Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

51-53

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lunn, Nicholas P.

Titel/Untertitel:

The Original Ending of Mark. A New Case for the Authenticity of Mark 16:9–20.

Verlag:

Eugene: Wipf and Stock (Pickwick Publications) 2014. XII, 378 S. Kart. US$ 43,00. ISBN 978-1-62564-628-6.

Rezensent:

Armin D. Baum

Eines der »Dogmen der neutestamentlichen Textkritik« (1) lautet, dass die letzten zwölf Verse des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) nicht vom Evangelisten stammen, sondern nachträglich von anderer Hand ergänzt worden sind. Als einer der ersten neuzeitlichen Forscher hat Richard Simon 1689 im ersten Band seiner »Histoire critique du Nouveau Testament« Mk 16,9–20 als sekundär eingestuft. Griesbach, Lachmann, Tregelles, von Tischendorf, Westcott und Hort und viele andere sind seinem Urteil gefolgt. In jüngerer Zeit hat James Kelhoffer (Miracle and Mission [2000]) diese Position noch einmal ausführlich dargestellt. Auch in der Textausgabe von Nestle-Aland bzw. im Greek New Testament und in der großen Mehrzahl der neueren Kommentare gilt der längere Markusschluss als sekundär.
Es gibt nur wenige Fachleute, die diese Mehrheitsmeinung für falsch halten. Im 19. Jh. vertrat vor allem John Burgon (The Last Twelve Verses of the Gospel According to S. Mark [1871]) die These, Mk 16,9–20 sei der originale Schluss des Markusevangeliums. Im 20. Jh. war William Farmer (The Last Twelve Verses of Mark [1974]) der Hauptverteidiger des längeren Markusschlusses. In einer 2014 publizierten Untersuchung hat Nicholas Lunn, Übersetzungsberater der Wycliff Bibelübersetzer und Tutor am Spurgeon’s College London, ihre Einwände aufgegriffen und durch weitere Argumente ergänzt. Er ist der Ansicht, dass Mk 16,9–20 wahrscheinlich in Ägypten von gnostischen Christen, die eine leibliche Auferstehung Jesu ablehnten, aus einigen Handschriften des Evangeliums entfernt wurde (336–355).
In einer Einleitung (1–20) wendet sich L. gegen die in der jün-geren Forschung aufgekommene These, Mk 16,8 könne das vom Autor intendierte Ende des Evangeliums gewesen sein. Dagegen sprechen seiner Meinung nach die kerygmatischen Summarien in der Apostelgeschichte (Apg 2,22–24 u. ö.), die bekenntnisartigen Formulierungen in den neutestamentlichen Paulusbriefen (1Kor 15,3–5 u. ö.), die Ostergeschichten der drei anderen Evangelien, die Auferstehungsvorhersagen im Markusevangelium (Mk 8,31 u. ö.) usw. M. E. hat L. mit diesen Einwänden völlig recht. Zu ergänzen wäre, dass es keine einzige antike Aussage über einen unvollständigen Buchschluss als literarisches Stilmittel gibt. Von Geschichtswerken hat man im Altertum einhellig erwartet, dass sie die Ereignisse, von denen zu berichten sie begonnen hatten, auch zu Ende erzählten. Bei unvollständigen Geschichtswerken suchte man nach historischen Ursachen oder führte das unvollständige Ende auf schriftstellerisches Unvermögen des Historikers zurück (vgl. EThL 88 [2012], 95–128).
In seinem zweiten Kapitel (21–60) präsentiert L. den Handschriftenbefund zu Mk 16,9–20 und stellt in aller Ausführlichkeit dar, dass in 99 % der heute bekannten griechischen Manuskripte und der übrigen Überlieferung der längere Markusschluss bezeugt ist (vgl. K. Aland, Neutestamentliche Entwürfe [1979], 258). Dieser Sachverhalt lässt sich durchaus zugunsten der Ursprünglichkeit des längeren Markusschlusses anführen.
Kapitel 3 (61–116) ist den Zitaten bei den Kirchenvätern gewidmet. Konsens besteht darüber, dass schon Irenäus um 180 n. Chr. den längeren Schluss als Teil des Markusevangeliums kannte (haer. 3,10,6: Mk 16,19), vielleicht auch schon Justin um 150 n. Chr. (1 apol. 45,5: Mk 16,20 [?]). L.s eigener Beitrag besteht in der These, dass eine Kenntnis des längeren Markusschlusses bereits in den Schriften der Apostolischen Väter nachweisbar ist. 1 Clem 42,3–4 setze Mk 16,9. 14–15.19–20 voraus, PH 102,1–2 setze Mk 16,15–16.20 voraus und Barn 15,9 setze Mk 16,9.12.14.20 voraus (65–71). Diese Argumentation hat mich nicht überzeugt. M. E. sind die Berührungen zwischen den genannten Texten zu unspezifisch.
Im vierten Kapitel (117–164) befasst sich L. mit dem Vokabular und Stil von Mk 16,9–20. Besonders wichtig ist die Auseinandersetzung mit einem stilkritischen Argument, das Robert Morgenthaler vorgetragen hat. Der längere Markusschluss ist 170 Wörter lang und enthält 92 verschiedene Vokabeln, von denen 16 im übrigen Markusevangelium nicht vorkommen (Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes [1971], 58–59). L. kann zeigen, dass in anderen Perikopen des Markusevangeliums ähnliche Verhältnisse herrschen: Mk 1,2–11 ist 176 Wörter lang, von denen 17 im übrigen Evangelium fehlen. Mk 9,42–50 ist 147 Wörter lang, von denen 17 im übrigen Evangelium fehlen. Mk 12,1–11 ist 162 Wörter lang, von denen 19 im übrigen Evangelium fehlen usw. (120–127). Dieser Befund entkräftet Morgenthalers Argument und muss in Zukunft berücksichtigt werden.
Ein anderes stilistisches Phänomen hat L. in seiner Stilanalyse (vgl. 137–138.146–147.149–150.155.159–160) m. E. nicht ausreichend gewichtet. Wie John Hawkins ermittelt hat, beginnen im Markusevangelium 80 der 88 Perikopen mit »und« (das sind 91 %) und nur sechs mit »aber« (Horae Synopticae [21909], 150–151). Im längeren Markusschluss beginnen die Perikopen ganz anders. Mk 16 zeigt diesen Stilunterschied in aller Deutlichkeit: In der ersten Hälfte des Kapitels beginnen alle Perikopen mit kai: Mk 16,1–4 (»Und …«), 16,5–7 (»Und …«), 16,8 (»Und …«). In der zweiten Hälfte des Kapitels beginnt keine Perikope mit kai: Mk 16,9–11 (»Als er aber auferstanden war …«), 16,12–13 (»Danach aber …«), 16,14–18 (»Nachher [aber] …«), 16,19–20 (»Der Herr nun …«). Die narrativen Verknüpfungen zwischen den Perikopen des längeren Schlusses weisen m. E. einen unmarkinischen Stil auf und können daher kaum vom Evangelisten stammen.
In Kapitel 5 (165–208) hat L. viele weitere linguistische Beobachtungen zusammengetragen, die eine Nähe von Mk 16,9–20 zum übrigen Markusevangelium zeigen. In Kapitel 6 (209–240) werden literarische Verbindungen präsentiert und in Kapitel 7 (241–272) thematische Verbindungen. M. E. können diese zahlreichen Einzelbeobachtungen die in den Kapiteln 2–4 behandelte Evidenz ergänzen, bei der textkritischen Entscheidung aber nicht den Ausschlag geben.
In Kapitel 8 (273–317) entfaltet L., vor allem in Auseinandersetzung mit Kelhoffer, seine Überzeugung, dass der längere Markusschluss nicht von den kanonischen Evangelien abhängt, sondern vielmehr Lukas den längeren Markusschluss gekannt und benutzt haben dürfte. Die ausgebreiteten Argumente zeigen m. E., dass sich die Evidenz in beide Richtungen interpretieren lässt und weder die Mehrheits- noch die Minderheitsposition entscheidend zu stützen vermag.
L. ist es in seiner gründlichen und sorgfältigen Untersuchung gelungen zu zeigen, dass der sekundäre Charakter des längeren Markusschlusses keineswegs so »offensichtlich« ist und so »zweifellos« bewiesen werden kann, wie manche Kommentatoren behauptet haben. Die externe und die interne Evidenz sind weniger eindeutig, als es manchem erscheinen mag, der sich nicht selbst intensiv damit befasst hat. Trotzdem scheint mir die These, Mk 16,9–20 sei ein ursprünglicher Bestandteil des Evangeliums, etwas un­wahrscheinlicher zu sein als das von L. bezweifelte »Dogma« der Mehrheit. Zwar dürfte der längere Markusschluss Stoff enthalten, der ähnlich alt ist wie der originale Inhalt der synoptischen Evangelien. Davon, dass die redaktionellen Verknüpfungen in Mk 16,9.12.14.19 das Werk des Evangelisten Markus sind, hat mich das Buch aber nicht überzeugt.