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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1451–1453

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stanton, Graham

Titel/Untertitel:

Studies in Matthew and Early Christianity. Ed. by M. Bockmuehl and D. Lincicum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 483 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 309. Lw. EUR 149,00. ISBN 978-3-16-152543-8.

Rezensent:

Ulrich Luz

Graham Stanton (1940–2009) war nicht irgendein Neutestamentler. Er war nicht nur Inhaber des renommierten Lady-Margaret-Chair of Divinity, des ältesten Lehrstuhls an der Universität Cambridge. Nein, Graham Stanton war eine Institution. Er, der langjährige Herausgeber von New Testament Studies und der Monographienreihe der Studiorum Novi Testamenti Societas, ihr Präsident der Jahre 1996/97, hat auch während 25 Jahren den International Critical Commentary (ICC) herausgegeben. Er hat unzählige jüngere und ältere Kollegen gefördert und beraten. Er verkörperte die Stabilität und Zuverlässigkeit der britischen neutestamentlichen Wissenschaft wie kaum ein anderer. Er leistete so viel für andere, dass er sogar die eigene Forschung dahinter zurücktreten ließ. Zur Publikation seines eigenen Galaterkommentars im ICC und zu seinem Justinbuch ist er nicht mehr gekommen, weil ihn ein bösartiger Krebs vorzeitig dahinraffte. Umso verdienstvoller und nötiger war es, dass nun seine Schüler Markus Bockmuehl und David Lincicum posthum einen Band veröffentlicht haben, der die wichtigsten der kleineren Studien S.s enthält und so einen Einblick in seine Forschungsschwerpunkte ermöglicht.
Der erste Teil des Buches (9–169) enthält Studien zum Matthäusevangelium, die in den Jahren 1985–2001 entstanden sind, parallel zu seinem opus magnum »A Gospel for a New People« (1992), und die dieses weiterführen. Ein sehr vollständiger und immer noch sehr lesenswerter Forschungsbericht über die Matthäusforschung seit 1945 (»Matthean Scholarship from 1945 to 1980«) und ein Bericht über neuere Matthäuskommentare eröffnen diesen ersten Teil (9–87). Die folgenden vier Aufsätze »Matthew: Βίβλος, εὐαγγέλιον or βίος?« (89–103), »The Communities of Matthew« (105–117), »Revisiting Matthew’s Communities« (119–135) und »Ministry in Matthean Christianity« (137–152) entfalten S.s inzwischen breit rezipierte Grundpositionen zum ersten Evangelium: Der Evangelist schreibt seinen βίος Jesu für eine Reihe von miteinander verbundenen sektenartigen Gemeinden, die sich von den Synagogen schmerzhaft getrennt haben (»a … beleagered minority at odds with the parent body«, 113). Weiterführend ist besonders auch die diesen ersten Teil abschließende Studie »The Early Reception of Matthew’s Gospel: New Evidence from Papyri?« (153–169): Entgegen der klassischen These von C. H. Roberts, E. G. Turner und H. Y. Gamble sind die frühen Papyri des Matthäusevangeliums (und des Johannesevangeliums) in der Regel ziemlich sorgfältig geschrieben (eher »bookhands« als »documentary hands«) und verraten eine Nähe zu einer literarischen Kultur und auch einen gewissen Wohlstand der christlichen Gemeinden. Der zweite Teil des Aufsatzes enthält Erwägungen zur Frühgeschichte des Codex, den S. nicht für eine christliche »Erfindung« hält, und zu seinen Vorstufen, den verschiedenen Gestalten antiker Notizbücher.
Der zweite Teil des Bandes enthält zwölf Studien zu anderen neutestamentlichen Fragen (173–336). Für mich der wichtigste Aufsatz ist der mittlere der drei Paulusaufsätze, nämlich Nr. 17: »The Law of Moses and the Law of Christ: Galatians 3,1–6,2« (293–309). S. hätte den Galaterkommentar im ICC schreiben sollen. Was hier vorliegt, ist eine erste Skizze dessen, was er in seinem großen Kommentar zu sagen beabsichtigte. Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Galater den von Paulus diktierten Brief gehört und nicht gesehen haben. Da mussten sich ihnen die durchgehenden Antithesen, die von 2,15 an den Brief dominieren, einprägen. Die wichtigste ist die Antithese zwischen πίστις und ἔργα νόμου, die »like key musical notes« (295) die folgenden Kapitel durchzieht. Sie wird moduliert durch andere Stichworte: τέκνα, ἐπαγγελία, ἐλευθερία auf der einen Seite, κατάρα und die δοῦλος-Wortgruppe auf der anderen. Von diesen grundsätzlichen Antithesen her ist es unwahrscheinlich, dass die Galater die Antithese zwischen Glauben und Werken des Gesetzes im Sinne der new perspective auf die Juden von Heiden unterscheidenden Gebote wie Beschneidung und Speisevorschriften beschränkt haben. S. kommt von hier aus zu einer Galaterinterpretation, die sehr nahe bei der »traditionellen«, von Luthers Galaterauslegung inspirierten liegt, und untermauert sie mit treffenden Beobachtungen und mit Analogien aus Justins Dialog mit Trypho. Die Themen der übrigen Aufsätze dieses Teils kann ich nur andeuten: Sie beschäftigen sich mit methodischen Fragen, den Voraussetzungen neutestamentlicher Wissenschaft (173–185), der Formgeschichte (187–198) bzw. der historisch-kritischen Methode überhaupt (323–336). Vier Aufsätze beschäftigen sich mit christologischen Problemen. Darunter ist ein Aufsatz über die Christologie von Q (209–221), einer über christolo gische Ansätze in der Evangelientradition (199–208), einer über Inkarnationschristologie (223–235) und einer über das Verhältnis neutestamentlicher Christologien zu jüdischen messianischen Erwartungen (237–259). Ein kurzer Aufsatz ist Bultmanns Jesusbuch gewidmet (261–267), ein anderer dem lukanischen Stephanusbild (269–280).
Die sieben Aufsätze des dritten Teils beschäftigen sich mit Justin und anderen Texten des 2. Jh.s, vor allem dem Kerygma Petrou und den Pseudo-Clementinen (339–439). Justin wurde für S. im Laufe seines Forscherlebens immer wichtiger, weil er in seinem Dialog mit Trypho eine Auseinandersetzung mit dem Judentum fand, die manche Analogien zum Matthäusevangelium aufweist. Die Grundlinien seines geplanten Justinbuches werden in den vier Justin-Aufsätzen des dritten Teils allerdings nur ansatzweise erkennbar, denn die Aufsätze beschäftigen sich vor allem mit Spezialfragen: In zweien geht es um die heidnischen »Gottesfürchtigen« in den Synagogen, für deren (manchmal bestrittene) Existenz Justin ein Zeuge ist (351–375). Für heutige Diskussionen über das »Auseinandergehen der Wege« von Juden und Christen im 2. Jh. ist von Bedeutung, dass S. sowohl bei Justin als auch bei seinen jü-dischen Gesprächspartnern Tendenzen zu klaren Abgrenzungen ausmachen kann: Er interpretiert den »Dialog« nicht als Versuch, Juden für den Glauben an Christus zu gewinnen, sondern als Versuch, »Gentiles who did not appreciate the differences … with a weak level of attachment either to Christianity or to Judaism« (374, vgl. 360) zu klareren Grenzziehungen zu motivieren. Die drei anderen Aufsätze beschäftigen sich mit den beiden Parusien Christi bei Matthäus und Justin (339–349), Justins Verständnis des Geistes (377–389) und seinem Verständnis von Selbsttod und Martyrium (391–404). Besonders hinweisen möchte ich auch auf den kurzen, reizvollen Aufsatz »Aspects of Early Christian and Jewish Worship: Pliny and the Kerygma Petrou« (405–417). Er schließt mit einer selten gestellten, aber wichtigen Frage: »Why were only two of the Jewish festivals (Passover and Pentecost) taken over and adapted by Christians?« (417) Alles Übrige »was simply abandoned«. Christ-licher Gottesdienst war im 2. Jh. etwas ganz Neues, »very different from synagogue worship« (ebd.).
Ein vollständiges Publikationsverzeichnis S.s und Register schließen den sorgfältig gestalteten Band ab. Seine Leser sind den beiden Herausgebern dankbar dafür, dass sie die Fragmente von S.s unvollendet gebliebenem wissenschaftlichen Werk zugänglich gemacht haben und dadurch zugleich die Erinnerung an einen großen Forscher, Kollegen, Berater und Freund wachhalten.