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Ausgabe: | März/2016 |
Spalte: | 260-262 |
Kategorie: | Praktische Theologie |
Autor/Hrsg.: | Fechtner, Kristian |
Titel/Untertitel: | Diskretes Christentum. Religion und Scham. |
Verlag: | Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015. 192 S. Kart. EUR 17,99. ISBN 978-3-579-08146-5. |
Rezensent: | Wilhelm Gräb |
Das volkskirchliche Christentum, das – bei allen zu verzeichnenden Ab- und Umbrüchen – durch ein eigentümlich beharrliches, aber in amtskirchlicher Sicht doch recht sprödes Beteiligungsverhalten gekennzeichnet ist, verlangt der Praktischen Theologie immer wieder neue Erklärungsversuche ab. Kristian Fechtner, Praktischer Theologie in Mainz, der bislang derjenigen Deutung des volkskirchlichen Christentums gefolgt ist, die in ihm die Signaturen einer sich an lebensgeschichtlichen Grenz- und Wendeerfahrungen andockenden Kasualfrömmigkeit ausmacht, und deshalb immer wieder dafür geworben hat, die pastoralpraktischen Chancen zu erkennen, die lebensgeschichtlich veranlasste und familienreligiös qualifizierte Aktivierung der Kirchenzugehörigkeit bietet, setzt in diesem Buch zu einem überraschend neuen Interpreta-tionsversuch an. Er vermutet in der Distanziertheit, die das volkskirchliche Kasualchristentum ausmacht, eine merkwürdige Scheu der Kirche gegenüber – F. sagt nicht, vor dem Heiligen, meint es aber vielleicht doch so – wahrzunehmen; Berührungsängste, die auf ein Schamgefühl zurückgehen, das sich leicht einstelle beim Besuch des Pfarrers oder der Pfarrerin anlässlich eines Kasualgesprächs, bei dem Betreten des gottesdienstlichen Raumes, dem Hören der Predigt, der Feier des Abendmahls, dem Empfang des Segens, in der seelsorgerlichen Begegnung, sogar im Religionsunterricht, also eigentlich immer, wenn es zum persönlichen Kontakt mit »Kirche« kommt.
F. beansprucht eine »schamtheoretische« Interpretation der gegenwärtigen kirchlichen Lage zu geben. Das volkskirchlich praktizierte Christentum möchte er als »verschämtes Christentum« (24–31) verstanden wissen. Dazu versucht F. in Grundzügen zu erklären, was unter »Scham« zu verstehen ist, indem er auf literarische Beschreibungen von Erfahrungen des Sich-Schämens wie auch auf mediengesellschaftliche Phänomene demonstrativ aufgeführter Schamlosigkeit Bezug nimmt (11–24). Bei der Scham handelt es sich, wie F. deutlich macht, um ein leibhaft empfundenes, intersubjektiv ausgelöstes, dennoch unwillkürlich, also unmittelbar am Ort des individuellen Gefühlsbewusstseins sich einstellendes Verhältnis emotionaler Selbstbeziehung. Weitere begriffliche Klärungen werden durch die Bezugnahme auf den in der Philosophie und neuerdings auch in der Theologie neu belebten Gefühlsdiskurs (35–48) vorgenommen. So wird zu Recht hervorgehoben, dass die Gefühlsdimension zum religiösen Glauben konstitutiv hinzugehört. Leider wird dann dieser religiösen Dimension des Gefühls nicht näher nachgegangen, auch nicht der Frage, ob es denn möglicherweise so etwas wie ein spezifisch religiöses Schamgefühl gibt. Bei aller Sorgfalt, die F. auf wenigen Seiten dem Gefühl und dann des Näheren dem Schamgefühl widmet, bleibt eine religionstheoretische Bestimmung der Scham aus. Stattdessen wird der Zusammenhang von Religion und Scham lediglich im Rekurs auf biblische Geschichten erläutert (49–94). Das wird man als einen schwerwiegenden Mangel in einem Buch, das so weitreichende religionskulturpraktische und kirchenstrategische Konsequenzen mit dem Phänomen der Scham verbindet, wie es in seinem Hauptteil, der die wichtigsten praktisch-theologischen Handlungsfelder schamtheoretisch durchleuchtet (95–170), der Fall ist, bezeichnen müssen.
Doch ist die These, wonach das distanzierte Volkskirchentum Ausdruck eines »verschämten Christentums« sei, überhaupt zustimmungsfähig? Als Schlüsselszene zur Plausibilisierung seiner These dient F. die Erzählung von einer Vikarin, die den en passant geäußerten Halbsatz des Taufvaters, »Ich bin ja, offen gestanden, kein Kirchgänger …« als Distanzierung vom Taufbegehren interpretiert. Sie tut dies, obwohl, wie die Vikarin sagt, man zunächst darüber gesprochen hatte, »was sich in der Familie nun verändert hat und auch darüber, wie sich mit einem Kind die Welt und das eigene Leben noch einmal ganz anders darstellen« (25). Im Zusammenhang eines Kasualgesprächs, dem es gelungen ist, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie sich nun, seit das Kind da ist, den Eltern »die Welt und das Leben noch einmal ganz anders darstellen« tritt das Verlangen, ebendiese Erfahrung im Licht der lebensgeschichtlichen Sinngewissheit, die der christliche Glaube zu geben vermag, zur Deutung zu bringen, geradezu unübersehbar hervor. Die distanzierende Äußerung des Taufvaters, kein regelmäßiger Kirchgänger zu sein, würde ich deshalb als an die Vikarin gerichteten Hinweis lesen, in der nur gelegentlichen Teilnahme am gemeindlichen Gottesdienst doch bitte nicht Anzeichen eines nur schwach entwickelten religiösen Interesses erkennen zu wollen. Der Taufvater bekennt sich m. E. zu einem im »eigenen Leben« wichtigen »eigenen Glauben« – für den er die Kirche nicht immer, aber bei einer Gelegenheit wie dieser eben doch braucht. Warum? Weil die Kirche es vermag – hoffentlich hat die Vikarin das erkannt –, die gefühlte Bedeutung des Glaubens und des aus ihm kommenden Sinnvertrauens in Worte zu fassen und in seine allgemein nachvollziehbare und öffentlich kommunizierbare Bedeutung zu heben.
Auch wenn mir die schamtheoretische Deutung des volkskirchlichen Christentums geradezu abwegig erscheint, sehe ich F. mit der Herausarbeitung der emotionalen Dimension des Glaubens insofern durchaus auf dem richtigen Weg. Der gefühlte Glaube bzw. die gefühlsbasierte Grundierung des religiösen Sinnvertrauens gibt diesem zugleich einen vorsprachlichen Charakter. Die vorsprachliche Fassung des religiösen Grundvertrauens steigert jedoch in lebensgeschichtlichen Grenzsituationen das Verlangen nach dessen expliziter, in der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft tradierten und diese erneut festigenden, sprachlichen Deutung. Diesem Deutungsverlangen muss das kirchliche Handeln in Gottesdienst und Predigt, Seelsorge und Unterricht zu entsprechen suchen.
Das schließt nicht aus, dass es in der Teilnahme an den kirchlichen Liturgien zu Fremdheitserfahrungen kommt, die als peinlich empfunden werden und Schamgefühle auslösen können, schlicht weil die Vertrautheit mit ihnen fehlt oder auch weil sie als zudringlich wahrgenommen werden. Wenn das so ist, dann hat pastorale Praxis aber doch das ihr zu Gebote Stehende zu tun, um dem vorzubeugen, statt weiterhin dazu beizutragen, dass die Menschen sich beim Besuch des Pfarrers, der Pfarrerin beschämt fühlen und ein schlechtes Gewissen bekommen. Die Menschen, die den kirchlichen Dienst begehren, zu beschämen, etwa indem ihnen signalisiert wird, dass sie den kirchlichen Normerwartungen nach einem sonntäglichen Gottesdienstbesuch oder nach einem auskunftsfähigen Glauben nicht entsprechen, ist m. E. immer noch eine große Gefahr pastoralen Handelns – und insofern macht dieses hier zu besprechende Buch zu Recht darauf aufmerksam, wie wichtig ein einfühlsames und taktvolles Auftreten der kirchlichen Amtsträger und Amtsträgerinnen ist.