Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2016

Spalte:

217-219

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Asche, Matthias, Lück, Heiner, Rudersdorf, Manfred, u. Markus Wriedt[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550. Beiträge der Tagung in der Stiftung LEUCOREA Wittenberg anlässlich des 450. Todestages Philipp Melanchthons vom 13. bis 16. Oktober 2010.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 565 S. m. Abb. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 26. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-04112-1.

Rezensent:

Stefan Michel

Als späte, aber umso reifere Frucht des Melanchthonjahres 2010 liegt nun ein Band mit 20 Beiträgen vor, der auf eine Wittenberger Tagung mit universitätsgeschichtlichem Fokus im Oktober 2010 zurückgeht. Im Mittelpunkt des thematisch recht geschlossenen Buches steht vor allem Melanchthons Wirken an seiner Universität und die Ausstrahlungen seiner Gedanken. Ein umfangreicher und an Literaturhinweisen reicher Forschungsüberblick zur »Leucorea in der Zeit des späten Melanchthon« von Daniel Bohnert und Matthias Asche eröffnet den Reigen der Beiträge (15–73). Die sich daran anschließenden Aufsätze wurden in vier Sektionen gereiht.
Die erste Sektion »Ideelle und institutionelle Transformationsprozesse der Leucorea bis zu Melanchthons Tod« wird von Martin Treu eröffnet. Gelehrt und knapp berichtet er über die Leucorea vor der Ankunft M.s (77–92). Die Rolle Luthers wird ebenso wie der Einfluss der Humanisten hinterfragt. – Heinz Scheible zeichnet ein ausgewogenes Bild vom »Bildungsreformer Melanchthon« (93–115), das sich aus seiner guten Quellenkenntnis speist. Das humanistische Bildungsprogramm M.s prägte die Wittenberger Theo-logie und bestimmte so die Entwicklung des Protestantismus. – Markus Wriedt (117–148) stellt materialreich das Verhältnis von Hu­manismus und Reformation am Beispiel M.s dar, bei dem beide Aspekte eine glückliche Verbindung erlebten. – Armin Kohnle, Heiner Lück und Heinz Scheible nehmen das Lehrpersonal und seine Profilbildungen in der Theologischen (149–163), Juristischen (165–189) und Artistischen Fakultät (191–206) zwischen 1536 und 1560 in den Blick. Trotz intensiver Forschungen der letzten Jahre, an denen die drei Autoren maßgeblich beteiligt waren, gibt es immer noch viele offene Fragen, z. B. welche konkreten Lehrveranstaltungen in den Fa­kultäten angeboten wurden.
Die zweite Sektion ist der »Rezeption der Wittenberger Bildungsreformen durch Melanchthonschüler an lutherischen Universitäten im Reich« gewidmet. Manfred Rudersdorf zeigt den Wandel des Lehrbetriebs an der Universität Leipzig nach 1539 auf, der durch die Reformation befördert wurde (209–231). Humanisten wie Caspar Borner oder Joachim Camerarius trugen diesen Prozess. – Matthias Asche verfolgt den Weg des Melanchthonschülers und dessen Schwiegersohns Georg Sabinus von der Leucorea über die Viadrina an die Albertina (233–261). – Wirkliches Neuland betritt Daniel Gehrt, der »die Harmonie der Theologie mit den studia humanitatis« am Beispiel der Pfarrerausbildung an der Universität Jena in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens anhand bislang unbekannter Bekanntmachungen der Salana darstellt (263–312). Das herausragende Quellenmaterial aus der Forschungs-biblio­thek Gotha erlaubt einen direkten Vergleich zwischen konzeptuellen Vorstellungen und realen Studienabläufen. Die Ab­hängigkeit der Studieninhalte von der Wittenberger Konkurrenz-universität wird deutlich. – Das Wirken des Melanchthonschülers David Chyträus als Universitätsreformer wird glänzend von Ha­rald Bollbuck beschrieben (313–342). Chyträus lehrte ab 1551 in Rostock und wirkte 1569 an der Gründung der Universität Helmstedt mit. Daran kann der Zusammenhang von Reformation und Universitätsreform im Anschluss an das Wittenberger Vorbild ge­zeigt werden.
Die dritte Sektion »Diffusion gelehrter Wissensbestände der Leucorea« eröffnet der Beitrag »Die pastorale Dimension des pä-dagogischen Wirkens Melanchthons« von Robert Kolb (345–357). Demnach war M. bei der Ausbildung von Predigern und Lehrern wichtig, die wahre Lehre zu bewahren und die falsche zu widerlegen. Einfühlsam und quellennah stellt Kolb dieses Konzept vor, das für die gesamte Wittenberger Pfarrerausbildung maßgeblich war.
Die beiden Aufsätze von Isabelle Deflers und Michael Rockmann gehen Fragen der Rechtsgeschichte nach: Während Deflers M.s Naturrechtsauffassung, zu der auch die Gegenwehr gehört und die bis weit ins das 17. Jh. anregend nachwirkte, darstellt (359–378), referiert Rockmann über die »Ausstrahlung der Wittenberger Rechtspraxis im 16. Jahrhundert« (379–395). Wittenberger Rechtstheorie und Rechtspraxis erfahren durch diese beiden Beiträge eine angemessene Würdigung. – Die beiden medizinhistorischen Aufsätze von Wolfgang U. Eckart (397–419) und Maike Rotzoll (421–436) ergänzen sich hervorragend. Demnach hatte die Reformation auch Auswirkungen auf die medizinische Fakultät. Ergiebige Quellen, die grundsätzliche Positionierungen enthalten und zum Lob der Medizin gehören, stellen beispielsweise M.s Encomium medicinae von 1529/30 oder seine Rede Contra empiricos Medicos von 1531 dar. Großen Einfluss hatte aber sein Lehrbuch De anima in der Fassung von 1553, worin er auch Texte Galens rezipierte. M. beeinflusste durch diese Schriften die Medizin seiner Zeit, aber auch die Ausbildung der Mediziner im artistischen Grundstudium.
Die vierte Sektion ist der »Leucorea als sozialer und kultureller Raum um die Mitte des 16. Jahrhunderts« gewidmet. Überzeugend stellt Thomas Töpfer die Krise der Leucorea nach dem Übergang an die Albertiner um 1548 dar (439–466). Die beiden Pole Tradition und Authentizität werden von ihm zur Darstellung gewählt und durch Quellenstudien veranschaulicht. Gerade von M.s und Bugenhagens Gegnern, allen voran Matthias Flacius, wurde den Wittenbergern vorgeworfen, Tradition und Authentizität seien ihnen nach Luthers Tod abhanden gekommen. – Wie der Herrscherhof so lebte die Universität der Frühen Neuzeit von symbolischen Inszenierungen und Selbstdarstellungen. Wie sich dies in Wittenberg bei der Frage von Kleiderordnungen, Graduierungen und dem Begräbnis M.s zeigte, stellt Marian Füssel dar (467–482). – Wer eine Universität bezieht, braucht dort auch ein Bett und eine Mensa, wo er sich aufhalten und versorgen kann, wenn gerade keine Lehrveranstaltungen stattfinden oder die Bibliothek geschlossen ist. Einen hervorragenden alltagsgeschichtlichen Überblick über die Entwick­lung »studentischer Wohnangebote« in Bursen, bei Profes-soren und in den Universitätskollegien von der Universitäts-gründung bis etwa 1580 gewährt Ulrike Ludwig (483–516). Manche Studenten hatten sogar das Glück, dass ihnen ein Stipendium zu­geteilt wurde. – Stefan Rhein beschreibt schließlich in erinnerungsgeschichtlicher Perspektive den Weg vom bewussten Erinnern an M. im Umfeld seines Todes bis hin zum gewollten Vergessen am Ende des 16. Jh.s (517–547). Erst im 18. Jh. begann man in Wittenberg wieder an einzelne Leistungen des Reformators zu erinnern, nach dem heute immerhin eine Gesamtschule benannt ist.
Ein Personen- und ein Ortsverzeichnis beschließen den Band (549–565).
Nach wie vor ist Walter Friedensburgs (1855–1938) Buch über die Geschichte der Universität Wittenberg von 1917 die einzige Ge­samtdarstellung der Leucorea. Allerdings steht diesem Standardwerk in­zwischen eine Reihe neuerer Untersuchungen – wie beispielsweise Heinz Kathes Geschichte der Wittenberger Philosophischen Fakultät von 2002 – zur Seite. Weitere Einzelstudien sind als Vorarbeiten für eine neue Gesamtdarstellung notwendig. In diesem Zusammenhang nimmt der vorliegende Tagungsband mit seiner anregenden Themenvielfalt künftig einen zentralen Platz ein.