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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1524–1525

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Strodmeyer, Werner

Titel/Untertitel:

Scham und Erlösung. Das relational-soteriologische Verständnis eines universalen Gefühls in pastoral-therapeutischer Hinsicht.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 535 S. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-506-77876-5.

Rezensent:

Michael Klessmann

Werner Strodmeyer, Leiter der katholischen Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in Hamburg, legt eine Untersuchung zum Thema Scham vor, die therapeutische und theologische Perspektiven miteinander ins Gespräch bringen will. Theologie und Kirchen haben das Thema der Scham bislang weitgehend vernachlässigt, dem will S. mit der Veröffentlichung seiner umfangreichen und nicht leicht zu lesenden Dissertation entgegensteuern. Die Rezension kann nur einige wenige Linien nachzeichnen:
Der erste Teil thematisiert die menschliche Wirklichkeit der Scham. Induktiv, erfahrungsorientiert, mithilfe von Falldarstellungen aus der Beratungspraxis öffnet S. Zugänge zum Phänomen der Scham. Die Relationalität der Scham wird, in deutlicher Abgrenzung von älteren intrinsischen Schamkonzepten, in den Vordergrund ge­stellt. »Die Kernthese dieser Untersuchung lautet: Scham entsteht und wirkt immer in Beziehungen. Sie entspringt einer Bloßstellungserfahrung, der Beschämung.« (11) Damit entspricht die Untersuchung der neueren, durch die Objektbeziehungstheorie angestoßenen psychoanalytischen Zwei-Personen-Psychologie. »Weil der Andere identitätskonstitutiv ist, kann er als Beschämender identitätszerstörend wirken.« (12) Blick, Sprache und Leib sind »Bloßstellungsorte« und zugleich die Orte oder Faktoren, an denen sich heilsame, erlösende Wirkungen entfalten können.
Scham kann die notwendige und sinnvolle Funktion einer »Hüterin des Selbst und der Selbstgrenzen« (451; in Aufnahme von Micha Hilgers) haben; häufig bekommt sie jedoch einen destruktiven Charakter. Darauf fokussiert S. seine Aufmerksamkeit: Destruktive Scham, »demütigende Bloßstellung«, traumatisiert Menschen, zerbricht Identität, stürzt in Verzweiflung, Verlassenheitsgefühle und Verbitterung. Mehrfach wird der Satz von Arno Gruen zitiert: »Nichts zerstört so nachhaltig wie Demütigung.« (213 u. ö.) Von der traumatischen Scham unterscheidet S. die existentielle, in der es um die Frage nach Lebenserlaubnis, nach Seindürfen geht. Beide Formen, so S., setzen Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungssehnsucht frei. Wenn es gelingt, Scham zu integrieren, entsteht »erlösendes Po­tential«.
Der zweite Teil steht unter der Überschrift »der relationale Ursprung der Scham aus der Bloßstellung«: Scham kann als ein guide verstanden werden: Der Scham eignet »eine Dimension der Korrektur, der Sinnhaftigkeit, der Ermöglichung von Erkenntnis- und Entwicklungsprozessen« (267). Im biblischen Mythos von Adam und Eva ist ablesbar, wie Scham als »Metapher für Menschwerdung« (284) verstanden wird: Bewusstsein, Freiheit, Erkenntnis sind nicht ohne die »Gabe der Scham« möglich. Gleichzeitig zeigt die Fortsetzung der biblischen Geschichte (Kain und Abel), wie leicht die Scham entgleist, grenzenlos wird und in Gewalt um­schlägt (Zusammenhang von Gesichtsverlust und Gewalt). Daraus resultierende Schuld ist leichter zu ertragen als grenzenlose Scham. Weitere Dimensionen des Schamverständnisses werden durch ausführlichen Bezug auf Freud, Scheler, Sartre und Levinas entfaltet. Relational ursprüngliche Bloßstellungsorte sind Blick, Sprache und Leib (405 ff.), entsprechend hat das »Bloßstellungsmanagement« (411) mit diesen Dimensionen einzusetzen. Hier ist entscheidend, ob, in Abhängigkeit von erworbenen Affektregulierungskompetenzen, ein eher depressiv/passiver (Rückzug, Verstummen, Verbitterung, Ohnmacht) oder eher ein aggressiv/ aktiver Umgang mit der Scham gesucht wird. Erlösendes, schamregulierendes und befreiendes Erleben ist an die Achtung des Anderen, an den freundlichen Blick und an Sprech- und Sprachfähigkeit im Blick auf das Schamerleben gebunden. Für beratend-therapeutische Arbeit werden hier viele wichtige Beobachtungen formuliert.
Im Lauf der Untersuchung stellt S. immer wieder unvermittelt kurze biblisch-theologische Bezüge her; das Leiden unter destruktivem Schamerleben wird direkt als Erlösungsbedürftigkeit gedeutet: »Die Wunde der Scham erwies sich im Bloßstellungserleben als erlösungsbedürftiger Zustand […]« (466). Dieser auf den ersten Blick nicht selbstverständliche Deutungszusammenhang wird auf gut 20 Seiten erst am Schluss systematischer entfaltet. Eine »Soteriologie der Scham« soll »andiskutiert« werden (464): Es geht S. um ein »diesseits-orientiertes Sprechen von Erlösungsbedürftigkeit« (456), dergestalt, dass er von einem »therapeutischen Paradigma von Erlösung« spricht oder das Selbstverständnis der Ehe-, Familien- und Lebensberatung als ein soteriologisches (477) charakterisiert. So begrüßenswert eine erfahrungsnahe Entfaltung theologischer Begrifflichkeit ist, so bleiben doch Fragen: Unterscheidet sich Erlösung von Heilung, Gesundung, Befreiung oder sind sie austauschbar? Wie verhält sich ein therapeutischer Erlösungsbegriff zu einem traditionell religiös verstandenen? Was würde es für das Therapieverständnis bedeuten, wenn man nicht einfach den therapeutischen Raum mit dem Erlösungsraum identifizierte (229), sondern der Erlösung gewissermaßen einen utopisch-eschatologischen Überschuss vorbehielte, wie das im religiösen Begriff von Erlösung gedacht ist? Solche Fragen werden nicht diskutiert, insofern kommt der in dieser Arbeit angestrebte Dialog zwischen Psychologie/Psychotherapie und Theologie aus meiner Sicht nur sehr ansatzweise zustande.
Insgesamt gesehen hat der Rezensent ein zwiespältiges Gefühl: Die Überfülle des Materials (etwa die Hälfte der 484 Textseiten besteht aus einem weitläufigen Anmerkungsapparat), die inhaltlichen Redundanzen und die häufig stark gespreizte Wissenschaftssprache machen die Lektüre mühsam und verdecken manchmal geradezu die wichtigen und hilfreichen Erkenntnisse zur Wahrnehmung und zum Umgang mit der Scham.