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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1455–1457

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Drobner, Hubertus R.

Titel/Untertitel:

Neu identifizierte Textzeugen zu den Predigten Augustins.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013. 378 S. m. 32 Abb. = Patrologia – Beiträge zum Studium der Kirchenväter, 28. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-631-62914-7.

Rezensent:

Clemens Weidmann

Als Mitherausgeber der Reihe »Patrologia. Beiträge zum Studium der Kirchenväter« hat Hubertus R. Drobner in dieser Reihe zehn Bände vorgelegt, die alle den Predigten des Augustinus von Hippo (354–430) gewidmet sind. Neun bieten jeweils deutsche Übersetzungen thematisch zusammengehöriger Predigten (Genesis, Apostelgeschichte, Epiphanie usw.), einer ist als Ergänzungsband zu dem 2000 bei Brill erschienenen Standardwerk Augustinus von Hippo: Sermones ad populum. Überlieferung und Bestand – Bibliographie – Indices gedacht.
Mit dem vorliegenden Band betritt D. Neuland: Sein Ziel ist die Identifizierung neuer Textzeugen zu den Predigten des Augustinus. Bekanntlich wurden in den letzten 100 Jahren vor allem in deutschen Bibliotheken bemerkenswerte Neufunde gemacht (Wolfenbüttel, Mainz, Erfurt), durch die sich nicht nur die Zahl der bekannten Augustinuspredigten erhöht hat, sondern auch bekannte Texte, die man bis dahin für vollständig gehalten hatte, sich als Kurzfassung einer »neuen« längeren Predigt erwiesen. D.s Suche ist von der Hoffnung getragen, dass »sich unter den neu identifizierten Textzeugen bekannter Predigten Augustins Versionen finden können, die bislang unbekannte Textpassagen enthalten« (16).
Ausgangspunkt für seine Suche sind die Kataloge »Die handschriftliche Überlieferung der Werke des Heiligen Augustinus«, die seit 1969 vom CSEL (damals Österreichische Akademie der Wissenschaften, jetzt Universität Salzburg) herausgegeben werden. In den ersten Bänden dieser Katalogreihe wurden Predigten nur kursorisch berücksichtigt und Homiliarien oft nicht im Detail aufgeschlüsselt. Da es, wie D. immer wieder betont, durch den technischen Fortschritt heute ungleich einfacher ist, unbekannte Texte zu identifizieren, gelingt es ihm, vor allem in den Bänden zu Großbritannien und Irland (Band 2), Polen (Band 3), Spanien und Portugal (Band 4) und Deutschland (Band 5) neue Textzeugen (oft handelt es sich um Exzerpte) zu 43 echten Augustinuspredigten sowie zu weiteren Werken Augustins oder anderer Kirchenväter (z. B. Ambrosius, Ps.-Augus­tinus) zu ermitteln. Diese Identifikationen stellen den wichtigsten wissenschaftlichen Wert dieses Bandes dar. Freilich wären bei konsequenter Anwendung der gewählten Methodik die vier Berliner Handschriften nicht zu berücksichtigen gewesen, da sie zwar nicht in Band 5, wohl aber in Band 10 (Ostdeutschland und Berlin) aufgeschlüsselt sind. D. betont, dass bei systematischer Durchsicht aller Bände »noch viele neue Identifizierungen« möglich sind (22): Auch wenn Vollständigkeit nicht angestrebt war, hätte man wenigstens die benutzten Handschriften vollständig auswerten können und so noch die eine oder andere Predigt identifizieren können (beispielsweise enthält die für Sermo 72 benutzte Handschrift Kraków, Bibl. Uniw. Cod. 1347 wie Cod. 2333 im Verband der in Ostmitteleuropa verbreiteten Sammlung XII sermones auch Sermo 367 [51v1]; auf diesen wird nicht hingewiesen).
Dass aus dem gefundenen Material nicht eine knappe Publikation in einer Fachzeitschrift, sondern ein 380 Seiten umfassendes, auf ein weiteres Publikum zielendes Buch geworden ist, liegt an der breiten Konzeption, die identifizierten Textzeugen vorzustellen. In einem ersten Teil (»Katalog«, 23–73) präsentiert D. zu allen neu identifizierten Texten in Regestenform den Titel, die Anfangs- und Endworte sowie – mit ausführlichen Literaturangaben in den Fußnoten – eine kodikologische Beschreibung der Textzeugen. Der zweite Teil ( Sermones, 75–300) stellt – wieder nach demselbem Ordnungsprinzip, allerdings mit Beschränkung auf die 43 Predigten – jeweils folgende Informationen zusammen: Zunächst listet D. die von den maßgeblichen Editionen (vor allem CCL 41, CCL 41Aa, Mauriner) verwendeten Handschriften auf; er reproduziert hier wörtlich den conspectus siglorum der kritischen Edition und/oder die von Lambot zusammengestellte Liste der von den Maurinern verwendeten Handschriften (während er sonst fremdsprachige Zitate ins Deutsche übersetzt, belässt er diese in der Originalsprache, so dass man beispielsweise Ratisbonne statt Regensburg liest). Danach folgt, eingeleitet mit einem fast formelhaften »jetzt kommt als neu identifizierter Textzeuge hinzu«, die Angabe der neuen Handschrift(en). Den wichtigsten Abschnitt bildet hier die Dokumentation der variae lectiones: Liegt eine neue kritische Edition der Predigt vor, werden nur die Lesarten der/des neuen Textzeugen und gegebenenfalls Übereinstimmungen mit für die kritische Edition benutzten Handschriften angegeben (Ausnahmen bilden Sermones 67, 110 und 341, bei denen wegen der komplizierten Überlieferungslage auf eine Dokumentation verzichtet wird); liegt nur die Maurineredition vor, druckt D. deren Text unverändert ab und präsentiert die Varianten des/der neuen Textzeugen (und nur diese) als textkritischen Apparat. Am Schluss jedes Kapitels findet sich jeweils eine schematische Bewertung der neuen Textzeugen und ihrer Varianten.
Das Ergebnis der Untersuchungen ist zwiespältig: Es ist unbestritten D.s Verdienst, zu einigen Predigten relativ alte Handschriften (z. B. für Sermo 59 in der Fassung des Caesarius, Sermo 230, Sermo 316) identifiziert zu haben; im Fall des bisher nur aus dem Codex unicus bekannten Sermo Guelferbytanus 20 entdeckte D. überhaupt erst den zweiten, wenngleich fragmentarischen, Textzeugen. Was in diesen Einzelfällen sinnvoll und nützlich ist, führt sich bei jüngeren Handschriften, deren Predigten aus bestens bekannten Sammlungen (Homiliae quinquaginta, De verbis domini/apostoli) stammen, ad absurdum. Welchen Sinn hat es denn, einen einzelnen späten Vertreter einer seit dem 9. Jh. in unzähligen Handschriften bezeugten Sammlung nur deswegen zu einem wichtigen Textzeugen zu erheben, weil er neu identifiziert wurde? Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Handschrift als Einzige den authentischen Text bewahrt hat, ist daher sehr gering; umso mehr, wenn die Predigt auch aus anderen Sammlungen bekannt ist (z. B. Sermo 70, der sich nicht nur in De verbis domini, sondern in der davon unabhängigen Sammlung von Marmoutier findet). Vielmehr zeigen einige jüngere Handschriften, dass Augustinuspredigten für neue liturgische Zwecke adaptiert und erweitert wurden (etwa Sermo 67 in einer Trierer Handschrift für die Feier des Apos­tels Mathias).
Der Band bietet keine neue kritische Edition von Augustinus­predigten, sondern druckt edierte Texte unverändert ab; nicht immer sind die neuesten Editionen verwendet (ich vermisse bei Sermo 71 einen Hinweis auf De Coninck 2006 und bei Ps.-Aug. Sermo 109 auf Sobrero 1992). Unzählige Lesarten werden aufgelistet; ihre Bewertung wird jedoch »der kritischen Textherstellung« überlassen. Ob sie dafür tatsächlich einen Wert haben, scheint mir – gegen D.s Optimismus – in den meisten Fällen sehr fraglich; denn in dem Material konnte ich – abgesehen von Sermo 230 – kaum eine Variante entdecken, die den bisher bekannten Text entscheidend verbessern würde. Einige der als »zuverlässiger als der bisherige Text« (207) hervorgehobenen Varianten erweisen sich bei genauerem Hinsehen deutlich als aus einem untauglichen Korrekturversuch hervorgegangen (211 zu Sermo 115,4,106): orate pro flentibus (so der wohl richtige Text) > orate proficientibus (R1 – Fehler durch Buchstabenverwechslung) > orate pro proficientibus (R2 – das vom Kontext geforderte pro wird von späterer Hand über der Zeile eingefügt; der so entstandene Text kann daher kaum Anspruch erheben, authentisch zu sein).
Das äußerlich sehr ansprechend gestaltete Buch schließt mit einem umfangreichen Abbildungsteil (341–378); dieser enthält viele Specimina der neu identifizierten Textzeugen.