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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1516–1517

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ahrens, Petra-Angela, u. Gerhard Wegner

Titel/Untertitel:

Soziokulturelle Milieus und Kirche. Lebensstile – Sozialstrukturen – kirchliche Angebote.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2013. 208 S. m. 54 Abb. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-022153-6.

Rezensent:

Eike Kohler

Petra-Angela Ahrens, Diplom-Sozialwirtin Göttinger Provenienz und seit 2002 Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI), und Gerhard Wegner, Leiter des SI und Schüler von Karl-Fritz Daiber, beschäftigen sich beide seit Längerem mit der Analyse sozialwissenschaftlicher Fragen im Kontext von Kirche: Ahrens vor allem im Rahmen ihrer Mitarbeit an EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, Wegner schon seit seiner Dissertation zur kirchlichen Beteiligung von Arbeitern.
Der vorliegende Band bietet in durchgesehener und ergänzter Neuauflage Studien, die bereits in der lange vergriffenen Publikation des SI »Hier ist nicht Jude, noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier ...« (2008) veröffentlicht wurden. Den ersten Schwerpunkt bildet die Auswertung einer Repräsentativbefragung Evangelischer der Hannoverschen Landeskirche. Sie markiert eine methodische Neuausrichtung: Die sie fundierende integrative Lebensführungstypologie von Gunnar Otte basiert nicht auf einer nachträglichen Clusterung empirischer Daten, sondern auf einem aus theoretischen Erwägungen zu den beiden Dimensionen »Ausstattungsniveau« und »Modernität/biographische Perspektive« ge­wonnenen Set von zehn Fragen mit je vier Antwortmöglichkeiten. Das Interesse der Autoren liegt dabei vor allem in der Auswertung der Merkmale zur Lebensführung und weiterer Merkmale (z. B. zu Interesse an kirchlichen Veranstaltungen) mithilfe der Korrespondenzanalyse, die statistische Nähe und Distanz zwischen Merkmalen im zweidimensionalen sozialen Raum (mit den o. g. Dimensionen) visualisiert. Die Visualisierung zeigt für die Kirchenmitglieder eine ähnliche Verteilung im sozialen Raum wie die von Otte untersuchten Stichproben aus der Be­völkerung dreier westdeutscher Großstädte, spricht also gegen eine Milieuverengung bei der Gesamtheit der Kirchenmitglieder. An­dererseits finden sich aber die Merkmale gelegentliche und häufige Teilnahme an Gottesdiensten und anderen kirchlichen Veranstaltungen fast ausschließlich im ersten Quadranten dieses sozialen Raums (gehobene Ausstattung/Traditionalität) und belegen damit eine deutliche Milieuverengung bei der ›Kerngemeinde‹.
Die zweite Studie mit Teilnehmerbefragungen besonderer kirchlicher Veranstaltungen zeigt im Anschluss daran, dass kirchliche Veranstaltungen, die in Kombination mit bestimmten kulturellen, insbesondere musikalischen Elementen spezifisch auf un­terschiedliche Adressatenkreise ausgerichtet wurden, durchaus in der Lage sind, diese Milieuverengung erfolgreich zu durchbrechen und Teilnehmer aus einem deutlich weiteren sozialen Raum zu erreichen. Allerdings bieten sie dennoch keine missionarischen Gelegenheiten – ein wesentliches Merkmal der Teilnehmenden aller Veranstaltungen war, dass sie eine »zumindest positiv gefärbte kirchlich-religiöse Orientierung« (116) aufwiesen, sowie einen überdurchschnittlichen Bildungsstand.
Im dritten Teil mit theologischen Überlegungen zum Verhältnis von Mission und Milieu fordern die Autoren in zehn Thesen eine Perspektivumkehr: Während die Milieutheorie feststelle, wie milieuförmiger Glaube und milieuförmige Kirche den Menschen hilft, sich in ihrer sozialen Situation einzurichten und abzugrenzen, sollte sich Kirche umgekehrt das kulturelle Material der Milieus als Spielmaterial aneignen, um – bereits durch kleine Verschiebungen in der Verwendung von Zeichen – »Einschmelzungsprozesse«, d. h. Situationen von Konversion, von Umwertung aller Werte, zu ermöglichen. Ob es gelingt, stehe nicht in ihrer Hand, sehr wohl aber die Möglichkeit, Räume für solche Veränderungsprozesse offen zu halten. Dabei sei der Kirche aufgegeben, solche Räume in besonderer Weise für Menschen aus den ›unteren‹, in ihren Spielräumen begrenzten Milieus zu eröffnen.
Im Anhang finden sich neben Fragebögen und Übersichten auch eine Auswertung von Gruppendiskussionen mit kirchendistanzierten Milieus zur Frage »Was ist wichtig in ihrem Leben« sowie eine an die Ergebnisse der Studien anschließende, anwendungsbezogene Handreichung für Kirchengemeinden zur Gewinnung Ehrenamtlicher (Erstveröffentlichung 2010 im Haus Kirchlicher Dienste der Hannoverschen Landeskirche).
Durch die Methode der Korrespondenzanalyse gelingt es, Nä­hen und Distanzen eindrücklich herauszuarbeiten. Mit der durch Ottes Fragenset übernommenen Beschränkung auf die Dimensionen »Ausstattungsniveau« und »Modernität/biographische Perspektive« werden allerdings aus Lebensstiltypen tendenziell So-zialstrukturtypen – andere Faktoren wie Werte, die sich aus der arbeitsteiligen Gesellschaft und deren unterschiedlichen An­forderungen ergeben (z. B. Kreativität vs. Strukturiertheit, Ge­schwindigkeit vs. Genauigkeit), fallen in ihrer Erklärungsleistung damit aus. Dennoch bietet der Band eine Vielzahl bedenkenswerter Impulse sowohl für Theoretiker (in Teil 1 und 3) wie für Praktiker (in Teil 2 und Anhang D).