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-7887-2894-6. |
Rezensent: | Roland Deines |
Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:
Klaiber, Walter: Das Matthäusevangelium. Teilbd. 2: Mt 16,21–28,20. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2015. 326 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-7887-2928-8.
Konradt, Matthias: Das Evangelium nach Matthäus. Neubearbeitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. XVI, 507 S. = Das Neue Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk. Neubearbeitungen, 1. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-525-51341-5.
Kurz hintereinander sind diese beiden neuen Matthäus-Kommentare erschienen, die ein breiteres Lesepublikum im Auge haben und darum bemüht sind, die Ergebnisse der internationalen Matthäus-Forschung allgemeinverständlich zugänglich zu machen. Das ist, in ganz unterschiedlicher Weise, beiden Verfassern in bemerkenswerter Weise gelungen. Beide Auslegungen zeichnen sich durch gute Lesbarkeit und teilweise sehr gelungene Formulierungen aus, wobei das pädagogische Anliegen bei Klaiber, auch in der graphischen Gestaltung der Bände, noch stärker zum Ausdruck kommt als bei Konradt.
In Bezug auf die üblichen Einleitungsfragen gilt für beide, dass sie ohne nennenswerte Diskussion dem (deutschsprachigen) Konsens folgen: Ein unbekannter Verfasser judenchristlicher Herkunft (nicht der Apostel und Zöllner Matthäus), der nach 80 schreibt, möglicherweise schriftgelehrte Bildung besitzt und Markus sowie Q als Vorlagen besitzt, aber judenchristlicher Tradition näher steht als seine Quellen. Matthäus reflektiert die »Jesusgeschichte im Horizont der Schrift« und stellt »die christusgläubige Gemeinde« als »die wahre Sachverwalterin der theologischen Traditionen Israels« dar (Konradt, 1 f.). Zudem geht Konradt von einer markuskritischen Position des Matthäus aus: Er wollte dieses Evangelium »verdrängen, weil er es für ungeeignet hielt, um in seinen Gemeinden benutzt zu werden« (21), was natürlich die Frage weckt, warum er es dann überhaupt so prominent recycelt (das Verhältnis zu Q ist weniger kritisch). Als theologisch korrekturbedürftig sieht er die mk Christologie (Fehlen der davidischen Elemente), das Toraverständnis und das Bild der Jünger (21).
Klaiber und Konradt gehen beide davon aus, dass die mt Gemeinden noch den Sabbat feierten und die Speisegebote hielten (s. die jeweiligen Auslegungen zu Mt 15,1 ff.; 23,23; 24,20). Auch wenn sie »gegenüber den sozialethischen Geboten deutlich abgewertete« sind, redet Matthäus doch »keiner prinzipiellen Außerkraftsetzung dieser Gebote das Wort« (Konradt, 18). In dieser Weise formuliert wird kaum jemand widersprechen, wobei jedoch zu bedenken ist, dass »prinzipielle[] Außerkraftsetzung« keine adäquate Beschreibung für die Position ist, die Matthäus stärker von der heilsgeschichtlichen Erfüllung von Tora und Propheten im Wirken Jesu beeinflusst sieht. Weitere Gemeinsamkeiten sind die relativ kurzen, aber sehr hilfreichen Zusammenfassungen der mt Botschaft: Bei Konradt zu Beginn (5–17: »Grundlinien der mt Theologie«), bei Klaiber am Ende des zweiten Bandes (294–316: »Die Botschaft des Matthäus – eine Zusammenfassung«). Hervorragend ist dabei Konradts prägnante Skizze über den »Messias als David- und Gottessohn« (5–11). Hier zeigt er, wie der Evangelist die alttestamentlichen Verheißungen in ihrem Verhältnis zueinander umkehrt, indem der »nach Mt 1 […] aus dem Heiligen Geist gezeugte Gottessohn […] in die davidische Linie eingegliedert« wird, so dass »die Gottessohnschaft […] als das übergreifende christologische Prädikat« erscheint (8). Wer immer die Kommentare benützt, sollte sich diese Orientierung nicht entgehen lassen. Überhaupt ist es erfreulich, dass beide Autoren der mt Christologie sehr große Aufmerksamkeit schenken und sie zum Leitthema machen, von der aus dann das Verhältnis zu Israel und den Völkern entfaltet wird. Kein besonderes Gewicht wird dagegen auf Gliederungsmerkmale und literaturwissenschaftliche Analysen gelegt; die jeweiligen Abschnitte hierzu sind knapp und folgen der konventionellen Einteilung mit Mt 4,17–25,45 als dem Innenteil, der nahezu gleichförmig in vier (Konradt: 4,17–11,1; 11,2–16,20; 16,21–20,34; 21,1–25,46) bzw. fünf (Klaiber: 4,17–9,34; 9,35–11,30; 12,1–16,20; 16,21–20,34; 21,1–25,46) Unterabschnitte gegliedert wird, wobei für beide 16,21 die wichtigste Zäsur darstellt. Gemeinsam sind weiter die äußerste Zurückhaltung im Umgang mit Literatur und abweichenden Positionen sowie der Verzicht auf Fußnoten.
Die jeweiligen Literaturverzeichnisse sind angesichts der Literaturflut zum ersten Evangelium stark reduziert, vier Seiten bei Konradt und jeweils zwei Seiten (mit Überschneidungen) in den beiden Bänden von Klaiber (wobei besonders die Titel unter »Sonstige zitierte Literatur« eher zufällig wirken). Aber auch diese Beschränkung tut dem positiven Gesamtcharakter keinen Abbruch. Klaibers Absicht ist es nicht (so zumindest der Eindruck des Rezensenten), einen genuinen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion zu leisten, sondern wissenschaftliche Ergebnisse für ein weiteres Publikum zugänglich zu machen. Im Fall von Matthias Konradt, dessen Kommentar das Ergebnis von über 20 Jahren kontinuierlicher wissenschaftlicher Arbeit an diesem Evangelium ist, findet der interessierte Leser die Begründungen für die historischen und theologischen Entscheidungen sowie die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur in seiner Monographie »Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium« (WUNT 215, Tübingen 2007, seit 2014 auch auf Englisch erhältlich) sowie den zahlreichen einschlägigen Aufsätzen des Verfassers, die nun ebenfalls gesammelt vorliegen (Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016). Sein Kommentar macht Appetit, sich mit diesen vertiefenden Arbeiten zu befassen – sowohl in den Punkten, wo man sich dem Verfasser gerne anschließt, als auch da, wo man meint, anderer Meinung sein zu müssen.
Trotz dieser weitgehenden Übereinstimmung in den großen Linien lassen sich beide Kommentare nebeneinander mit Gewinn nutzen, weil jeder auch seinen ganz eigenen Schwerpunkt setzt.
Klaibers Kommentar wendet sich erkennbar an die Gemeinde. Er vermittelt in klarer Sprache eine sachgerechte, informierte Auslegung des Matthäus-Evangeliums, der man ohne theologische Vorkenntnisse zu folgen vermag. Die gesamtbiblische Verankerung (Verweise auf das Alte und andere Teile des Neuen Testaments, aber auch auf die frühjüdische Literatur) wird breit her-ausgestellt, auf synoptische Parallelen und eine mögliche Traditionsgeschichte der einzelnen Abschnitte und Worte Jesu wird hingewiesen. Fragen bzgl. der Echtheit von Jesusworten sowie der Historizität des Berichteten werden aufgegriffen (z. B. Bd. 1, 115. 118.149), aber vielfach in der Schwebe gelassen. Auffällig ist, besonders im Unterschied zu Konradt, dass in Klaibers Kommentar Jesus häufig das Subjekt der Sätze ist: Er will, er tut, er lädt ein etc. Daran kommt doch wohl die Haltung des Verfassers zum Ausdruck, der im ersten Evangelium eine zuverlässige Interpretation des Wirkens und Wollens von Jesus sieht, auch wenn ausdrücklich dazu nicht Stellung genommen wird (vgl. lediglich die kurze Bemerkung Bd. 1, 16). Auf sprachliche Details wird insoweit eingegangen, als regelmäßig verschiedene deutschsprachige Bibelübersetzungen verglichen und deren Entscheidungen für eine bestimmte Übersetzung durch die Auslegung erklärt werden. Auf Debatten innerhalb der Matthäusforschung wird verwiesen, wobei die in der Forschung diskutierten Auslegungen meist auf zwei oder drei Grundpositionen reduziert werden. Seine eigene Haltung dazu lässt sich wohl am ehesten als wohlwollendes Abwägen beschreiben, ohne sich in strittigen Fragen allzu sehr festzulegen. Klaiber betont einerseits sehr stark das ethische Anliegen des ersten Evangeliums (darin Konradt nahe verwandt), daneben aber auch die Gerechtigkeit Gottes als Voraussetzung, die es den an Jesus Gläubigen überhaupt erst erlaubt, diese »Gabe Gottes« als ihre »Aufgabe« anzunehmen (Bd. 1, 101). Besonders in Mt 5,6 und 6,33 sieht Klaiber Gerechtigkeit als »auf Gottes Heilshandeln« bezogen (57, vgl. auch Bd. 2, 305), das im Kreuz kulminiert und damit Anknüpfungspunkte zum paulinischen Gerechtigkeitsverständnis besitzt (vgl. Bd. 1, 91 f.; zu weiteren paulinischen Übereinstimmungen s. z. B. Bd. 1, 150.152.235; zusammenfassend Bd. 2, 312 f.).
Der methodistische Hintergrund des Verfassers (Klaiber war von 1989–2005 Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland und lehrte von 1971–1989 als Dozent für Neues Testament an deren Seminar in Reutlingen) wird deutlich, wenn John Wesleys Verständnis der Bergpredigt als das gewürdigt wird, das »am besten die Intention des Matthäus« trifft (Bd. 1, 155). An historischen Fragen ist Klaiber nur am Rande interessiert, obwohl die Leser über historische Sachverhalte etwa in Bezug auf Galiläa zumeist kompetent (in lexikonartigen Kurzartikeln), wenn auch insgesamt sehr knapp informiert werden. Die Informationen in Bezug auf das rabbinische Judentum hinken dem Forschungsstand allerdings hinterher. Von der gegenwärtig überschwappenden Welle von »Empire Studies«, welche die Evangelien in erster Linie als Reaktion auf den römischen Imperialismus im Osten des Reiches sehen möchten, bleibt er – wie auch Konradt – wohltuend unberührt. Auch andere Methoden, die mehr zeitgenössischen als antiken Problemstellungen verpflichtet sind, spielen keine Rolle. Der Kommentar ist geprägt davon, dass – Eduard Schweizer zitierend – »die entscheidende Not des Menschen darin besteht, daß er von Gott geschieden ist« (29, zu Mt 1,21). Neben dem Interesse an Fragen der individuellen Soteriologie ist die Betonung der universalen Perspektive des MtEv über Israel hinaus ein weiteres Kennzeichen von Klaibers Auslegung (vgl. Bd. 2, 290, und die Auslegung zu den dort genannten Stellen). Gegen eine Abschwächung des Missionsbefehls im Sinne einer bloßen Einladung an alle Völker mitzulernen, ohne selbst Christen zu werden, betont er, dass es Matthäus darum geht, dass Menschen durch die Taufe in die Gemeinschaft derer aufgenommen werden, »die Jesus nachfolgen« (Bd. 2, 289). Dabei gilt für Matthäus wie für Paulus: Die Botschaft der Vergebung der Sünden gilt Israel zuerst (und dauerhaft) und dann auch allen Völkern (Bd. 2, 290, so auch Konradt, 462 f.). Die Frage nach den ursprünglichen Adressaten bleibt bei Klaiber ungeklärt; Konradt sieht den Adressatenkreis des Evangeliums, wobei er an einen Verbund mehrerer Hausgemeinden denkt, in Syrien bzw. dem Grenzland zwischen Galiläa und Syrien, wo »das Judentum den primären Lebenskontext der mt Gemeinde bildet« (19). Er geht weiter davon aus, dass sich Matthäus, der »eindeutig als Befürworter der Völkermission hervortritt«, mit (judenchristlichen) »Ressentiments gegen die Völkermission auseinanderzusetzen hatte« (18).
Ein Charakteristikum der Reihe, in der Klaibers Kommentar erschienen ist (die auch von ihm herausgegeben wird), sind die im Anschluss an die eigentlich exegetische Auslegung grau unterlegten Textteile: Darin werden Fragen aufgenommen, wie sie in Gemeindebibelkreisen, Hauskreisen und ähnlichen Veranstaltungen gestellt werden, bei denen biblische Texte gemeinsam gelesen werden (Historizität des Berichteten; Bedeutung für gegenwärtige christliche Existenz; Anstößiges für moderne Leserinnen und Leser). Hier wird der Ausleger durchaus konkret, von Vorschlägen zur Änderung des Vaterunser-Wortlauts in der Liturgie (Bd. 1, 130) bis zur Warnung vor dem »Turbokapitalismus« (Bd. 1, 136). »Sich ganz auf Gott ausrichten« – das wird von Klaiber als Hauptanliegen des Matthäus immer wieder herausgestellt, und es gibt wohl auch das Anliegen des Kommentierenden wieder (z. B. Bd. 1, 139, vgl. außerdem Bd. 2, 314–316: »Matthäus und wir«). Das ist es auch, was den Kommentar neben dem Bereich der Gemeindepädagogik und des Oberstufen-Religionsunterrichts auch in besonderer Weise als Begleiter zur persönlichen geistlichen Schriftlektüre geeignet macht.
Die Bände der NTD-Reihe gehören zu den Kommentaren, die noch am ehesten den Weg in die pfarramtlichen Studierzimmer finden, da die durchschnittlich zwei bis drei Seiten für eine Perikope auch von zeitlich stark beanspruchten Predigern bewältigt werden können. Umso erfreulicher ist, dass es den Herausgebern der Reihe gelungen ist, mit dem Heidelberger Neutestamentler Matthias Konradt den derzeit wohl wichtigsten deutschsprachigen Matthäus-Exegeten für diese Aufgabe zu gewinnen. Konradt gelingt es mit diesem Kommentar, das Ergebnis seiner langjährigen Forschungsarbeit zum ersten Evangelium in mustergültiger Klarheit und Knappheit darzubieten. Die Sprache ist unprätentiös, und die Auslegungen enthalten zahlreiche gelungene Wendungen. Griechischkenntnisse sind für die Lektüre nicht notwendig, auch wenn der Kommentar aufgrund des griechischen Textes erarbeitet wurde. Die Übersetzung ist dicht am Original und verzichtet auf Modernismen (das gilt im Übrigen auch für Klaiber, der ebenfalls eine eigene Übersetzung bietet). Die Lutherübersetzung steht sprachbildend im Hintergrund und wird nicht ängstlich vermieden, was den Weg zur Predigt erleichtert. Sie wird aber da korrigiert, wo sie eine vom Grundtext her nicht gebotene (oft antijudais-tische) Verschärfung besitzt, wie etwa in Mt 12,7.37 (»verurteilen« statt »verdammen« für καταδικάζω) oder in 2,13; 12,14 (»vernichten« statt »umbringen« für ἀπόλλυμι); in 12,41 f. bleibt es allerdings wenig glücklich beim »verdammen« für κατακρίνω, obwohl hier wie in 20,18; 27,3 »verurteilen« angemessener wäre. Ansonsten vermeidet es Konradt, die anstößigen Stellen des Evangelisten exegetisch abzumildern: Zum Ehescheidungsverbot 5,31 f. wird festgehalten, dass »außer im Fall von Unzucht« die »Option von Scheidung und Wiederheirat […] kategorisch verneint wird« (90). Was »Unzucht« hier meint, wird nicht eigens erklärt, und auch kein Versuch unternommen, aus pastoraltheologischen Motiven diese kategorische Verneinung abzumildern (daran wird der Unterschied zu Klaiber deutlich, vgl. Bd. 1, 108 f., wo als letzter Satz zur Sache steht, dass »die Gnade eines neuen Anfangs […] niemand verweigert werden« sollte). Auch bei den harten Anklagen gegen die Pharisäer lässt Konradt keinen Spielraum: »Die Worte der Pharisäer sind für Matthäus authentischer Ausdruck ihrer von Boshaftigkeit geprägten Herzensorientierung« (202). Auch in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit Klaiber aufschlussreich, wie besonders die jeweilige Auslegung von Mt 23,1–39 zeigt. Für Konradt ist in diesem Kapitel – wenn ich recht gesehen habe – bis auf eine Ausnahme immer Matthäus das Subjekt der Sätze, und das kennzeichnet seinen Kommentar insgesamt. Es geht ihm nicht darum, was Jesus gesagt oder getan hat, sondern was Matthäus beschreibt. Herkunftsfragen von Jesusworten und -traditionen werden zwar einleitend in die Perikopen knapp behandelt, aber insgesamt ist wenig Interesse daran zu erkennen. Auch Fragen nach der Historizität des Berichteten spielen keine Rolle, wie überhaupt die außertextliche Wirklichkeit (z. B. Archäologie, historische Geographie). Daraus resultiert die große Geschlossenheit dieses Kommentars, der nicht wie viele andere Evangelienkommentare damit kämpft, die Kluft zwischen dem historischen Jesus (wie ihn der Kommentarschreiber als historisch plausibel rekonstruiert) und dem Jesus des jeweiligen Evangelisten irgendwie zu erklären. Es geht bei Konradt um Matthäus, um sein Bild von Jesus, um sein Bild des zeitgenössischen Judentums, um seine Vorstellung, wie christliche Gemeinde im Innern und Christsein in der Öffentlichkeit auszusehen hat. Konradt verwendet einigermaßen überraschend für die mt Adressatensituation die Bezeichnungen Christen, Christentum, christlich ohne Qualifikation (vgl. etwa zu Mt 5,14–16: »Christlichem Lebenswandel wird damit eine quasi missionarische Bedeutung zugemessen«, 73). Das setzt in gewisser Weise eine spätere Perspektive aus dem 2. oder 3. Jh. voraus und steht in Spannung zu dem von ihm angenommenen historischen Kontext des Matthäus und seiner Gemeinden, in dem es noch keine klar und endgültig definierten Mauern zwischen Judentum und Christentum gab (vgl. 19 f.).
Die Fokussierung auf Matthäus ermöglicht es Konradt zudem, auf theologische Sachkritik völlig zu verzichten, weil es ihm nicht um die heutige Geltung dieses Textes in Kirche und Theologie geht, sondern zunächst ausschließlich um das, was Matthäus über Jesus, seine Anhänger und seine Gegner, berichtet. Die Vermittlungsarbeit hin zur Gegenwartsbedeutung und zur Predigt (oder auch dem eigenen Glauben) bleibt den Lesenden selbst überlassen. Darin ist der Unterschied zu Klaiber wohl am deutlichsten zu erkennen, bei dem die gegenwärtige theologische Verbindlichkeit Teil der Kommentararbeit ist. Die Freiheit, die Konradt seinen Lesern lässt, sich nun mit Matthäus theologisch ins Benehmen zu setzen, hat jedoch etwas Erfrischendes.
Der inhaltliche Schwerpunkt des Kommentars spiegelt besonders die weiteren Forschungsinteressen des Verfassers im Bereich des hellenistischen Frühjudentums und der neutestamentlichen Ethik und ihres jüdischen Kontexts wider. Kompetent und zahlreich sind die Verweise auf frühjüdische Parallelen, dazu wird Wert auf die innerbiblische Traditionsgeschichte gelegt. Hilfreich sind zudem die Bezüge zwischen dem Matthäus-Evangelium und anderen neutestamentlichen Schriften (wobei auch hier die Hinweise auf Paulus erwähnenswert sind). Hervorgehoben zu werden verdient die soteriologische Bedeutung, die Konradt Tod, Auferwe-ckung und Erhöhung Jesu zuschreibt (9). Dieses Heil gilt Israel zuerst (das nicht schon qua Volk im Besitz des Heils ist, vgl. 13), und danach den Völkern. Diese Thematik wird vor allem in den Auslegungen zu Mt 1,21; 20,28 und 26,28 entfaltet. Das steht jedoch in Spannung zu Konradts Auslegung von Mt 25,31–46, bei der er dem neuzeitlichen Verständnis, dass hier das Gericht über alle Menschen einschließlich der Christen beschrieben ist, den Vorzug gibt. Darin sind die »geringsten Brüder« nicht in erster Linie bedrängte Christen, sondern generell alle Bedürftigen. Am ethischen Verhalten zu diesen entscheidet sich demnach das eschatologische Heil. Damit stellt sich die Frage, welche soteriologische Funktion dann der Tod Jesu und die Vergebung der Sünden besitzt, wenn das Heil doch aufgrund der Lebenspraxis gefunden und verloren wird. Klaiber, der hier ebenfalls »alle Notleidenden gleich welcher Herkunft« (Bd. 2, 209) sehen will, lässt immerhin erkennen, dass dies möglicherweise nicht der ursprüngliche Sinn gewesen ist (wobei er in diesem Zusammenhang dazu tendiert, die »Schuld« für diese Einschränkung der mitmenschlichen Solidarität auf Matthäus zu schieben). Christen in Verfolgungssituationen haben möglicherweise einen anderen Zugang zu diesem Text und der Frage, wie wichtig in einer feindlich gesinnten Umwelt Menschen sind, die – obwohl selbst keine Christen – bereit sind, diesen beim Überleben zu helfen. Und auch die Frage innerchristlicher Solidarität wurde möglicherweise zur Zeit des Matthäus und außerhalb von deutschen Studierzimmern mit sozialversicherten Lebensverhältnissen anders bewertet als heute.
Es bleibt am Ende beiden Kommentatoren für ihre Arbeit (und insbesondere ihr Bemühen um Verständlichkeit) zu danken und den Kommentaren weite Verbreitung und intensive Nutzer zu wünschen: im Studierzimmer, in der Schule, in Bibelstunden und auf der Kanzel. Matthäus bleibt auch im 21. Jh. eine Herausfor-derung.