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Ausgabe: | April/2015 |
Spalte: | 387–390 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Baird, William |
Titel/Untertitel: | History of New Testament Research. Vol. Three: From C. H. Dodd to Hans Dieter Betz. |
Verlag: | Minneapolis: Fortress Press 2013. 688 S. Geb. US$ 70,00. ISBN 978-0-8006-9918-5. |
Rezensent: | Eve-Marie Becker |
Neutestamentliche Wissenschaft wird von Menschen gemacht und betrieben – so banal diese Einsicht ist, so grundlegend bleibt sie, wenn es um das Verstehen und Selbstverständnis einer theologischen Disziplin wie der des »New Testament Research« geht. Es sind Einzelne – zumeist Männer, im 20. Jh. treten nur einzelne Frauen hinzu –, die mit ihren biographischen Prägungen und fachlichen Interessen das Geschick, die Geschichte und in Teilen letztlich auch die Zukunft einer akademischen Disziplin (mit-)bestimmen. Es ist zwar müßig zu fragen, wie sich die evangelische Theologie im Nachkriegsdeutschland entwickelt hätte, wären Dietrich Bonhoeffer oder Ernst Lohmeyer nicht politische Märtyrer geworden, sondern hätten wie Karl Barth und Rudolf Bultmann in einem langen und schaffensreichen Leben ihre theologische und exegetische Arbeit noch 20 oder 30 Jahre länger fortsetzen können. So müßig diese Frage aber ist, so notwendig bleibt sie, wenn Geschichtsschreibung ihren Blick nicht nur auf Resultate, Erfolge, Mächtige und ›Helden‹, sondern auch – wie wir spätestens seit der Sozial- und Alltagsgeschichte zu wissen glauben – auf Fragmente und scheinbar Randständiges richten will. Mir scheint, dass das geschulte Auge des Historikers, dem biographische und historische Details nicht so schnell entgehen, ein unbestechlicher Garant für die Wahrnehmung menschlicher und geschichtlicher Kontingenz sein kann, während eine aus der Innenperspektive des Faches neutestamentliche Wissenschaft heraus geschriebene Geschichte von Forschungsresultaten schnell droht, episch, mythisch und letztlich ahistorisch zu werden. Ist hiermit bereits eine mögliche Kritik an William Baird benannt? Wir werden am Schluss auf diese Frage zurückkommen.
Über die Geschichte des Faches neutestamentliche Wissenschaft zu reflektieren, kann teils die Aufgabe der ›Problemgeschichtsschreibung‹, teils die Aufgabe von Biographie und Autobiographie sein. In den zuletzt genannten beiden genres haben sich in den vergangenen Jahren Exegeten wie Historiker vielfach und – wie besonders Konrad Hammanns Bultmann-Biographie zeigt – äußerst erfolgreich betätigt (B.s kritische Bemerkung über den Detailreichtum [85] der biographischen Darstellung, der gerade im o. g. Sinne historische Sensibilität erkennen lässt, ist unverständlich und unberechtigt). Eine umfassende Geschichtsschreibung über das eigene Fach, seine Frage- und Problemstellungen, hingegen ist – über die einzelnen Arbeiten von Werner G. Kümmel oder Otto Merk hinaus – eher rar und somit drängend. Vor diesem Hintergrund ist das insgesamt dreibändige Unternehmen B.s nicht genug zu loben.
Wie B. in der Einleitung zu seinem dritten und letzten, hier zu besprechenden, Band beschreibt (1), hat ihn das Projekt, eine Geschichte des »New Testament Research« zu schreiben, insgesamt etwa 30 Jahre begleitet. B. gibt in diesem Zusammenhang noch einmal eine kurze Übersicht über die ersten beiden Bände seiner Darstellung, die 1992 und 2003, also etwa jeweils im Abstand von zehn Jahren, erschienen waren (Bd. 1: »From Deism to Tübingen«; Bd. 2: »From Jonathan Edwards to Rudolf Bultmann«). Der dritte und letzte Band trägt den Titel: »From C. H. Dodd to Hans Dieter Betz« und gibt damit bereits die Struktur und Perspektivierung der Problemgeschichtsschreibung zu erkennen: B. zeichnet die neutestamentliche Wissenschaft im Wesentlichen in der Tradition der Aufklärungstheologie nach: »Both Dodd and Betz are masters of his-torical criticism, and both are devotees of classical philosophy and rhetoric« (2). Er wählt dabei eine chronologische Darstellung, die er de facto mit Vincent Taylor (8 ff.) beginnen lässt und die im Weiteren – in drei große Hauptteile und elf Unterkapitel untergliedert – verschiedenen Forschungstrends und Problemfeldern zugeordnet ist: »The Renaissance of New Testament Criticism« (7–191), »The Revisiting of Critical Problems« (195–472) und »Theological and Synthezising Movements« (475–687). Die ›chronologische Darstellung‹ schließt mit Betz (659–677) oder – biographisch betrachtet – mit Elisabeth Schüssler Fiorenza (590 ff.), James D. G. Dunn (548 ff.), John P. Meier (423 ff.), Ed P. Sanders (299 ff.), James M. Robinson (168 ff.) und in Ansätzen John S. Kloppenborg (380 ff.). Die Darstellung bezieht also durchaus noch lebende Exegeten ein.
In einem Epilog (689–696) wirft B. die Frage auf, welches die »lessons learned in the recounting of history?« (689) seien. Auch hier resümiert B. sach- und problemfeldbezogen. Seine Überlegungen und Bewertungen sind dabei ausgewogen und doch pointiert: »The major subjects of NT research are Jesus and Paul […] NT research in the twentieth century was preoccupied with biblical theology« (693). B. leitet die hohe Gewichtung der Biblischen Theologie besonders vom Einfluss Barths auf die neutestamentliche Wissenschaft her (64 ff.). Er plädiert deutlich und durchgängig für die historische Kritik («historical criticism is essential to understanding the NT according to its essential character«, 696) und begründet dies von seiner Beschreibung des Wesens des Christentums her: «Christianity is a historical religion; it is not a religion of the book but a religion of the person« (ebd.). Während seiner gesamten Darstellung macht B. seine Sicht auf die Geschichte und den Stand neutestamentlicher Wissenschaft transparent – der Leser/die Leserin kann also in weiten Teilen mit dem Autor des Buchs in ein sachlich fundiertes Gespräch treten. B.s Einsichten und Wertungen sind dabei vielfach zu teilen (so etwa im Blick auf seine Würdigung Bultmanns: besonders 116, dessen Zuordnung zur »Biblical Theology« bleibt allerdings in Teilen unklar, s. 117) – sie legen indes zugleich weithin sein apologetisches Interesse, die historische Kritik als Grundaufgabe akademischer Theologie festzuhalten und fortzuführen, offen. Im Hintergrund dürften verschiedene – teils methodisch, teils hermeneutisch begründete – Versuche (besonders im nordamerikanischen Kontext) stehen, die klassische akademische Verankerung neutestamentlicher Exegese zu unterminieren.
Welcher Eindruck bleibt beim Leser zurück, schreibt B. doch, dass er selbst sein Projekt mit »mixed feelings« abgeschlossen habe (3)? B. bietet insgesamt eine fundierte Werkanalyse deutschsprachiger und anglo-amerikanischer Forschung. Dabei nimmt er eine– nicht immer überzeugend begründete – Auswahl in Kauf: Über Schüssler Fiorenza hinaus greift er die feministische Exegese nicht auf. Zugleich aber beschränkt er seine Berücksichtigung von Exegetinnen, die nicht-feministisch in der Tradition historischer Kritik stehen, auf die bloße namentliche Nennung von Adela Yarbro Collins, Beverly Roberts Gaventa, Margaret M. Mitchell, Judith Lieu, Barbara Aland und Oda Wischmeyer (604) – ein z. B. exkursartiger Abschnitt über das Eintreten ›weiblicher Forscher‹ in das Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft wäre dagegen wünschenswert gewesen. Margaret E. Thrall, die in jüngerer Zeit sicherlich einen der besten neutestamentlichen Kommentare geschrieben hat, findet unerklärlicherweise überhaupt keine Erwähnung. Gerd Theißen, der – auch in globaler Sicht – wichtige Impulse in der neutestamentlichen Wissenschaft im letzten Drittel des 20. Jh.s gesetzt hat, hätte in die Darstellung mit einbezogen werden müssen. Insgesamt bleibt die Anzahl der ausführlicher referierten deutschsprachigen Forscher auf (in alphabetischer Reihung) Bornkamm, Bultmann, Cullmann, Hengel, Käsemann, Kümmel, Marx-sen, Schnackenburg und – wenn man so will – Schüssler Fiorenza, Betz und Koester begrenzt. Die anglo-ameri-kanische Perspektive dominiert sichtlich, auch wenn B. – erfreulicherweise – deutschsprachige Literatur umfangreich mit einbezogen hat. Und doch entsteht der Eindruck, dass neutestamentliche Wissenschaft weithin in der anglo-amerikanischen Welt zuhause ist. In einer globalen Perspektive erscheint der Hinweis auf Birger Gerhardsson – den einzigen Vertreter der skandinavischen Forschung – verengt (568 ff.). Hier hätten zumindest auch Forscher wie Johannes Munck angeführt werden müssen.
Schließlich stellt sich noch einmal die eingangs angedeutete Frage, wieweit ein Exeget/eine Exegetin überhaupt eine ›Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft‹ so konzipieren kann, dass sie historisch ausgewogen und sinnvoll in die allgemeine Geschichte eingebettet ist. Die Innenperspektive im Sinne der Werkeinführung und Problemgeschichtsschreibung ist zweifellos notwendig, bleibt aber zu eng. Auch wenn sich B. darum bemüht, historische Konstellationen und biographische Daten zu nennen, so ist seine Darstellung weitgehend losgelöst von der Weltgeschichte – jedenfalls reicht sie über bloß allgemeine Hinweise etwa auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht hinaus (z. B. 63). Dass dieser Zugang mangelhaft wirkt, mag dem Leser/der Leserin besonders in einem Gedenkjahr wie 2014 auffallen. Darüber hinaus birgt dieser Zugang Gefahren, vermittelt er doch den Eindruck, Theologiegeschichte geschehe ›wie von selbst‹. B.s Werk eignet sich zwar bestens – im Sinne der Einleitungswissenschaft – zur Werkanalyse wichtiger Forschungsbeiträge und macht so auch implizit deutlich, welche forschungsgeschichtliche Bedeutung den genres Monographie und Kommentar nicht zuletzt im Rückblick auf grundlegende Forschungsdiskurse zukommt: Dies sind die Pfeiler neutestamentlicher Wissenschaft. So sehr B.s Darstellung jedoch insgesamt helfen mag, fachliche Positionen, Trends, Forschungsfragen und methodische Problemfelder zu profilieren, so sehr bleibt sie in verschiedener Hinsicht unvollständig. Besonders dem Anspruch, »History« zu sein, wird sie kaum gerecht. Sie lässt daher die Aufgabe, eine interdisziplinär, d. h. von Geschichtswissenschaft (u. a. Geschichte, Kirchengeschichte und Wissenschaftsgeschichte) und Exegese erforschte Geschichte des Faches zu schreiben, noch einmal sehr viel drängender werden.