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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1488–1490

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bruder, Benedikt

Titel/Untertitel:

Versprochene Freiheit. Der Freiheitsbegriff der theologischen Anthropologie in interdisziplinärem Kontext.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XVI, 501 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 159. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-030748-1.

Rezensent:

Dirk Evers

Die von Walter Sparn betreute Erlanger Dissertation von Benedikt Bruder sucht aus evangelischer Perspektive und in theologischer Absicht das Gespräch mit Neurowissenschaften und Philosophie, um den Begriff der menschlichen Willensfreiheit zu klären. Sie schließt sich damit an eine inzwischen ganze Reihe ähnlicher Arbeiten an, die sich mit dem Verhältnis von Hirnforschung und Theologie auseinandergesetzt haben. Der Band gliedert sich in drei große Teile: Der erste fragt nach neurowissenschaftlichen, der zweite nach philosophischen, der dritte nach theologischen Perspektiven. Eine die drei Perspektiven integrierende Gesamtperspektive hat B. nicht vorgesehen. Er hält es – und darin vermag ihm der Rezensent durchaus zu folgen – für »unverzichtbar, die distinkten Herangehensweisen zunächst in ihren je eigenen Zuspitzungen darzustellen« (3). Damit stellt sich natürlich für die Studie als Hauptherausforderung die Aufgabe, bei aller Perspektivendifferenz für angemessene Bezüge zwischen den verschiedenen Disziplinen zu sorgen. Dies soll dadurch geschehen, dass B. schon innerhalb des naturwissenschaftlichen und des philosophischen Teils Grundstrukturen der dann im theologischen Teil aufgegriffenen Fragestellung herausarbeitet. Das bietet jedenfalls einige Kontaktstellen, doch ein echter Bezug der Perspektiven zueinander wird damit nicht gewonnen.
Im Einzelnen geht B. so vor, dass er im ersten Teil diejenigen neurowissenschaftlichen Forschungen darstellt, die zur Debatte um das Verhältnis dieser Einsichten zu Konzepten menschlicher Willensfreiheit Anlass gegeben haben. Die Experimente von Libet und Haggard/Eimer werden vorgestellt, um dann grundsätzlich nach der Methodik der neueren Hirnforschung zu fragen, die Hirnvorgänge mit mentalen Zuständen zu korrelieren sucht. Ausführlich wird auf den Hirnforscher Gerhard Roth Bezug genommen, dessen Äußerungen zum Verständnis von Freiheit, aber auch zu Verantwortung und Wirklichkeit B. aus verschiedenen Veröffentlichungen zusammenträgt und eingehend diskutiert. Es lässt sich allerdings fragen, ob Roths gelegentlichen Bemerkungen nicht zu viel zugemutet wird, wenn sie nicht nur als Anlass zu weiterführenden Überlegungen, sondern als veritabler Beitrag zur Freiheitsproblematik genommen werden. In der Zusammenfassung dieses ersten Teils hält B. fest, dass zwar der von den neurowissenschaftlichen Verfahren vorausgesetzte Freiheitsbegriff »zu eng gefasst« und »damit weder philosophisch diskutab[e]l« noch »alltagspsychologisch angemessen« (119) sei, aber dennoch das diskutierte Phänomen einer Entscheidung zwischen Alternativen als zentraler Zugang zur Freiheitsproblematik gelten könne. Problematisch sei es jedoch, wenn Freiheit in Kategorien von Verursachung oder Kausalität gefasst, zugleich aber ein kausal geschlossenes, deterministisches Weltbild vorausgesetzt werde. Aus ebendieser »Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Determinismus« (123) ergibt sich nach B. die entscheidende Problematik, die dann im philosophischen Teil zu behandeln ist.
Im zweiten, der philosophischen Debatte um den Freiheitsbegriff gewidmeten Teil wird nun anhand der Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus unterschieden zwischen kompatibilistischen und inkompatibilistischen Ansätzen. Als Vertreter eines philosophischen Kompatibilismus wird Michael Pauen vorgestellt, als Vertreter des Inkompatibilismus Robert Kane. An­hand dieser Gegenüberstellung soll der Blick weggewendet werden von der Frage, ob Freiheit empirisch erwiesen werden kann, hin zur Erörterung, was denn überhaupt Freiheit genannt zu werden verdient. B. gilt der von Kane vertretene Libertarismus als das reichhaltigere Freiheitskonzept. Während der Kompatibilismus sich nach seiner Analyse damit zufrieden gibt, es als hinreichend für Freiheit anzusehen, wenn der Wille ungehindert zu seinem Ziel kommt, fragt der Inkompatibilismus nach den Entstehungsbedingungen und der Binnenstruktur des Willens. Daraus entwickelt B. drei systematische »Kernpunkte«, die als Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit in Anschlag zu bringen sind: ein strenger Determinismus ist abzulehnen, Freiheit ist als Phänomen einer offenen Zeit zu verstehen, und Freiheit hat als Eigenschaft personaler Subjekte zu gelten, die zu reflektierter Selbstdistanz im Ge­genüber zu anderen Personen fähig sind.
Der dritte, theologische und als solcher umfänglichste Teil stellt nun noch einmal einen Neueinsatz dar. B. beginnt mit einer Darstellung von Luthers Freiheitsverständnis, das zum einen anhand der Auseinandersetzung mit Erasmus um den freien Willen, zum anderen anhand von Luthers Freiheitsschrift entfaltet wird. Während Erasmus zum einen Gottes strafendes und belohnendes Urteil rechtfertigen und zum anderen den Menschen zum rechten Handeln auffordern und anleiten will, liegt Luthers Interesse in erster Linie in der Heilsgewissheit. Auch die allgemeine Notwendigkeit allen Geschehens wird in dieser Perspektive und also als Grundlage christlicher Zuversicht verstanden. Man vermisst allerdings die Differenzierungen, die Luther selbst angebracht hat, wie z. B. die zwischen Notwendigkeit ( necessitas) und Zwang (coactus), was für die Frage nach der Freiheit des Willens von einiger Bedeutung wäre. Hermeneutisch hebt B. heraus, dass alle Bestimmungen menschlicher Freiheit, wie sie bei Luther vorgeführt werden, aus der »Binnenperspektive« (268 u. ö.) des christlichen Glaubens entworfen sind. Mit Binnenperspektive ist hier einerseits dies gemeint, dass die Theologie der Moderne nur so von Gott reden kann, dass sie zu­gleich vom Menschen redet, dann aber auch, dass die Struktur menschlichen Selbstbewusstseins, ja menschlicher Existenz als solcher grundsätzlich auf die Gottesbeziehung angelegt ist. Hier schließt sich B. an Eilert Herms an, illustriert diese These aber auch dadurch, dass er auf die grundsätzliche, sich auch im Verhältnis zum Anderen niederschlagende Offenheit und Beziehungsfähigkeit menschlicher Existenz im Anschluss an Levinas verweist.
Die beiden als Fazit zu verstehenden Schlussabschnitte des dritten Teils entfalten zunächst die Unfreiheit und dann die Freiheit des Menschen jeweils in systematisch-theologischer Perspektive. Die Unfreiheit des Menschen wird als Sündenlehre entwickelt. Wesentlich wird Sünde als epistemische Kategorie im Sinne einer Unkenntnis der Güte Gottes verstanden, die eine fehlgehende Selbsterkenntnis und Orientierungslosigkeit zur Folge hat. Sünde wirkt insofern Verblendung, Selbstisolierung und Entfremdung. Freiheit wiederum wird bestimmt als Resultat der Beziehungsfähigkeit des Menschen, als relationales und kommunikatives Phä nomen, und ist insofern als geradezu soteriologisches Ereignis beschrieben, nicht als vorhandene Eigenschaft des Menschen. Und so liegt es auf der Linie dieses Ansatzes, wenn der letzte Absatz der Arbeit die Überschrift »Freiheit und Zeit« (457) trägt. Damit sucht B. den Kreis zu schließen, indem er hier auf seine Verteidigung eines inkompatibilistischen Freiheitsbegriffs zurückkommt und diesen mit dem Aspekt der Heilsgewissheit oder, wie er es an dieser Stelle nennt, mit der fiduzialen Grundstruktur menschlicher Exis­tenz verbindet, die die Bedingung der Möglichkeit einer dem Menschen zugespielten Freiheit von sich selbst, zu sich selbst und zur Zuwendung zum Anderen darstellt.
Als Fazit hält er fest, dass der theologische Freiheitsbegriff der gehaltvollere ist, der den philosophischen Begriff im Hinblick auf die dem Menschen widerfahrenden Befreiungserfahrungen übersteigt und mit den in den Grenzen der empirischen Forschung bleibenden neurowissenschaftlichen Erkenntnissen nicht im Wi­derspruch steht. Damit schließt eine an vielen Stellen durchaus gelungene, mitunter etwas weitschweifige Darstellung verschiedener Positionen zur Freiheitsfrage, die aber am Ende den eigenen Anspruch, die Beziehung der unterschiedlichen Disziplinen zueinander zu klären, um damit das Phänomen der Freiheit differenzierter in den Blick zu bekommen, nur ansatzweise einlöst.