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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1506–1507

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ricken, Friedo

Titel/Untertitel:

Ethik des Glaubens.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2012. 182 S. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-022545-9.

Rezensent:

Johannes Corrodi Katzenstein

Das Konzept dieses Buches von Friedo Ricken zeigt sich nicht auf den ersten Blick. Dazu sind die hier versammelten, größtenteils schon andernorts veröffentlichten Aufsätze des Vf.s aus den Jahren 2006–2013 thematisch zu disparat. Wie die Einleitung sagt, handelt es sich um religionsphilosophische Aufsätze, die das Verhältnis von Glaube und Vernunft zum Gegenstand haben (7). Doch das Spektrum der Themen und Denker ist groß, vielleicht zu groß: von der Sterbekunst bei Anselm bis zur Theodizee bei Alvin Plantinga, vom Verhältnis von Phronesis und ethischer Tugend bei Aristoteles bis zu Charles Taylors kritischer Auseinandersetzung mit modernen Säkularisier ungskonzepten. Und immer wieder Immanuel Kant. So könnte man den Band als eine Sammlung philosophie- und theologiegeschichtlich weit verstreuter Vignetten zur traditionellen Frage der Vernünftigkeit des religiösen (christlichen) Glaubens bezeichnen.
Die Aufsätze haben weitgehend darstellenden Charakter. Der Vf. hält sich mit Kritik an den referierten »klassischen« Positionen und Denkweisen auffallend stark zurück – was auf dem Hintergrund eines gesellschaftlich forcierten Hyperkritizismus als wohltuend empfunden werden kann. Umgekehrt werden dadurch aber auch Chancen zum weiterführenden Gespräch vergeben – besonders mit einer zeitgenössischen Philosophie, die den Topos eines realen oder imaginären Gegensatzes von wissenschaftlicher Vernunft und christlich-religiösem Glauben selbst noch als zu dekonstruierendes Residuum eines theologischen Zugriffs auf das mo­derne Denken durchschaut haben will.
Was zeichnet nun aber diejenigen Positionen und Denkweisen aus, deren positiv-würdigende Darstellung so große Teile des Bandes einnimmt? Das Axiom, das die Diskussion der ausgewählten Denker und ihrer religionsphilosophischen Ansätze bündelt, scheint in der Kantischen Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zu liegen: »Der Begriff von Gott, so die These der zweiten Kritik, gehört ursprünglich nicht zur Metaphysik oder spekulativen Philosophie, sondern zur Moral.« (159) Die Auffassung Kants, dass Moral notwendig zu Religion führt – diese aber nicht voraussetzt –, scheint auch die Auffassung des Vf.s zu sein: »Die Vernunft gebietet den Glauben. Die praktische Vernunft kann nur tätig werden, wenn sie annimmt, dass ihr höchstes Objekt, ›das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt‹, möglich ist« (96). Oder, im Kontext der Darstellung von Charles Pierces »A Neglected Argument for the Realitiy [sic] of God« aus dem Jahr 1908: »Gott ist Garant einer Ordnung, die den natürlichen Glauben an das Gute bestätigt.« Menschliches Handeln in der Welt kann nur dann als sinnhaft gedacht werden, wenn sich die Erfüllung unserer ethischen Verpflichtungen und das Ziel unseres »physischen« Strebens nach Glück als kompossibel erweisen lassen – wenn nicht in dieser, dann in einer zukünftigen Welt. Die Realität Gottes ist für das philosophische Denken so gesehen ein praktisch notwendiges Postulat. Es geht um die kognitive Sicherung der Möglichkeit menschlicher Erfüllung, deren aktuelle Realität durch die theoretische Vernunft ebenso wenig eingesehen wie sie mit theoretischen Mitteln zurückgewiesen werden kann. Im Bereich der praktischen Vernunft kann so auch eine heutige Religionsphilosophie die Rationalität des Gottesgedankens gegen einen sich als wissenschaftlich (miss-)verstehenden Atheismus alten oder neuen Stils verteidigen.
Das heißt nicht, dass sich religiöser Glaube in der intellektuellen Sicherung oder begrifflichen Artikulierung seines »praktischen« Gehalts erschöpft. Die Reflexion auf die vorreflexiven Wurzeln des Glaubens in Gefühl, Intuition und Ritual nimmt in den vorliegenden Aufsätzen eine nicht weniger wichtige Stellung ein als dessen Rechtfertigung vor dem Tribunal der kritischen (praktischen) Vernunft. Mit Friedrich Schleiermacher und William James scheint der Vf. davon auszugehen, dass der Glaube unabhängig von seinem intellektuellen Gehalt eine »bleibende Funktion« ausübt (137). Religiöses Bewusstsein gehört zur Natur des Menschen. Es wird durch den christlichen Glauben nicht etwa überwunden oder stillgestellt, sondern erfüllt.
Hier stellen sich natürlich einige kritische Fragen, von denen man gehofft hätte, dass sie zumindest angeschnitten würden. Inwiefern ist der Glaube eine empirisch oder philosophisch be­schreibbare Anlage oder Möglichkeit des Menschen? Ist ein so verstandener christlicher Glaube nicht vielmehr Ausdruck der Vermischung von Gott und Welt? Oder mit Bezug auf Kant gefragt: Warum ist Gott als Garant einer moralischen Ordnung nicht ebenso ein Idol der »reinen« praktischen Vernunft wie das höchste Sein der spekulativ-theoretischen Vernunft? Für den zeitgenössischen Philosophen Jean-Luc Nancy ist das Christentum »durch und in sich selbst eine Dekonstruktion und eine Auto-dekonstruktion«. Muss es zuletzt nicht auch noch seine innersten »religiösen« Anteile dekonstruieren und auf das »leere Herz der Leere« innerhalb seiner selbst weisen?