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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1499–1502

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Nüssel, Friederike [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schriftauslegung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. IX, 270 S. = UTB S 3991; Themen der Theologie, 8. Kart. EUR 18,99. ISBN 978-3-8252-3991-6 (UTB); 978-3-16-150805-9 (Mohr Siebeck).

Rezensent:

Ulrich Luz

Die Reihe »Themen der Theologie« hat das Ziel, Grundthemen der evangelischen Theologie aus der Perspektive der verschiedenen theologischen Disziplinen darzustellen. Der achte, von der Heidelberger Systematikerin Friederike Nüssel herausgegebene Band ist dem Thema »Schriftauslegung« gewidmet. Zu ihm beigetragen haben der Alttestamentler Jan Christian Gertz, der Neutestamentler Karl Wilhelm Niebuhr, die Kirchenhistoriker Volker Drecoll und Albrecht Beutel, der Systematiker Jörg Lauster und der Praktische Theologe Christian Albrecht. Von Friederike Nüssel stammen die Einleitung und die abschließende Zusammenschau. Jeder Autor hat versucht, wesentliche Aspekte oder einen wesentlichen Aspekt des Gesamtthemas aus der Perspektive seiner Fachdisziplin für Theologen anderer Disziplinen und für Theologiestudierende verständlich zusammenzufassen. Die Autoren haben unabhängig voneinander geschrieben und hatten offenbar keine weiteren in­haltlichen Vorgaben.
Es versteht sich von selbst, dass die einzelnen Beiträge einen un­terschiedlichen Charakter haben. Der Alttestamentler Jan Chris-­tian Gertz hat sich auf einen einzigen Problemkomplex konzentriert, nämlich die Formen innerbiblischer Schriftauslegung und ihr Zusammenhang mit der Schriftwerdung von den Anfängen bis zu den Qumrantexten. Der Neutestamentler Karl Wilhelm Nie-buhr stellt seine eigene Sicht theologischer Schriftauslegung sys-tematisch dar; er konzentriert sich dabei auf die Probleme des Verhältnisses beider Testamente, die Interpretation des Wirkens Jesu in den neutestamentlichen Zeugnissen und die Frage des Kanons. Der Patristiker Volker Drecoll gibt einen historischen Überblick über wesentliche Etappen der theologischen Exegese von der Gno sis bis ins Spätmittelalter. Albrecht Beutel stellt vier für die Kirchengeschichte wichtige Dimensionen der Schriftauslegung an vier Beispielen dar: die wissenschaftstheoretische Selbstverständigung am Beispiel Gerhard Ebelings, die vom Glauben geleitete Theoriebildung am Beispiel Martin Luthers, die neuzeitliche Verwissenschaftlichung der Bibelauslegung an der Bibelauslegung der Aufklärung und die homiletische Aktualisierung am Beispiel Jo­hann Joachim Spaldings. Der Systematiker Jörg Lauster geht von der neuzeitlichen Krise des Schriftprinzips aus. Ausdruck davon ist ein »zwischen Nostalgie, Fundamentalismus und Naivität changierend(es)« (181) Verständnis von Theologie als Schriftauslegung und die letztlich antimodernistische Wort-Gottes-Theologie von Karl Barth, welche die Methoden wissenschaftlicher Bibelauslegung in der Theologie »ort- und heimatlos« (185) gemacht habe. Er entfaltet dazu gegenläufig sein eigenes Modell von Schriftauslegung als »Erfahrungserhellung« (202). Der praktische Theologe Christian Albrecht orientiert seinen Beitrag nach einer grundsätzlichen Einleitung an den einzelnen Praxisfeldern der Bibelauslegung von Predigt und Gottesdiensten über Bibelarbeiten, private Bibellektüre bis zu Kirchenrecht und religiöser Kunst. Obwohl die einzelnen, so verschieden angelegten Beiträge nicht direkt miteinander zu vergleichen sind, gibt es einige in den meisten Texten be­handelte Grundfragen, z. B. die nach dem Stellenwert wis­senschaftlicher, besonders historisch-kritischer Methoden (44–46; 163–169; 199–205; 230–232; 245–247) oder die Frage nach der Bedeutung des Kanons (78–90; 109–111; 119–122; 188–190; 243–245). Das Sachregister ist für das vertiefte Studium dieses Bandes besonders wichtig!
Natürlich kann ich hier nicht alle Beiträge würdigen. Besonders viel gelernt habe ich von den Ausführungen Albrecht Beutels über Gerhard Ebeling: Er würdigt Ebelings Ansatz als »programmatische Retheologisierung« (148) einer weithin zu einem Teil der Profangeschichte gewordenen Kirchengeschichte, weist aber zugleich auf deren konfessionelle Engführung, denn nur einen Protestanten, dessen Kirchenverständnis von CA VII inspiriert ist, kann diese Retheologisierung voll überzeugen. Der Lutherkenner Beutel würdigt dann Luther als programmatischen Schrifttheologen, obwohl er gerade nicht »Dozent für das Alte Testament« gewesen sei (155). Er weiß aber auch um die Grenzen dieser Schrifttheologie; für Luther war die Bibel »der Denk- und Sprachraum seiner eigenen Theologie« (162). Viel gelernt habe ich auch von den konzentrierten, systematisch durchreflektierten (aber leider oft nicht leicht lesbaren!) Überlegungen von Karl Wilhelm Niebuhr: Seine knappen Ausführungen zum Verhältnis der beiden Testamente zueinander (54–69) gehören zum Besten, was ich in den letzten Jahren zu diesem Thema gelesen habe. Einige Thesen: »Erst und nur vom Neuen Testament her bekommt das Alte seinen Namen, der keine Wertbestimmung im­pliziert […], sondern eine theologische […] Verhältnisbestimmung vornimmt« (54). »Die ausdrückliche Verankerung eigener theologischer […] Aussagen frühchristlicher Autoren in den Schriften Israels stellt […] ein Proprium des Neuen Testaments dar.« (60) Die entscheidende theologische Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament liegt im Gottesverständnis, d. h. darin, dass die christ-liche Mission am »exklusiven jüdischen Gottesverständnis festhielt« (66). Sehr lesenswert sind auch Niebuhrs Ausführungen zum christlichen Kanon, den er nicht primär im Sinne Assmanns (und Harnacks!) als Dokument einer gebändigten Varianz, sondern als Buch »für den gemeindlichen, vorwiegend gottesdienstlichen Gebrauch« (86) versteht, also im Sinne Theodor Zahns. Als Einziger in diesem Band hat Niebuhr auch die enge Grenze protestantisch-theolo-gischer Ansätze überschritten und über den Schriftgebrauch in ökumenischer und interreligiöser Perspektive nachgedacht (90–99).
Sehr gerne gelesen habe ich auch die luziden Ausführungen von Jan Christian Gertz über innerbiblische »schriftbildende Schriftauslegung« (17). Gertz skizziert an Textbeispielen verschiedene Modelle des rewriting biblischer Texte und weist auch auf das Problem hin, dass manchmal »fast inflationär von innerbiblischer Exegese und Schriftauslegung die Rede« sei (34). Umso mehr habe ich bedauert, dass er auf die Frage nicht eingeht, wodurch sich die neutestamentlichen Aktualisierungen biblischer Erzählungen und prophetischer Texte auszeichnen – Niebuhrs Ausführungen zu diesem Thema finden bei Gertz keinen Widerpart. Mit Vergnügen gelesen habe ich auch die pointierten Ausführungen Jörg Laus­ters über die Krise des Schriftprinzips und Bibellektüre als religiöse Erfahrungserhellung. Die rhetorische Plausibilität seiner Po­lemiken kommt allerdings zum Teil dadurch zustande, dass seine Schüsse oft sehr ins Ungefähre gehen.
Ein solcher Sammelband unabhängig voneinander entstandener Beiträge hat auch seine Grenzen. Eine deutliche Grenze sehe ich darin, dass in den meisten Beiträgen die ökumenische Dimension der Schriftauslegung nicht berücksichtigt wurde. Eine katholische, eine orthodoxe (oder auch eine afrikanische!) Perspektive fehlt fast völlig – der Titel dieses Buches müsste eigentlich »Protestantische Schriftauslegung« heißen. Eine damit zuammenhängende Schwäche des Bandes liegt darin, dass über Schriftauslegungen in der Liturgie, in Ritualen, in der Meditation, im Lied, in der Musik oder in der Kunst in den meisten Beiträgen nicht reflektiert wird. Der Beitrag von Albrecht ist hier eine Ausnahme; aber auch bei Lauster gibt es einige Reflexionsansätze.
Die dritte Grenze des Bandes macht der Schlussbeitrag von Friederike Nüssel mit dem Titel »Schriftauslegung als Projekt der Theologie« am deutlichsten. Darin stellt sie als Leitfrage, »worin die spezifische Aufgabe und die besondere Herausforderung theologischer Schriftauslegung im Unterschied zu anderen Formen der Auslegung besteht« (239). Das ist eine Frage, die gar nicht alle Autoren explizit stellten, was die Aufgabe einer »Zusammenschau« etwas schwierig macht. Und wenn sie dann versucht, die Antworten derjenigen, die sie gestellt haben, »zusammenzuschauen«, bleibt bei mir als Leser eine gewisse Ratlosigkeit. Lässt sich etwa Lausters Analyse der Krise des Schriftprinzips mit Nüssels traditionsorientierter Feststellung, dass »das Prinzip sola scriptura« besage, »dass die Schrift selbst als der Maßstab ihrer Auslegung zu gelten habe« (251) »zusammenschauen«? Oder ist Nüssels Feststellung eher eine jener Säulen, die nach Lauster »durch die moderne Bibel- und Religionskritik zum Einsturz gebracht« (182) wurden? In welchem Sinn kann man »das Jesus-Christus-Geschehen als Mitte des Neuen Testaments« (Niebuhr, 87) bezeichnen, ohne das Opfer einer »von konfessionellen Interessen geleiteten Komplexitätsreduktion« zu werden, »die letztlich die Erfahrungsvielfalt immer nur einseitig verkürzen kann« (Lauster, 204)? Gibt es überhaupt eine protestantische theologische Schriftauslegung oder muss man eher von unterschiedlichen protestantischen Schriftauslegungen sprechen, die sich die wiederum unterschiedlich verstandene Etikette »theologisch« umhängen? Der Band lässt für mich – trotz des Versuchs der »Zusammenschau« von Friederike Nüssel – diese Frage letztlich offen. Und das ist m. E. gut so. Denn diese Offenheit ist die Voraussetzung dafür, dass um das Thema »Schriftauslegung« weiterhin theologisch gerungen wird, nicht nur unter Protestanten, sondern auch unter und mit Katholiken und Orthodoxen, und im Gespräch mit Humanisten, Atheisten und Menschen aus anderen religiösen Traditionen.