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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1439–1442

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Seow, C. Leong

Titel/Untertitel:

Job 1–21. Interpretation and Commentary.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. XXVIII, 971 S. m. 31 Abb. = Illuminations. Geb. US$ 95,00. ISBN 978-0-8028-4895-6.

Rezensent:

Markus Witte

Mit diesem Werk aus der Feder des am Princeton Theological Seminary Altes Testament lehrenden Choon-Leong Seow wird die neue Kommentarreihe »Illuminations« eröffnet, die eine allgemein verständliche, literarisch und theologisch orientierte Interpretation mit einer akribischen philologischen und forschungsgeschichtlichen Erschließung unter ausführlicher Berücksichtigung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte verbindet. S., der zugleich Hauptherausgeber der Reihe ist, hat mit dem ersten Teilband der Kommentierung des Hiobbuches ein opus magnum vorgelegt, an dem sich alle weiteren Bände werden messen lassen müssen.
Allein die Einführung in den Kommentar umfasst 248 Seiten. Sie bietet die gegenwärtig gründlichste Übersicht zur Text- und Sprachgeschichte des Buches Hiob. Ausführlich werden hier auch die hebräischen und aramäischen Fragmente zum Buch Hiob aus Qumran, die in die »Hiob-Septuaginta« eingeflossenen griechischen Übersetzungen sowie linguistische und poetologische Be­sonderheiten des Hiobbuches diskutiert. Hier schlägt sich die profunde Kenntnis der Semitistik (einschließlich der Epigraphik) S.s nieder, wenn er mit guten Gründen die Sprache des Hiobbuches als ein bewusst archaisierendes, sich aufgrund seines narrativen setting fremdländisch gebendes Hebräisch klassifiziert, das so nicht vor dem 6. Jh. v. Chr. denkbar sei. Das Phänomen, dass die ur­sprüngliche griechische Übersetzung des Hiobbuches, der Old Greek, etwa ein Sechstel kürzer als der Masoretische Text ist, sei übersetzungstechnisch bedingt und weise nicht auf eine substantiell andere hebräische Vorlage hin. Bei den Überschüssen des Old Greek in Hi 2,9 und in 42,17 handele es sich um Zusätze aus der Zeit vor dessen Bearbeitung durch Origenes. Selbstverständlich werden die Leser auch ausführlich über die sogenannte »Hiobliteratur« des Alten Orients informiert.
In literarhistorischer Hinsicht spricht sich S. für die Annahme eines Verfassers aus. Die literarischen und theologischen Unterschiede zwischen dem Prosarahmen und der Dichtung, die strukturellen und inhaltlichen Besonderheiten im dritten Redegang (nach S.s Abgrenzung Hi 22–26) und im Bereich der Elihureden (Hi 32–37) und das Gegenüber der ersten und der zweiten bzw. dritten Gottesrede (Hi 38–39; 40,1–41,26) werden mittels der Annahme von Ironie, Parodie, Mischung von Gattungen aus Kult, Recht und Weisheit, einer bewusst mehrdeutigen Terminologie und dramatischer Gestaltung erklärt.
Damit liegt S. im Trend ganzheitlicher Auslegungen, wie sie im Blick auf das Hiobbuch verstärkt seit den 80er Jahren des 20. Jh.s vor allem im angelsächsischen Raum vertreten werden. Wenn S. literar- und redaktionsgeschichtliche Mo­delle, die mit einem mehrstufigen Wachstum des Hiobbuches rechnen und die die theologisch mehrdimensionale Diskussion im Buch als Spiegel einer literar- und religionsgeschichtlichen Entwicklung zu verstehen ver- suchen, als Atomisierung und methodisch nicht abgesicherte Spekulation bezeichnet (229), so zeigt sich die Distanz S.s zu eigentlich literarhistorischen Analysen der israelitisch-jüdischen Literatur. Dies wird auch bei dem insgesamt sehr holzschnittartigen Raster zur näheren Datierung des Hiobbuches deutlich, dessen Verfasser zwar (ausweislich von Hi 19,23 f.) die Behistun-Inschrift des Da-reios I. aus dem Jahr 515 v. Chr. kenne sowie das Jeremiabuch und »Deuterojesaja«, aber noch nicht »Tritojesaja« voraussetze. Die komplexe Fortschreibungsgeschichte so­wohl des Jeremia- als auch des Jesajabuches, die bis in das 3. Jh. v. Chr. ragt, kommt hier nicht in den Blick.
Originell ist die von S. vorgestellte thematische Gliederung des Buches Hiob in vier große Blöcke, bestehend aus dem Prolog (Hi 1,1–2,13) mit zwei Prüfungen Hiobs, einem Dialog Hiobs mit seinen drei Freunden, der als dritte Prüfung (!) Hiobs zu verstehen sei (Hi 3,1–31,40), einer zweigeteilten Antwort an Hiob, zum einen aus dem Munde Elihus in Form einer vermittelten Offenbarung, zum anderen aus dem Munde Jahwes in Form direkter Offenbarung (Hi 32,1–41,26), sowie dem Epilog (Hi 42,7–17), in dem einerseits Hiobs Rede über und zu Gott als richtig bezeichnet werde (Hi 42,7; vgl. 91 f.) und andererseits Hiob gemäß Ex 22,3.9 doppelt restituiert werde (Hi 42,10). Schon an diesem Gliederungsvorschlag wird eine Besonderheit von S.s literarischem und theologischem Gesamtverständnis des Hiobbuches ersichtlich: So rechnet er die als literarisch einheitlich betrachteten Elihureden im Gegensatz zum Ergebnis einer Reihe neuerer redaktionsgeschichtlicher Analysen zum ursprünglichen Bestand und weist ihnen – im Gegensatz zur Rezeption des Hiobbuches im Testament Hiobs aus dem 1./2. Jh. n. Chr., das in Elihu ein Werkzeug des Satans sieht, aber z. B. mit Maimonides (1138–1204) – einen wichtigen Beitrag zur Theologie des Hiobbuches zu. Während die Freunde das Leiden Hiobs retrospektiv als Strafe deuteten und die Ursache für Hiobs Ergehen in dessen früherem Leben sähen, verstehe Elihu das Leiden prospektiv als erziehende Maßnahme Gottes für Hiobs künftiges Leben. Die besondere Bedeutung Elihus, der ausweislich seines Namens als Vertreter der kanaanäischen El-Tradition erscheine, zeige sich auch daran, dass er zwischen Hiobs Reinigungseid in Kapitel 29–31 und den Gottesreden in Kapitel 38–41 vermittele. Ohne Elihus Vorarbeit kämen diese aus der Baal-Theophanie-Tradition stammenden Gottesreden für Hiob (und die Leser) ganz unvorbereitet.
Insgesamt gelingt es S. eindrucksvoll, die einzelnen Figuren des Hiobbuches einschließlich seines Verfassers als Repräsentanten unterschiedlicher Theologien zu würdigen und das Buch als einen auf höchst kunstvolle Weise verdichteten Diskurs von Erfahrungs-, Traditions-, Inspirations- und Offenbarungstheologien auszulegen. Eigentliches Thema des Hiobbuches sei letztlich nicht die Ge­rechtigkeit oder die Theodizee, sondern die Frage, wie angesichts der Erfahrung des Chaos von Gott geredet und wie uneigennützig Frömmigkeit gelebt werden könne. Mithin gehe es im Hiobbuch in genuinem Sinn um Theologie und ›Theo-Ethik‹ (106). Der Dichter gebe zwar Antworten auf die Frage unschuldigen Leidens, aber nicht die Antwort. Die Welt sei letztlich so, wie sie ist, und Gott sei eben, auch wenn ihn der Erzähler in der Begegnung mit dem Satan als verletzlich und angreifbar stilisiere, absolut frei und entziehe sich menschlichen Maßstäben.
Besonderen Raum nimmt die Darstellung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte ein, die als »history of consequences« betitelt wird. Dabei wird nicht nur einleitend ein breiter Überblick über die Geschichte des Buches Hiob und seines Protagonisten von den spätantiken Targumen über jüdisches, christliches und muslimisches Mittelalter und Neuzeit bis in die gegenwärtige Literatur und Kunst geboten, sondern auch im Rahmen der Auslegung finden sich immer wieder Exkurse zur besonderen Wirkungsgeschichte eines Abschnitts des Hiobbuches, sei es in jüdischer und christlicher Liturgie, Aufklärungsphilosophie oder »Theologie nach Auschwitz«. Aus der Welt der graphischen und bildnerischen Kunst sind dem Band 31 Abbildungen (in schwarz-weiß) beigegeben, die exemplarisch vor Augen führen, wie Hiob in der christlichen, jüdischen und islamischen Kunst vom 4. Jh. n. Chr. bis heute gesehen wurde.
Die nach Abschnitten des Hiobbuches gegliederte Auslegung selbst, die für die erste Hälfte des Hiobbuches rund 750 Seiten beansprucht, wird jeweils mit der Übersetzung eröffnet, an die sich die Interpretation im Überblick sowie der einzelnen philologischen, realienkundlichen, literarischen und forschungsgeschichtlichen Spezialfragen gewidmete Kommentar anschließen. Wie den Teilkapiteln der Einführung ist jedem Kapitel der Auslegung eine ausführliche Bibliographie beigegeben. Auf die eigentliche Kommentierung kann in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden. Sie überrascht aber immer wieder mit ungewöhnlichen und tiefsinnigen Einzeldeutungen, so, wenn beispielsweise die zumindest in der christlichen »history of consequences« wirkmächtigste Stelle Hi 19,25 f. als ein ironischer Versuch Hiobs verstanden wird, Gott mittels der traditionellen Epitheta »Erlöser«, »Lebendiger« und »Letzter« zum Handeln zu bewegen, der letztlich sogar zum Erfolg geführt habe (vgl. Hi 38,1; 42,5). Stets kommen in der Kommentierung Stimmen früherer Hiobauslegungen zu Wort, so dass S.s Buch auch eine Fundgrube für die Auslegungsgeschichte im engeren Sinn ist. Abgeschlossen wird das gewaltige, gut lesbare und ästhetisch sehr ansprechend gestaltete Werk mit einem ausführlichen Register zu behandelten Themen, Autoren und Quellentexten. Nicht nur für die Hiobforschung ist zu hoffen, dass der zweite Teilband in nicht allzu großer Ferne erscheint.