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Ausgabe: | Juni/2015 |
Spalte: | 660-662 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte |
Autor/Hrsg.: | Damberg, Wilhelm, Frings, Bernhard, Jähnichen, Traugott, u. Uwe Kaminsky [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Mutter Kirche – Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945. |
Verlag: | Münster: Aschendorff Verlag 2010. VIII, 364 S. m. Abb. u. Tab. Geb. EUR 29,80. ISBN 978-3-402-12842-8. |
Rezensent: | Thomas Schlag |
Die öffentlichen Diskussionen über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und die damit teilweise verbundenen fraglichen oder gar menschenunwürdigen Erziehungsmaßnahmen eben auch in konfessionellen Einrichtungen und Anstalten sind fast schon wieder verebbt. Umso mehr ist die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser institutionellen Praxis notwendig und unbedingt zu be-grüßen. Dies hat ein zwischen 2008 und 2011 laufendes Projekt zur Erforschung der konfessionellen Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik Deutschland (1949–1972) in Verantwortung der Evangelisch-Theologischen und Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum unternommen. In dessen Rahmen wurden durch den vorliegenden Band Erkenntnisse einer Fachtagung aus dem Jahr 2009 umfangreich dokumentiert, die der weiteren Ausarbeitung des Projekts dienten. Der Abschlussbericht des Projekts wurde im Übrigen im Jahr 2011 digital zur Verfügung gestellt.
Der vorliegende Band nun umfasst einerseits Beiträge, die im Rahmen des Projekts selbst entstanden sind, andererseits aber auch Einsichten aus anderen Projekten, um so Desiderate für die Forschung und auch eine gewisse Vergleichbarkeit der bisher gewonnenen Erkenntnisse herzustellen. Mitgewirkt haben daran, was besonders hervorzuheben ist, Fachexpertinnen und -experten aus Geschichtswissenschaft, Theologie, Sozialpädagogik, Politologie und Soziologie, was zugleich die Vielfalt der notwendigen Bezüge und Ausdifferenzierungen bei der Behandlung dieses komplexen Themas anzeigt.
Die systematische Gliederung der Beiträge erfolgt nach einem einführenden kontextualisierenden und differenzierten Forschungsbericht des Mitherausgebers Uwe Kaminsky (5–26) in drei Hauptteilen: I. Allgemeine Aspekte der Heimerziehung (28–106), II. Sozial-und religionspädagogische Diskurse über die Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren (108–171) und III. Regionen, Strukturen, Heime und Erfahrungen – Beispiele (174–353). Auf einige Einsichten der insgesamt 18 überaus kenntnisreichen und gut informierenden Beiträge sei im Folgenden kurz verwiesen: Der I. Teil widmet sich insbesondere den statistischen und rechtlichen Aspekten der seinerzeit immerhin zu rund 70 %–80 % konfessionell organisierten Heimfürsorgeeinrichtungen. Bernhard Frings führt die eindrückliche Zahl von rund 800.000 zwischen 1949 und 1975 im Rahmen der sogenannten Fürsorgeerziehung und Freiwilligen Erziehungshilfe betreuten minderjährigen Kindern und Jugendlichen auf. Harry Hubert verweist darauf, dass eklatante Missstände und hier insbesondere autoritäre Erziehungsmaßnahmen in diesen Einrichtungen bereits Ende der 60er Jahre öffentlich gemacht, allerdings nur sehr zögerlich angegangen und beseitigt wurden. Allerdings wird von Markus Köster gezeigt, dass die Fürsorgezöglinge im Zusammenhang der 68er Bewegung auch für bestimmte Erziehungsideale funktionalisiert wurden, indem man sie als revolutionäres Ferment betrachtete und von dort aus weiterreichende Reformprojekte auch gegen den Widerstand traditionalistischer Vertreter durchzusetzen suchte (vgl. 77). Wie Sven Steinacker eindrücklich zeigt, gingen die Reformvorhaben bis weit in die 70er Jahre hinein nur äußerst schleppend voran.
Der II. Teil liefert auf höchstinteressante Weise Material zur Frage der Reformen sozialpädagogischer und religionspädagogischer Konzepte seit den 50er Jahren, die sich von der »Verwahrlostenerziehung« der »Niemandskinder« hin zur gesellschaftskritischen Pädagogik entwickelte, so der Beitrag von Christian Schrapper. In den Beiträgen von Andreas Henkelmann und Traugott Jähnichen zeigt sich sowohl auf katholischer wie auf evangelischer Seite eine schrittweise, aber doch unaufhaltsame Abkehr von den aus Kaiserreich und Nationalsozialismus überkommenen Gehorsams- und Zuchtidealen einerseits, von einer negativen Anthropologie andererseits. Mindestens der Theorie nach wird hier auch ein Wandel zur programmatischen Infragestellung der gewohnten Strafmaßnahmen bis hin zu gewissen Formen der Anerkennung der zu erziehenden Subjekte deutlich.
Der III. Teil umfasst eine Vielzahl regionaler Studien, die hier im Einzelnen nicht nachzuzeichnen sind. Deutlich ist aber cum grano salis, dass die faktische (Disziplinierungs-)Praxis in den konfessionellen Einrichtungen den äußeren gesellschaftlichen, politischen und auch pädagogischen Wandlungsprozessen mindestens deutlich hinterher hinkte. Dies war zum einen den Kontinuitäten des verantwortlichen Personals in den Einrichtungen selbst geschuldet (vgl. hier exemplarisch die Beiträge von Bernhard Frings zur Johannesburg im Emsland und von Ulrike Winkler zur Diakonissenanstalt Sarepta), zum anderen aber auch den offenbar von staatlicher Stelle aus äußerst zurückhaltenden Kontrollmaßnahmen (vgl. hier insbesondere die Beiträge von Hans-Walter Schmuhl zur Anstalt Freistatt sowie Tina Theobald und Julia Mangold zu den Anstalten des Evangelisch-kirchlichen Erziehungsvereins der Provinz Westfalen). Die unheilige Verbindung zwischen Strafe und deren religiöser Deutung zeigen Judith Pierlings und Thomas Swiderek in ihrem Beitrag zu den Heimen des Landschaftsverbandes Rheinland auf, insofern es dort für notwendig gehalten wurde, angesichts der »tiefsitzenden seelischen Schäden der Kinder und Jugendlichen […] über die therapeutischen Maßnahmen hinaus, die diesem Zustand ›innewohnende Schuld und Sünde‹ zu erkennen, das Bedürfnis nach Sühne nicht zu unterdrücken und die ›Chance auf ein Seelenheil‹ zu verhindern« (207). Die meisten Beiträge enden konsequenterweise mit der Forderung, dass zu einer genaueren Bestandaufnahme der jeweiligen Einrichtungen und ihrer Verlaufsgeschichten eben auch die empirischen Analysen des dort Geschehenen und Erfahrenen noch vorzunehmen seien. Von besonderer Eindrücklichkeit sind die Berichte und Interpretationen des deprivationsfördernden Hospitalismus in Säuglingsheimen durch Carlo Burschel sowie der von Carola Kuhlmann anhand teilweise erschütternder biographischer Erfahrungen beschriebenen, systematisch demütigenden sowie stigmatisierenden und als höchst repressiv erfahrenen Heimerziehungsstile der 50er und 60er Jahre.
Der Band endet mit einem zusammenfassenden und zugleich weiterführenden Schlusswort zur Tagung durch den Mitherausgeber Wilhelm Damberg (355–361). Darin werden zum einen nochmals die Herausforderungen und Probleme der notwendig komplexen methodischen Zugänge zur Thematik betont, zum anderen wird konstatiert, dass die Forschungen zur konfessionellen Heimerziehung zugleich »den Blick in eine Epoche dramatischer Veränderungen« hin zum Prozess der inneren Demokratisierung der Gesellschaft (356 f.) mitsamt der langsamen Veränderung theolo-gischer, anthropologischer und konfessioneller Leitbilder (360) öffnen. Nachdenkenswert ist von dort aus auch Dambergs Mahnung, dass sich die evangelische und die katholische Kirche angesichts dieses Teils ihrer eigenen Geschichte als Erinnerungsgemeinschaft und »explizit einer seelsorgerlichen Option für die Opfer verpflichtet« (361) sehen sollten. Man kann von diesem Band zugleich lernen, dass der Begriff der »Aufarbeitung« in diesem Zusammenhang wohl tatsächlich eher unangebracht ist, oder wie es Manfred Kappeler formuliert: Einen Schluss-Strich kann es nicht geben, »weil die Opfer dieses Systems noch leben und Anerkennung und Genugtuung fordern« (86).
Beim vorgelegten Band handelt es sich fraglos um einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Geschichte konfessioneller Heimerziehung und Jugendfürsorge also, sondern auch zum Stand und Zustand kirchlicher Subsidiarität, religiöser Pädagogik und Sozialdisziplinierung sowie deren grundlegender Reformentwicklungen im untersuchten Zeitraum – und nicht zuletzt zu der noch weiter reichenden und die hier versammelten Forscher ebenfalls verbindenden Thematik von Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s.