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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

243-245

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt-Biggemann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Geschichte wissen. Eine Philosophie der Kontingenz im Anschluss an Schelling.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2014. 152 S. = problemata, 156. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-7728-2674-0.

Rezensent:

Björn Pecina

Wilhelm Schmidt-Biggemann, dem 2013 der Hamann-Forschungs­preis für seine außergewöhnlichen Leistungen als Philosophiehis­toriker des 18. Jh.s verliehen wurde, ist als Philosoph bekannt, der eine große Aufgeschlossenheit gegenüber den Themen der Theologie kultiviert. Diese Aufgeschlossenheit spürt man auch in der hier anzuzeigenden Veröffentlichung.
Im Ausgang von Schellings positiver Philosophie konzipiert Sch.-B. seine Überlegungen als Philosophie der Kontingenz. Ge­schichte wird damit zu einem Vollzug, der nur im erzählenden Bewältigen von Ereignissen erkennbar werden macht, was das Denken verschleiert – die auf Passivität rechnende Erfahrung des Seins. Mystisches Denken hat hier die einschlägigen Aneignungs-techniken entwickelt. Demgegenüber wird die realitätssetzende Tendenz des Subjekts als Sündenfall der Transzendentalphilosophie ausgemacht. Das Tragische aller Philosophie besteht darin, dass Erkennen ein Sich-Ermächtigen über das Erkannte ist, das nun nicht mehr sich selbst zu zeigen vermag. »Gibt es ein paradoxes Reden, das sich nicht bemächtigt?« (19)
Damit ist zugleich die Frage nach dem Sein vor seinem Erkannt-Sein gestellt. Der differenzlogischen Semantik tritt hier eine andere Semantik gegenüber, die auf Trauer, Angst, Sehnsucht, Hoffnung, Erfahrung, Gefühl und Liebe umstellt, Ausdrucksgebilde also der Erzählung. Nur erzählend nämlich vermag die »Unerreichbarkeit des Indifferenten« (22) in Szene gesetzt zu werden, das unwiederholbar verloren geht im Strom jener Zeit, die doch durch dieses Indifferente konstituiert wird.
Von dieser Exposition des Problems aus steuert Sch.-B. auf Heideggers ›Ereignis‹ zu, das seine Bedeutung erfährt aus dem Sich-zur-Erscheinung-Bringen noch vor seinem Bestimmt-werden-Können. Das ›Seyn‹ Heideggers beerbt die neuplatonische Tradition, an deren Anfang die henologische Unbestimmtheit als einer bestimmten steht. So ist der Vorsprung und die theoretisch unabweisbare Notwendigkeit von Erzählungen auf den Plan gebracht, die das Ereignen sich vollziehen lässt in der Differenz von Ereignis und Benennung, ein Benennen freilich, das – gegen Übermächtigung stehend – im Vorläufigen bleibt.
Erzählt werden muss von jener Vergangenheit, die der Gegenwart in genau der Weise inhärent ist, als wir einer in die Gegenwart drängenden Vergangenheit jene Zukunftshoffnungen entnehmen können, die unseren Ausstand auf Kommendes prägen. Erzählung ist somit »reproduzierende Inszenierung der Zeitlichkeit des Ereignisses selbst« (59). Damit verhält sich Sch.-B. kritisch sowohl gegenüber der Hegelschen Geschichtsphilosophie, weil sie die »objektive Wahrheit […] zum Objekt der Macht des Geistes« (139) wandelt, als auch der Foucaultschen Diskursanalyse, weil diskursanalytisch der etwa in Kunst oder Religion erhobene Anspruch, »es gäbe Rettung vor der Allmacht der Kommunikation« (147), unabgegolten bleiben muss. Als das zentrale wissenschaftliche Instrument, mit dem man die Geschichte als kontingente nacherzählt, macht Sch.-B. demgegenüber die Topik aus, in der Topoi als Sinn-Inseln fungieren, die sich zeigen und doch zugleich intentional erfasst werden müssen.
Hierbei kommt der religiösen Geschichtserzählung eine besondere Bedeutung zu insofern, als das zukunftsbetroffene Moment dieser Erzählung darin besteht, einen »Anspruch auf Referentialität« (116) mit sich zu führen, keinesfalls also fiktiv zu sein. Alle Entlarvungsversuche solcherart führen das hohe Risiko mit sich, diese Referentialitätsansprüche dann nicht noch einmal reflexiv einholen zu können. Wollte man also heilsgeschichtliche Erzählungen als unnütze oder rational dechiffrierbare Fiktionen abtun, so wäre dies mit erheblichen Kosten verbunden, Kosten, die das Subjekt angesichts der Zumutungen universaler Vereinnahmungsproduktivität nur schwerlich wird aufbringen wollen. – Gegen die Kontingenz des Geschichtlichen ist jenes Verhängnis gerichtet, das mit Kontingenznegation dem Kommenden die Offenheit seines Eintretens nimmt. In der tragischen Katastrophe endlich ist der Zu­kunft ihre Hoffnung spendende Qualität geraubt und eine Gegenwart er­zeugt, die den tragischen Helden nur noch zurückblicken lässt.
Aus dem tragischen Dilemma auszusteigen, es ertragend zu kompensieren, gelingt dem Menschen allein in einem konsequenten Abschied von den Selbstermächtigungstendenzen setzender Aktivität. Nur durch die Einkehr in prinzipielle Passivität versteht sich das Subjekt dazu, vom nur zu erhoffenden und – kommend – sich zeigenden Lebensglück alles zu erwarten, indem es somit der untilgbaren Kontingenz wissend Rechnung trägt. »Dieses Erleben ist nicht nur ein Überstehen, sondern ein Neuwerden, ohne die Eigentlichkeit zu verlieren« (136).
Eine große Stärke von Sch.-B. Abhandlung scheint uns darin zu liegen, dass sie theologische Gedankenfiguren aufzunehmen vermag, ohne diese theologisierend der philosophischen Reflexion überzuordnen, und dass zugleich die Reflexivität immer dermaßen selbstkontrolliert verläuft, dass der Überschritt ins Theologische nicht wie eine Metabasis eis allo genos wirkt.
Sch.-B. bedient sich einer sprachlich glanzvollen Wissenschaftsprosa, die niemals ins Verspielte hinübergleitet. Auf den ersten Blick mag es als ein Mangel des Buches erscheinen, dass die Gedankensequenzen der einzelnen Abschnitte und Kapitel nicht immer unmittelbar auseinander hervorgehen. Doch ist dieser Eindruck nur vordergründig. Im Hintergrund obwaltet hier die Kunst großer philosophischer Literatur, den zur Darstellung gebrachten Gegenstand in dieser Darstellung selbst noch einmal zu eskalieren. Und so treten die Sinneinheiten oft selbst als Überraschungseffekte jener kontingenten Phänomenalität, die nur in erzählender Inszenierung aufscheinen kann, vor Augen.