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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

44–46

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

[Turner, John D.]

Titel/Untertitel:

Gnosticism, Platonism and the Late Ancient World. Essays in Honour of John D. Turner. Ed. by K. Corrigan and T. Rasimus in collaboration with D. M. Burns, L. Jenott and Z. Mazur

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2013. LI, 701 S. = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 82. Geb. EUR 203,00. ISBN 978-90-04-22383-7.

Rezensent:

Barbara Aland

Die anzuzeigende Festschrift für John D. Turner soll nach dem Willen der Herausgeber dem Lebenswerk des Geehrten entsprechend nicht weniger als eine umfassende Überprüfung der Forschung zur Geschichte des Platonismus in der Spätantike bieten, eine Ge­schichte, in die die Gnosis maßgeblich eingebunden wird. Das ist gelungen, insofern der Band einen informativen Überblick über die amerikanische, kanadisch-französische und skandinavische Forschung zum Thema bietet, nur in Auswahl die deutsche und italienische. Das umfängliche Werk ist zweigeteilt. Der erste der etwa gleich langen Teile umfasst Studien zur Gnosis insgesamt, der zweite ist den Beziehungen zwischen Gnosis und Platonismus, vor allem Plotins, gewidmet. Studien zum sogenannten Sethianismus stehen im Vordergrund, insbesondere Untersuchungen zu den platonisierenden Schriften aus Nag Hammadi, Zostrianos und Allogenes.
Im 1. Teil greift Karen King anhand des Apokryphon des Johannes eine zentrale Frage der Gnosisdeutung auf, wie es sachlich möglich ist, dass eine nach platonischem Vorbild gestaltete göttliche Sphäre mit einer Genesisexegese kombiniert wird, wonach diese Welt nur die eines minderen, allenfalls psychischen Gottes ist, anders gesagt, die Frage nach dem »Fall« im Seienden. Die Lösung besteht nach King darin, dass der Autor des AJ den Timaios Platons und die Genesis »intertextuell« gelesen und den in der Genesis berichteten Fall in die kontinuierliche Entfaltung des Göttlichen im Pleroma eingetragen habe, damit eine gnostische Erlösungsgeschichte ermöglichend – ein nachdenkenswerter Hinweis, der das systematische Problem aber nicht löst. – Dem Zusammenhang zwischen einzelnen Nag Hammadi-Schriften und damit der Frage nach der inneren Entwicklung der Gnosis gehen mehrere Beiträge (Poirier, Painchaud, Pearson) aufschlussreich nach. Besonders interessant kann Painchaud anhand der Fassungen der Allogenes-Bücher aufzeigen, dass für die sethianische Literatur offenbar von den Anfängen an christliche und sethianische Materialien konstitutiv sind. – Mit Entstehungsraum und -zeit der Gnosis befasst sich Drecoll und verortet sie, im Anschluss an Mar-tin Hengel, in die »Grauzone« der frühen Diskussionen über eine jüdisch-platonische Leseweise von Gen 1–2 zwischen hellenistisch-jüdischen, christlichen und philosophisch interessierten Intellektuellen, zwischen denen allzu scharf zu trennen Drecoll sicher zu Recht warnt. – Der Bedeutung der Schrift für die Gnosis widmet sich Anne Pasquier und zeigt am Evangelium Veritatis auf, dass für den valentinianischen Autor die uns vorliegende, »ausgesprochene« Bibel nur ein Reflex einer psychischen Wirklichkeit ohne Hinweischarakter auf das wahre, das »innere« Wort Gottes ist, weshalb der Logos selbst das »lebendige Buch« sein muss – eine konsequente Übersteigerung jeder allegorischen Schriftauslegung. – Ähnlich weiterführend zeigt Berchman, wie Philon aufgrund der neupythagoreischen Zahlenlehre, in die er informativ einführt, geradezu ontologisch die Vorzüglichkeit des Schöpfungsberichtes der Genesis beweist. – Den einheitlichen Quellencharakter der Excerpta ex Theodoto vertritt überzeugend Dubois. Textemendationen (Funk), Klärung bisher ungeklärter sethia­nischer Namen (Thomassen), Studien zu liturgischen Texten (Lundhaug, Marjanen), zur Ethik der Sethianer (Jenott, Scopello), zum Perlenlied (Burns) und zu Alexander von Lykopolis (van Oort) und ein Definitionsversuch des Phänomens Gnosis (Deconick) beschließen den 1. Teil der Festschrift.
Im 2. Teil steht das Thema Plotin und die Gnosis im Vordergrund, ein Forschungsdesiderat. Drei gewichtige Untersuchungen der Herausgeber (Corrigan, Rasimus, Mazur) betreffen das wohlbekannte Problemfeld, wonach sich in gnostischen Texten (im Übrigen nicht nur in sethianischen, wie suggeriert wird) Gedankengänge und Termini finden, die bisher erst für den Neuplatonismus Plotins charakteristisch zu sein schienen, bei denen jetzt aber ge­fragt wird, ob sie nicht in sethianischen Kreisen entwickelt und dann ihrerseits Plotin beeinflusst haben könnten. Die Herausgeber bringen neues Material zu dieser von ihnen und ihrem Initiator Turner seit Längerem vertretenen These. Corrigan interpretiert die Großschrift der Traktate 30 bis 33 (Porphyrios) und den darin aufgezeigten »mystischen« Aufstiegspfad zum einen als betont gegen die gnostische Offenbarungs- und Erlösungsbotschaft gerichtet. Plotin stelle unter Benutzung von Platons Symposion und Staat einen »radikal demokratischen«, für jeden durchführbaren und die praktische Moral in dieser Welt einschließenden Weg dar (320), dessen Anknüpfungspunkt in der Polemik gegen gnostisches Denken zu suchen sei (NHC VIII,1, Zostrianos, werde in II 9, 10,19–33 zitiert). Mazur vermutet eine ähnlich antignostische Motivation für Plotins früheste Schrift über das Schöne. Rasimus fragt nach dem Ursprung der Triade Sein, Leben, Geist und führt sie kenntnisreich, da schon im Apokryphon des Johannes in nicht formalisierter Form vorhanden, auf einen sethianischen Ursprung in Aufnahme von neupythagoreischen und johanneischen Anregungen zurück. Plotin und Porphyrios seien bei ihren Lösungsversuchen für das Problem des Hervorgangs der zweiten Seinsstufe aus der ersten von daher beeinflusst – im Gegensatz zur Auffassung von Hadot und anderen. Den Leser lassen diese Argumentationen samt ihren angezogenen Beispielen etwas ratlos zurück, nicht nur, weil er die philosophische Konsequenz von Plotins Denken, die keiner Anknüpfungspunkte bedarf, zu sehen meint, sondern auch, weil er die Rolle, die damit den Gnostikern als Anreger Plotins zugewiesen wird, für überzogen hält. Zuzugeben ist zwar – und das ist die particula veri in dieser Argumentation –, dass es terminologisch und gedanklich eine Reihe von Parallelen zwischen insbesondere den Frühschriften Plotins und gnostischen, vor allem valentinianischen Texten gibt, deren Erklärung aber noch offen ist.
Weitere Beiträge befassen sich mit dem Thema Plotin und Gnosis in Spezialstudien (Tardieu, Ferroni, Cornea). Narbonne zeigt überzeugend auf, dass Plotin in seinem auf die Großschrift folgenden Text VI 6 (34) »Von den Zahlen« erneut auf seinen Hauptanstoß an der Gnosis, den Fall der Seele/Sophia, zurückkommt und ihn aufgrund sei-nes Verständnisses der pythagoreischen Zahlenlehre zurückweist. Brisson lehnt mit guten Gründen die u. a. von Mazur vorgetragene These ab, dass Plotin von gnostischen magischen und theurgischen Ritualen beeinflusst gewesen sein könne, und setzt mit seiner Betonung der rein philosophischen Reflexion bei Plotin einen Kontrapunkt zum amerikanischen Forschungstrend. Es folgt eine Reihe von gewichtigen, auch für die Gnosisforschung relevanten Spezialuntersuchungen zur Geschichte des Platonismus (so Dillon zum Problem, wie nach Plotin die geistige Seele im stofflichen Körper wirken kann, Bechtle zur Deutungsgeschichte des platonischen Parmenides mit Hilfe der aristotelischen Kategorien, Edwards, Gleede und Lernoud zu Spezialfragen von Christentum und Platonismus). Die Festschrift wird beschlossen mit einem interessanten Essay zur Beschäftigung mit der Gnosis im Amerika des 19. Jh.s, die die heutige lebendige Rezeption dieses Themas dort besser verstehen lässt.
Ein aufschlussreicher und instruktiver Band ist entstanden. Die Rezensentin schließt sich den Glückwünschen an John D. Turner an, der in so reichem Maße anregend gewirkt hat. Zurück bleibt eine gewisse Nachdenklichkeit angesichts der Richtung der Gnosisforschung weltweit. Denn gewiss ist: Die Frage, die die Beschäftigung mit der Gnosis in früheren Jahrzehnten bestimmte, welchen Beitrag gnostische Denker zur Entwicklung der christlichen Theologie lieferten (n. b. in den frühen gnostischen Texten ist der Erlöser fast durchweg Christus), ist in den Hintergrund getreten.