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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

201-203

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wells, Kyle B.

Titel/Untertitel:

Grace and Agency in Paul and Second Temple Judaism. Interpreting the Transformation of the Heart.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2015. X, 374 S. = Supplements to Novum Testamentum, 157. Lw. EUR 126,00. ISBN 978-90-04-27728-1.

Rezensent:

Emmanuel L. Rehfeld

Bei dieser Monographie handelt es sich um die überarbeitete Druckversion der von J. Barclay und L. Stuckenbruck betreuten Dissertation des US-amerikanischen Neutestamentlers Kyle Brandon Wells (geb. 1980, derzeit Pastor in Santa Barbara/Kalifornien und Lehrbeauftragter am dortigen Westmont College), die bereits 2010 von der University of Durham angenommen und publiziert wurde (Volltext: http://etheses.dur.ac.uk/190/).
W. widmet sich einem Thema, das immer wieder Anlass für weitreichende Debatten war und ist: In welchem Verhältnis stehen Gnade (»grace«) und Gehorsam (»obedience«) bzw. göttliches Wirken (»divine agency«) und menschliches Tun (»human agency«) zueinander? Ist die göttliche Gnade die hinreichende oder nur eine notwendige Bedingung der Heilsteilhabe? Ist der menschliche Gehorsam die automatische Folge des göttlichen Wirkens selbst – oder eine von dem (erneuerten) Menschen selbständig zu erfüllende (sekundäre) Kondition, deren Nicht-Erfüllung den (erneuten) Heilsverlust evoziert? Dass diese Fragen gerade für die Paulusexegese von Bedeutung sind, ist evident – nicht zuletzt angesichts in sich spannungsreicher Textzusammenhänge wie Phil 2,12 f.; 1Kor 15,9 f. oder Gal 5,13–6,10 (1).
Die seine Arbeit prägende Motivation hat W. durch seine Lehrer am Covenant Theological Seminary erhalten: »Their refusal to play off grace and obedience in either theory or practice set me thinking on precisely how the two topics integrate« (IX). Darin, bestimmte Entgegensetzungen aufzubrechen (namentlich »modern [?] gift/ obligation dichotomies«, 20), sieht W. ein Desiderat der gegenwärtigen Forschung, zu der er einen substantiellen Beitrag leisten möchte – »beyond old and new perspective paradigms« (9). Solche Grenzüberschreitung ist Programm, denn »[n]ot a few of the dif-ferences in the Christian tradition can be traced back to radically divergent interpretations of the apostle Paul« (1, erster Satz). Damit wirft W. unweigerlich die Frage auf, wie Paulus denn angemessen zu verstehen ist. Hier erhofft W. sich Antworten aus einer Analyse einschlägiger paulinischer Texte (Teil 3) im Rahmen ihrer frühjü-dischen Voraussetzungen (9–14), wobei er zwischen »Jewish Scrip-tures« einerseits (Teil 1) und der auf jene bezogenen »Early Jewish Interpretation and Theology« andererseits (Teil 2) unterscheidet. Eine kurze Einleitung (1–21) und knappe »Conclusions« (Teil 4) umrahmen die drei Hauptteile der Arbeit, die methodisch der rezeptionsorientierten Intertextualitätsforschung verpflichtet ist, wie sie von R. Hays formuliert und von T. Berkley modifiziert wurde (14–16). Dass freilich dieser Ansatz bisweilen zu sehr weitreichenden Hypothesen nötigt, kann auch die vorliegende Arbeit nicht verhehlen.
Mit dem Thema der geistlichen, vor allem aber »moralischen« (!) Erneuerung Israels (»restoration«), das W. in erster Linie mit der Rede von der »Transformation of the Heart« verknüpft sieht (12 f. u. ö., Untertitel!), ist zugleich die überschaubare Textbasis für jeden der drei Teile gegeben: Der grundlegende erste Teil (23–62) behandelt Dtn 29 f. sowie Jer 31 f. und Ez 36 f. – laut W. autoritative Texte, die den Bezugspunkt späterer frühjüdischer Interpretationen (einschließlich der paulinischen Rezeption) bildeten. In seiner durchweg dem sogenannten Endtext verpflichteten, teilweise historisierend-flächigen, philologisch aber insgesamt sorgfältigen Auslegung versucht W. zu zeigen, dass die alttestamentlichen Basistexte zahlreiche Leerstellen (»gaps«) aufwiesen, die spätere Rezipienten dann in je unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Weise »gefüllt« hätten (39 f. u. ö.; s. u. zu Teil 2). Im Blick auf Dtn 30 selbst lasse sich nicht mit letzter Sicherheit entscheiden, ob Israel oder Gott der Initiator der ethischen Erneuerung Israels sei (25–40). Dementsprechend stellt W. die in der Literatur vertretenen, divergenten Positionen bloß abwägend nebeneinander, ohne dass eine klare Entscheidung zugunsten einer bestimmten Auslegung fällt. So gelingt W. fast nebenbei der Nachweis der von ihm beständig postulierten »Mehrdeutigkeit« antiker Texte (allein die Wörter »ambiguous«, »unclear« und »possible« tauchen – mit bezeichnender Ausnahme von Teil 3 [!] – mehr als drei Dutzend Mal auf, und ohnehin sei ja alles Lesen »in some way dialectical«, 31).
Der zweite Teil beleuchtet frühjüdische »Interpretationen« der oben genannten Texte (63–206), die W. zufolge oft ähnlich »ambiguous« sind wie ihre Referenztexte. Als eine erste, indes wenig aufschlussreiche Interpretation der hebräischen Texte betrachtet W. die Septuaginta (65–72), was angesichts der anhaltenden Diskussion über das überlieferungsgeschichtliche Verhältnis von MT- und LXX-Version(en) gerade des Jeremiabuches zu Rückfragen Anlass gäbe. – Im Blick auf die Rezeption der oben genannten alttestamentlichen Texte durch die »Dead Sea literature« (73–133) sticht eine Beobachtung besonders ins Auge: Es fällt auf, dass sich in der Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln die doxologisch-hymnischen Texte signifikant von den nicht-liturgischen unterscheiden. Wo Gott der direkte oder indirekte Adressat der Texte ist, ist eine starke Betonung des göttlichen Wirkens zu konstatieren (s. vor allem die Hodayot), während die ethisch-ekklesiologischen und geschichtstheologischen Texte die menschliche Verantwortung hervorheben. Dass diese Differenz wie auch die auffallend ungleichmäßige Verteilung klar prädestinatianischer Aussagen nur rhetorisch-funktionale Gründe hat (so W., 104.111.124 f.), ist m. E. indes fraglich.
Die beiden Kapitel zu Baruch, Jubiläenbuch, Zweitem Baruch und Viertem Esra (134–187) sowie zu Philo (188–206) bestätigen, dass der Begriff »Gnade« offensichtlich äquivok (!) verwendet wurde, und illustrieren, wie uneinheitlich und ambivalent man folglich das Verhältnis von menschlichem Bemühen und (konditionierter!) »Gnade« bestimmte (186 f. u. ö.).
Teil 3 und 4 erörtern das Hauptthema des Buches: das paulinische Verständnis von Gnade und Gehorsam (207–289.291–311). Texten wie Röm 2,17–29; 7,5 f.; 10,6–8; 2Kor 3,5 f.; Phil 3,3; Kol (!) 2,11 f. entnimmt W. folgende These: »in Paul’s mind the agency of the Spirit [!] reinforces rather than negates human responsibility, because the two agents exist in an essentially non-contrastive relationship« (299). Das könnte zwar noch im Sinne einer »sekundären Konditionierung des Heils« bzw. synergistisch missverstanden werden, doch W. präzisiert: »in Paul, grace is limited neither to an offer of salvation, nor to God’s present or future justifying act, nor even to God’s initial reconstituting work itself. Grace is that dynamic, creative and recreative power which operates in and through be-lievers, founding their will to act and even bringing those acts to fruition. […] For Paul, obedience does not start where grace ends« (304 f.).
Zu diesem quasi-reformatorischen Verständnis einer umfassenden gratia transformans gelangt W. (293 f., trotz 105), weil er ganz sachgemäß das Mitgekreuzigt- und In-Christus-Sein – die relational-ontologische »union with Christ« – sowie die darin verankerte Geist-Begabung der In-Christus-Seienden (Gal 3,2–5) als Dreh- und Angelpunkt paulinischen Denkens begreift (288 f.296 f.) und in der Rede von der gottgewirkten Neuschöpfung »Paul’s most basic conviction about salvation« erblickt (306). Inwiefern hierfür das aufwändige Heranziehen letztlich unvergleichbarer (223.307 ff.), ihrerseits interpretationsbedürftiger religionsgeschichtlicher Vergleichstexte hilfreich ist, bleibt indes unklar.