Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1509–1513

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schockenhoff, Eberhard

Titel/Untertitel:

Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen. 2., aktualisierte Aufl.

Verlag:

Freiburg. i. Br.: Verlag Herder 2013. 654 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-30758-4.

Rezensent:

Wolfgang Huber

Eberhard Schockenhoffs theologische Lebensethik hat eine lange Geschichte. In einer ersten Fassung (»Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß«) wurde sie bereits 1993 im Grünewald-Verlag (Mainz) veröffentlicht (vgl. die Rezension von H. Bedford-Strohm in ThLZ 123 [1998], H. 5, 519 ff.). Diese Fassung erreichte in den Jahren bis 2000 drei Auflagen. Dann entschloss sich S. zu einer umfassenden Neubearbeitung, in der er die bisherige Struktur und Argumentation sowie über weite Strecken auch den bisherigen Wortlaut beibehielt. Das in dieser Neufassung 2009 zum ersten Mal veröffentlichte Buch wurde vier Jahre später in aktualisierter Form neu aufgelegt. Diese Fassung wird als »zweite, aktualisierte Auf-lage« bezeichnet; man kann sie jedoch mit ebenso guten Gründen eine fünfte Auflage nennen und sich fragen, ob es ein anderes deutsches Buch zur theologischen Ethik gibt, das innerhalb von zwei Jahrzehnten fünfmal aufgelegt wurde.
Das Konzept war schon in der ersten Fassung so ausgereift, dass S. sich bei der Neufassung von 2009 und deren Aktualisierung im Jahr 2013 zwar vielen neuen Herausforderungen zu stellen hatte, aber die Basis seiner Argumentation nicht zu verändern brauchte. S. verfolgt ein Konzept theologischer Lebensethik, das philosophisch begründet ist, sich einer vernunftgeleiteten Argumentation bedient und auf Gesprächsfähigkeit mit verschiedenen weltanschaulichen, theologischen und philosophischen Positionen angelegt ist. Die Positionen zu bioethischen Kontroversen, die er vertritt, beanspruchen deshalb nicht nur Geltung für eine christliche Binnenmoral, sondern erheben einen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit, ohne dabei das Faktum eines moralischen Pluralismus zu verkennen.
Die Hochschätzung der praktischen Vernunft, von der ein solches Vorgehen geleitet ist, gibt die Glaubensgrundlagen der christlichen Ethik nicht preis. Vielmehr dienen theologische Reflexionen über Schöpfung und Natur, Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde, Lebensverständnis und Tötungsverbot der Vertiefung von Haltungen, die sich bereits auf Grund einer vernunftgeleiteten Argumen-tation nahe legen. Auf beeindruckende Weise verbindet S. seine Verwurzelung in der katholischen Lehrtradition mit souveräner Eigenständigkeit des Urteils. Explizit wendet er sich gegen einen theologischen Ansatz, der die bioethische Auseinandersetzung als Kulturkampf inszeniert und dadurch dem Christentum gegenüber der säkularen Gesellschaft »sektenähnliche Züge« verleiht (58).
Als problematisch mag an dieser Argumentation die Selbstverständlichkeit erscheinen, mit der vom »säkularen« Charakter der Gesellschaft die Rede ist (vgl. auch 210); denn Religion und die Auseinandersetzung über sie behalten auch in einer Gesellschaft ihren Ort, in der die säkulare Option in ihren unterschiedlichen Spielarten von hohem Gewicht ist. Das gilt auch für Mitteleuropa. Schon die religionspolitische Verve, mit der bestimmte bioethische Positionen im Namen der Säkularität vorgebracht werden (man denke a n die Beschneidungsdebatte), zeigt die Relevanz religiöser wie pseudoreligiöser Positionen. Aus solchen Gründen lässt sich be­zweifeln, dass der Begriff der Säkularität zur Kennzeichnung einer modernen Gesellschaft im Ganzen taugt.
S. lässt sich in seinen Überlegungen vom Vorrang des Gerechten vor dem Guten leiten. Deshalb interessiert er sich für bioethische Prinzipien, die für alle in gleicher Weise gelten und deshalb die Grundlage für rechtliche Regelungen bilden können. Dahinter tritt die Frage nach dem Guten, also nach dem Umgang mit bioethischen Herausforderungen im Blick auf eine persönlich zu wählende Lebensgestalt, zurück. Daraus erklärt sich, warum Fragen der Lebensformen und der Lebensführung in dieser »Ethik des Lebens« keine hervorgehobene Rolle spielen. Kapitel über Ehe und Familie, über Sexualität und Familienplanung oder über Homosexualität sucht man vergebens. Doch dieses umfangreiche Standardwerk bietet auch so Klärungen und Einsichten in Fülle.
Auf eine Einführung zum Begriff des Lebens (19–34) folgt ein erster Teil, der Grundlagen der Lebensethik erörtert (35–294). Er behandelt das Verhältnis zwischen theologischer Lebensethik und »säkularer Bioethik« und schließt daran zwei Kapitel zu den philosophischen und theologischen Grundlegungsfragen an. Die philosophische Erörterung konzentriert sich auf die Differenzen zwischen physiozentrischen, biozentrischen und anthropozentrischen Modellen. Sie geht von Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben aus, in deren Erörterung sich Respekt und Kritik verbinden. Daraus entwickelt S. einen anthropozentrischen Ansatz, der den Dualismus von Mensch und Natur hinter sich lässt: Die Anthropozentrik ist insofern unhintergehbar, als der Mensch als alleiniges Verantwortungssubjekt im Zentrum der Ethik steht. Doch der Horizont dieser Verantwortung geht über die Interessen der Menschengattung hinaus und richtet sich auf den menschli chem Handeln zugänglichen Kosmos im Ganzen. In ähnlicher Weise sucht auch die theologische Grundlegung falsche Alternativen zu überwinden, in diesem Fall insbesondere die Alternative von Schöpfung und Geschichte. Diese Überlegungen münden in die These, dass der Mensch als Bild Gottes dafür verantwortlich ist, dass die Welt als Gottes Gleichnis lesbar bleibt (224). So konvergieren die philosophischen und die theologischen Überlegungen darin, die besondere Stellung des Menschen in einer Verantwortung zu sehen, »die er an keiner Stelle im Kosmos hinterlegen und an kein anderes Wesen delegieren kann« (225).
Aus evangelischer Sicht wäre zu wünschen, dass dieser verantwortungsethische Ansatz auch als Konvergenzpunkt zwischen katholischer Moraltheologie und evangelischer Ethik profiliert würde. Die Frage nach konfessionsspezifischen Differenzen konzentriert sich jedoch – neben dem Hinweis auf unterschiedliche Positionen zu bestimmten Fragen des Lebensschutzes und der Forschung mit embryonalen Stammzellen – auf das Verhältnis zwischen substanzontologischer und relationaler Anthropologie (199–204). Auch hier plädiert S. für die Überwindung falscher Alternativen. Doch seine These, es handle sich um komplementäre Denkformen, erklärt sich in diesem Fall daraus, dass er die Unverfügbarkeit und den Selbstbezug des Menschen im Substanzgedanken ausgedrückt sieht, während er den Relationsgedanken auf die Beziehung des Menschen zu anderen Menschen und zur Welt anwendet. Aus evangelischer Perspektive liegt es dagegen nahe, die Unverfügbarkeit des Menschen in seiner Gottesrelation und den Selbstbezug in seiner Relation zu sich selbst – also in der menschlichen Fähigkeit zur Selbstreflexion – zu verorten.
Als ethische Prinzipien der Lebensethik hebt S. die Garantie der Menschenwürde und die Tragweite des Tötungsverbots hervor. Beide Prinzipien gewinnen Eindeutigkeit vor allem in den Unterlassungsregeln, die sich aus ihnen ergeben; ist diese Lebensethik deshalb in der Bestimmung von Unterlassungspflichten deutlicher als in der Beschreibung der verpflichtenden oder doch zu empfehlenden Handlungen. Das zeigt sich im Umgang mit den konkreten Problemfeldern, denen der zweite Teil gewidmet ist (295–610). Die Verantwortung für das eigene Leben, für das fremde (menschliche) Leben und für tierisches Leben rücken dabei in den Vordergrund. Allerdings lassen sich die ausgewählten Fragestellungen nur teilweise diesen drei Hinsichten zuordnen. An Ge­sundheit und Krankheit soll die Verantwortung für das eigene Leben paradigmatisch verdeutlicht werden. Doch in der Durchführung tritt nicht so stark, wie man es erwarten könnte, die Gesundheitsverantwortung des Einzelnen, sondern viel stärker die heilende Intervention anderer in den Vordergrund. Im Blick auf das Selbstverständnis des Kranken spielt die Abwehr einer religiösen Deutung der Krankheit als selbstverschuldet eine größere Rolle als die Entfaltung einer Ethik des Umgangs mit der eigenen Vulnerabilität und Endlichkeit. Erst recht lassen sich die Überlegungen über die modernen Möglichkeiten von Diagnose und Therapie nicht unter den Leitgedanken der Verantwortung für das eigene Leben fassen. Die Ambivalenz der genetischen Diagnostik wird ebenso scharf analysiert, wie die Kritik an der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und das Dilemma eines sich ständig erweiternden Einsatzbereichs der Pränataldiagnostik plausibel dargelegt werden. Unter den neuen therapeutischen Verfahren werden vor allem die künstliche Beatmung und Ernährung so-wie die Organtransplantation erörtert. S. verdeutlicht, dass weder beim Beendigen der künstlichen Beatmung noch bei einem Einstellen der künstlichen Ernährung der Patient an diesen Maßnahmen stirbt; er stirbt vielmehr an seiner Grundkrankheit. Der These, die künstliche Ernährung gehöre zur »natürlichen« Basisversorgung, die auch in Äußerungen des katholischen Lehramts eine Rolle spielte, erteilt er eine klare Absage. Im Blick auf die Organtransplantation erörtert er sorgfältig die gegen das Hirntodkriterium vorgebrachten Einwände. Er entkräftet sie in einer Weise, die den Rezensenten zu einer Revision der eigenen Auffassung veranl asste; allerdings hätte S. deutlicher herausstellen können, dass auch die medizinische Rede von der »Hirntoddefinition«, nach welcher der Tod des Menschen mit dem Hirntod gleichgesetzt wird, wesentlich zu einer fehlgeleiteten öffentlichen Diskussion beigetragen hat. Denn der Hirntod als Todeskriterium muss von der Definition des Todes deutlicher unterschieden werden, als es häufig geschieht; obwohl S. das beachtet, spricht er gleichwohl von einer »Hirntoddefinition« (405 ff.). Ferner wäre es hilfreich, die Sonderkonstellation des Hirntods herauszustellen, bei dem durch intensivmedizinische Intervention Organfunktionen aufrechterhalten werden, die andernfalls mit dem Hirntod zum Erliegen kämen (dissoziierter Hirntod). Schließlich werden im Blick auf die Fortschritte der Lebenswissenschaften die Probleme der Stammzellforschung, des Klonens und der Chimären- bzw. Hybridenbildung erörtert.
Weitere wichtige Themen können nur noch erwähnt werden: Unter der Leitfrage der Verantwortung für das fremde Leben kommen Abtreibung und Euthanasie zur Sprache; in beiden geht es um die Grenzen des Lebens und damit um die Anerkennung der Würde des Menschen. Das Kapitel zur Tierethik lehnt – das ist angesichts der Überlegungen zur Sonderstellung des Menschen folgerichtig – die Vorstellung eines personalen Status der Tiere ab, formuliert aber gleichwohl hohe Standards für die Achtung des Eigenwerts der Tiere im Blick auf Tierversuche, Nutztierhaltung und Artenschutz. Doch mit guten Gründen wird die Forderung abgelehnt, eine vegetarische Lebensweise für alle verpflichtend zu machen.
Eine Schlussbetrachtung erwägt christliche Grundhaltungen der Lebensethik. Sie verdeutlicht, welches Gewicht S. tugendethischen Überlegungen zuerkennt. Verbindet man sie mit dem methodischen Ansatz, der Handlungsregeln im Blick auf ihre Ziele, ihre Mittel und ihre Folgen prüft, so kann man S. sicher als einen Bundesgenossen für das Vorhaben ansehen, Güter-, Pflichten- und Tugendethik wieder, Schleiermacher folgend, in ihrem Zusammenhang zu bedenken.
Von 1993 bis 2013 sind S.s »Ethik des Lebens« kontinuierlich neue Jahresringe zugewachsen. Das Buch hat seine Identität bewahrt, aber seinen Radius erweitert. Nur an einer Stelle hat S. sich zu einer einschneidenden Reduktion entschlossen. Das Vorläuferbuch »Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß« enthielt ein Kapitel, für das sich in der Neufassung keine Entsprechung findet: »Die globale Verantwortung für das bedrohte Leben: Bevölkerungswachstum und Familienplanung«. Es widmete sich seinerzeit ausführlich den Fragen der Familienplanung, konnte in ihr sogar einen Dienst am Leben erkennen und kritisierte in deutlichen Worten die Absage des römisch-katholischen Lehramts an »künstliche« Mittel der Empfängnisverhütung. S. vertrat eindeutig die Auffassung, dass verantwortliche Elternschaft unter Einschluss solcher Mittel moralisch weniger verwerflich ist als der Schwangerschaftsabbruch, forderte dazu auf, den »fatalen Zusammenhang von Abtreibungshäufigkeit und mangelnder Verfügbarkeit von wirksamen Methoden der Familienplanung« nicht »stillschweigend (zu) übergehen«, und bedauerte den »irrtümlichen Eindruck […] , die Lehre der Kirche stelle sich einer verantwortlichen Bevölkerungsbegrenzung der armen Länder mit einem prinzipiellen Nein in den Weg« (Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, 3. Aufl. Mainz 2000, 377.368).
Man kann heute stärker als in zurückliegenden Jahren darauf hoffen, dass diese Auffassung, die seinerzeit schon bei der Vorbereitung der Enzyklika »Humanae vitae« (1968) in einem Kommissionsbericht vorgetragen wurde, sich auch in den Äußerungen des kirchlichen Lehramts durchsetzen wird. Vielleicht findet sich hierzu eines Tages auch wieder ein Kapitel in einer künftigen Auflage dieses Standardwerks theologischer Lebensethik, das in der Durchdringung der Themen wie in der Klarheit der Argumentation gleichermaßen Bewunderung verdient.