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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1534–1537

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Reichelt, Stefan

Titel/Untertitel:

Johann Arndts »Vier Bücher von wahrem Christentum« in Russland. Vorboten eines neuzeitlichen interkulturellen Dialogs.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 590 S. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02863-4.

Rezensent:

Karl Christian Felmy

In der Zeit vom 16. bis 19. Jh. hat sich die orthodoxe Theologie in unterschiedlicher Weise einmal mehr vom römischen Katholizismus, ein andermal mehr vom Protestantismus beeinflussen lassen. Meist geschah dies auf dem Gebiet der dogmatischen, im 19. Jh. oft auch auf dem Gebiet der historischen Theologie. Weniger häufig stößt man auf Einflüsse westlicher Erbauungsliteratur. So hat, um ein besonders hervorstechendes Beispiel zu nennen, der heilige Nikodimos vom Berg Athos die Schrift des Theatiners Lorenzo Scupoli »Combattimento spirituale« an die Sprache der Orthodoxie adaptiert und ins Griechische übersetzt. Auf die reichhaltige Verwendung der Anmerkungen (Notae) des Euchologion von Jacques Goar in der »Novaja Skri žal’« Erzbischof Veniamins (Rumovskij-Krasnopevkov) habe ich in meiner Arbeit über »Die Deutung der Göttlichen Liturgie in der russischen Theologie« verwiesen. Doch keines der umfangreicheren Werke der westlichen Erbauungsliteratur hat eine solche Wirkung in der orthodoxen Kirche erzielt, wie die »Vier Bücher von wahrem Christentum« des lutherischen Theologen Johann Arndt (1555–1621).
Diese Wirkung ist vor allem der Übersetzungsarbeit des späteren russischen Erzbischofs Simeon (Todorskij; 1700–1754) zu verdanken. Bekannt geworden ist Todorskij insbesondere als Reli-gionslehrer des Thronfolgers Petr Fedorovič (des späteren Kaisers Peters III.) und seiner Gemahlin, der späteren Kaiserin Katha-rina II., die er auch auf ihre Konversion zur Orthodoxie vorberei-tete. Mit seiner »aufgeklärten Toleranz und Weitsicht« (36) trug er dazu bei, dass Katharina II. davon sprechen konnte, dass Orthodoxie und Luthertum sich auf dem Gebiet der Glaubenslehre nicht unterschieden, sondern nur in den gottesdienstlichen Riten (39).
So ist es naheliegend, dass das Buch von Stefan Reichelt mit einer Vorstellung des Autors (Johann Arndt) und seines Übersetzers (Simeon Todorskij) beginnt. Insgesamt ist R.s Buch zuzüglich einer Einleitung und einiger Verzeichnisse in fünf Teile gegliedert: I. Der Autor Arndt und der Übersetzer Todorskij; II. Untersuchungen zum Text des »russischen Arndt«; III. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Vier Bücher von wahrem Christentum in Rußland; IV.Beschluß; V. Dokumente und Quellentexte.
Alle diese Teile sind mit äußerster Gründlichkeit und großer Kenntnis der einschlägigen Literatur gearbeitet. Für den des Russischen bzw. Kirchenslawischen kundigen Leser bleibt die Arbeit R.s dadurch nachprüfbar, dass alle übersetzten Zitate in Klammern oder An­merkungen auch in der Originalsprache wiedergegeben worden sind. Das ist interessant, auch angesichts der Eigentümlichkeit der Sprache Todorskijs, eines russisch und zum Teil auch ukrainisch geprägten Kirchenslawisch. Bei einem längeren Aufenthalt in Deutschland hat sich Todorskij die deutschen Sprachkenntnisse erworben, die ihn zu der Übersetzung eines so um­fangreichen Werkes wie der »Vier Bücher von wahrem Chris­tentum« befähigt haben.
Ist Teil I der Arbeit im Wesentlichen der historischen Darstellung Johann Arndts und seines russischen Übersetzers gewidmet, so bietet Teil II gründliche »Untersuchungen zum Text des ›russischen Arndt‹«. Breiten Raum nimmt ein deutsch-russisches und russisch-deutsches Glossar der »sinntragenden Worte« ein, die in Todorskijs Übersetzung gebraucht werden. Es ist zwar hervorragend gearbeitet, wird aber kaum als nützlicher Beitrag für die künftige Forschung angesehen werden können.
Besonders interessant und nicht minder sorgfältig gearbeitet als das Glossar sind die auszugsweisen »Textvergleiche von Vorlage und Übersetzungstext Todorskijs einschließlich (interlinearer) Rückübersetzung«. Hier wird im Detail nachgewiesen, was R. schon im 2. Kapitel von Teil I angedeutet hat: Todorskij wollte als Übersetzer ein russisches, orthodoxes Buch schaffen mit weitgehender Adaption an die orthodoxe kirchliche Sprache, mit Kommentaren, die dem östlichen Leser den ursprünglich westlich geprägten Text nahebringen, sogar auch mit der Übertragung westlicher, speziell auch deutscher geographischer Realia in die östliche Vorstellungswelt, so dass Rhein, Donau, Elbe und Nil zu Nil, Donau, Wolga und Dnepr werden. R. behandelt diese Art von »Inkulturation« unter den Stichwörtern 1. Verkirchlichung bzw. Orthodoxisierung, 2. Eliminierung und 3. Kommentierung.
Zur erstgenannten Art der Adaption, also zur Orthodoxisierung, gehört u. a., dass Simeon Todorskij alle Hinweise auf die lutherischen Bekenntnisschriften, mit denen sich Johann Arndt als ge­treuer Lutheraner ausweisen wollte, in seiner »Übersetzung« in Hinweise auf die orthodoxe Überlieferung umgewandelt und z. B. aus der Abwehr von Papisten und Täufern eine Gegnerschaft gegen die Feinde der Orthodoxie gemacht hat. Zu dieser »Verkirchlichung« und »Orthodoxisierung« gehört u. a. die reichlichere Verwendung schmückender Epitheta und die häufigere Nennung der Hypostasen der Trinität, wo Arndt nur allgemein von der heiligen Dreieinigkeit gesprochen hatte.
Eliminiert hat Todorskij bei seiner »Übersetzung« vor allem die im deutschen Protestantismus dieser Zeit und im späteren Pietismus beliebten Diminutiva und Wendungen, die eine enge Vertraulichkeit Gott oder den Heiligen gegenüber insgesamt ausdrü-ck­en, die der orthodoxen Spiritualität fremd ist. Als Eliminierung bezeichnet R. auch Abschwächungen der lutherischen Anthropologie und Hamartiologie, um so dem optimistischeren orthodoxen Bild des Menschen zu entsprechen.
Eliminiert hat Todorskij auch die Namen westlicher Theologen. Das erinnert an das Vorgehen Erzbischof Veniamins, der in seiner »Novaja Skrižal’« bei Hinweisen der Notae Jacques Goars auf westliche Theologen oder auf nicht-orthodoxe Theologen oder auf Theologen, über deren Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche er sich nicht im Klaren war (so z. B. Nikolaos Kabasilas), auf die Nennung ihrer Namen verzichtet und in der Regel allgemein von einem »kirchlichen Autor« gesprochen hat (vgl. K. Ch. Felmy, Die Deutung der Göttlichen Liturgie 169–177).
Die Kommentierungen der Vorlage dienen in der Regel nicht nur sprachlich, sondern ebenfalls dogmatisch auch der Orthodoxisierung und wollen u. a. das Geheimnis der Inkarnation deutlicher hervorheben, so dass bei der Erwähnung der Menschwerdung immer auch die Fleischwerdung Gottes in Christus artikuliert wird. Die »Übersetzung« bekommt aber auch einen orthodoxeren Klang dadurch, daß der heilige Basilius von Caesarea, orthodoxer Sprachgewohnheit entsprechend, als Basilius der Große und die Jungfrau Maria als »Allheilige« bezeichnet wird.
Teil III, in dem R. die »Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Vier Bücher von wahrem Christentum in Rußland« behandelt, greift zunächst einmal zurück auf die harte Kritik Ivans IV. und in späterer Zeit des Metropoliten Stefan (Javorskij; 1658–1722) an der lutherischen Reformation. Obgleich R. auch für die frühere Zeit bereits positivere Reaktionen auf das Luthertum nachweisen kann, hebt sich doch die Wertschätzung für Johann Arndts »Bücher von Wahrem Christentum« von allen übrigen Reaktionen auf protes­tantische Werke wesentlich ab. Bei der Behandlung der Wirkung dieses Werkes bewährt sich einmal mehr die in seinem Buch insgesamt deutlich hervortretende Akribie R.s, der nachweisen konnte, auf welchen Wegen und in welcher Größenordnung das Werk in Russland verbreitet wurde, das, obwohl vorübergehend verboten, im 19. Jh. den Beststudenten der Moskauer Geistlichen Akademie als Belohnung ausgehändigt wurde.
Schließlich kann R. auch auf spätere Übersetzungen der ›Vier Bücher‹ verweisen, die vor allem in freimaurerischen Kreisen ge­schätzt wurden.
Der 8. Abschnitt dieses III. Teils ist insofern von besonderer Be­deutung, als hier von einer ganz neuen Dimension der Wirkung der »Vier Bücher« gehandelt wird: der Übernahme großer Passagen dieser Bücher in das Hauptwerk des heiligen Tichon von Zadonsk (1724–1783) »Ob istinnom christianstve« (Vom wahren Christentum), das bereits in seinem Titel die Nähe zu Johann Arndts Werk erkennen lässt.
Im Jahre 1743 ist die Verbreitung des Werkes von der Zensur des Heiligen Regierenden Synod verboten worden, und zwar nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern allein aufgrund der Tatsache, dass es entgegen einer Bestimmung des Geistlichen Reglements ohne die Erlaubnis des Heiligen Synod übersetzt und verbreitet wurde. Seiner Wertschätzung durch wichtige Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens hat dies aber auch in späterer Zeit keinen Abbruch getan. So hat ausgerechnet der u. a. durch scharfe antiprotestan-tische Äußerungen bekannte, im Jahre 2000 kanonisierte Erzbischof Arsenij (Maceevi č; 1696–1772) Johann Arndts »Bücher« ge­schätzt und eifrig gelesen und eine lateinische Ausgabe dieses Werkes bis an sein Lebensende als Gefangener in den Kasematten von Reval bewahren können. Auch der große Missionar Makarij (Glucharev; 1792–1847) gehört zu denen, die Arndts Bücher von Wahrem Christentum geschätzt und weiterempfohlen haben.
Das Buch besticht insgesamt durch die große Belesenheit und Gelehrsamkeit R.s im Bereich der Theologie, der Slawistik und der osteuropäischen Geistesgeschichte. R. erweist sich als durch und durch kompetenter Kenner seines Fachgebietes. Selbst Spezialis­ten seines Faches bietet er reichhaltige Informationen und neue Erkenntnisse. Eine kleine Präzisierung: Die Worte »Christi Licht erleuchtet alle« (Свe тъ Христовъ просвe щаетъ всe хъ) stammen in ihrem genauen Wortlaut nicht aus dem Johannesevan-gelium (Joh 1,9; so 479). Sie werden vielmehr bei der Segnung mit dem Licht in der Liturgie der vorhergeweihten Gaben ge­spro­chen und gehören zu den Höhepunkten dieses Gottesdiens­tes.
Die bewundernswert reichhaltige Literaturliste könnte durch einen interessanten Beitrag vervollständigt werden: Сващ. Павел Хондзинский, Два труда об истинном христианстве. Святитель Тихон Задонский и Иоганн Арндт (Priester Pavel Chondzinskij; Zwei Werke über das wahre Christentum. Der hl. Hierarch Tichon von Zadonsk und Johann Arndt, in: Z ˇ MP 2004/2, 62–73).
Das umfangreiche Glossar ist zwar eine vorbildliche wissenschaftliche Arbeit. Freilich erheben sich Zweifel, ob sich der riesige wissenschaftliche Aufwand dieses Teils in der künftigen Auseinandersetzung und im wissenschaftlichen Gebrauch der Arbeit R.s auszahlen wird. Doch das ist ja kein Problem, das die unbestreit-bare Qualität des hochgelehrten und gleichzeitig für das gegenseitige Verständnis von Orthodoxie und Luthertum hilfreiche Werk in Frage zu stellen vermag.
Schade, dass die Verlage heute kaum mehr Verantwortung für die äußere Gestalt eines Buches übernehmen. Riesige Freiräume wie z. B. auf den Seiten 14; 26 und öfter sind unschön. Störender sind die häufig großen Lücken in den Zeilen, weil bei der Wahl des Blocksatzes keine Trennhilfe eingesetzt wurde. Warum S. 453 ganz frei geblieben ist, entspricht keiner erkennbaren Notwendigkeit. Einem so gelehrten Werk wie dem vorliegenden hätte eine schönere Form des Druckbildes gut gestanden.