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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1433–1435

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Frolov, Serge

Titel/Untertitel:

Judges.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. XV, 374 S. = The Forms of the Old Testament Literature, VIB. Kart. US$ 55,00. ISBN 978-0-8028-2967-2.

Rezensent:

Walter Groß

Unter den zahlreichen neueren Kommentaren zum Richterbuch nimmt dieser Kommentar von Serge Frolov eine besondere Stellung ein, da er einerseits nach den Vorgaben der Reihe, in der er erschienen ist, besonderen Wert auf formkritische Analysen legt, andererseits keine kontinuierliche Satz-zu-Satz-Auslegung bietet, sondern die Texte jeweils auf Motivkombinationen und Leitthemen befragt. F. berücksichtigt sehr breit die umfangreiche Sekundärliteratur. F.s methodischer Zugang zu Ri als Teil eines größeren literarischen Werks, das er als Enneateuch identifiziert, ist konsequent synchron, Vorstufenrekonstruktionen oder redaktionsgeschichtliche Erwägungen spielen (abgesehen von den Simsonerzählungen) keine Rolle, ganz am Ende zieht er überraschend einige diachrone Konsequenzen.
F. begründet zunächst die Untergliederung des Richterbuches in drei Hauptteile: I: Ri 1,1–26; II: Ri 1,27–3,6; III: Ri 3,7 – 1Sam 7,17. Dieser dritte Hauptteil, der den größten Textbestand des Ri um­fasst, erstreckt sich bis nach 1Sam hinein und zerfällt in Ri selbst in sechs Teile bzw. Zyklen, deren fünf den Erzählungen über die jeweiligen »Großen Richter« entsprechen, deren sechster aber von Simson bis Samuel und Saul reicht, den Kommentargrenzen entsprechend jedoch nur hinsichtlich seiner Ri-Anteile ausführlich behandelt wird. Dieser sechste Teil untergliedert sich in Ri in vier Sektionen: die Erzählungen über Simson, über Micha, über Jonatan (herkömmlich: über die Landnahme der Daniten; nach F. jedoch über den levitischen Priester als Hauptperson, den F. nach Ri 18,30 mit dem Moseenkel Jonatan identifiziert) und über die Schandtat von Gibea samt Folgen. Die Textunterteilungen – nicht aber die Konzeption des sechsten Teils – entsprechen, soweit Ri betroffen ist, im Wesentlichen dem auch in der übrigen Kommentarliteratur Üblichen mit Ausnahme der überraschenden Ausgliederung einer eigenen »Micha-Sektion« Ri 17,1–6, die keine Rücksicht darauf nimmt, dass der hier eingeführte Micha bis Ri 18,26 eine Rolle spielt und das hier eingeführte Kultbild JHWHs schließlich in Ri 18,30–31 im Heiligtum in Dan aufgestellt wird.
Die so eruierten Teiltexte werden jeweils unter den Gesichtspunkten Textkritik (wo notwendig), Struktur, literarisches Genus, »setting« (Sitz im Leben oder in der Literatur) und Intention analysiert. Die Struktur erhebt F. rein formal aus textlichen Indizien (z. B. syntaktische Variation, Eröffnungsformeln, Rahmung, Er­zähler­kommentare), unter den Überschriften »setting« und »inten-tion« gibt F. auch seine Textinterpretationen, wobei die jeweilige Aufteilung der inhaltlichen Aspekte auf diese beiden Überschriften unklar bleibt.
Die Frage nach den literarischen Genera erbringt kaum Unerwartetes. Es handelt sich jeweils fast ausschließlich um »narrative« mit den Realisierungen als »story«, »narrative series«, »anecdote« oder »notice«, daneben begegnen »Liste«, »Rätsel«, »Sprichwort«. Methodisch unklar bleibt, wie sich zu diesen formalen Kategorien inhaltlich gefüllte Kategorien wie »Eroberungsbericht« (zu Ri 1,1–26), »prophetisches geschichtliches Beispiel« (Lied der Debora), »prophetische symbolische Auslegung eines Ereignisses aus der Vergangenheit« (Jotam-Fabel), »martial exploit notice« (zu Ri 3,31), »Bundesbericht« (der gesamte Enneateuch) verhalten.
Da F. rein synchron fragt, kann nicht verwundern, dass sich als »setting« fast ausnahmslos »Sitz in der Literatur«, und zwar im En­neateuch ergibt, der vor 560 von königlichen Schreibern am Exils-hof König Jojachins verfasst wurde. Deuteronomistisches Ge­schichtswerk wird als Alternative abgelehnt. Zu den geringen Ausnahmen zählen mit Sitz in der mündlichen Überlieferung die Jotamfabel und seltsamerweise die Listenteile der »kleinen Richter«, nicht aber das Deboralied. Bezüglich der Simsonerzählungen urteilt F. diachron: Die einzelnen Episoden entstammen überwiegend mündlichen Erzählungen aus Stammes- oder lokalem Familienkontext, wurden aber von einem Schreiber im Rahmen des Enneateuch zusammengestellt. Mit welchem Recht allerdings die »annunciation story« Ri 13,2–25 auf mündliche Entstehung und Überlieferung zurückgeführt wird, der der bearbeitende Schreiber kaum eine Wendung hinzufügte, bleibt angesichts der starken Anlehnung an Ri 6,17–24 aus dem Gideonzyklus schleierhaft.
Die charakteristischen Beiträge zur Interpretation des Ri leistet F. durch seine inhaltlichen Auslegungen, die sich aus der Bestimmung der »intention« der Textteile und des gesamten Ri ergeben. Sie sind methodisch äußerst problematisch. Hier zeigt sich ein Problem seines synchronen Ansatzes. F. kann und will die Vielschichtigkeit der Erzählungen nicht anerkennen. F. sieht zwei sich ergänzende Tendenzen: die projudäische und die promonarchische, beide auf das da­vidische Königtum zielend. Sie wurden auch schon immer im Richterbuch beobachtet, aber F. macht daraus eine alles beherrschende These. Methodisch bedenklich sind vor allem seine Bewertungen der »Großen Richter«, die er nur sehr partiell an den Texten ausweisen kann und durch die er gelegentlich sogar den im Text vorhandenen Bewertungen direkt widerspricht. Da er keine Satz-zu-Satz-Auslegung gibt, entgeht er der Notwendigkeit einer Gegenkontrolle.
Eine durchgängig prodavidische und projudäische Tendenz kann F. nur behaupten, indem er an den Richtern außer Otniël, dem Verwandten Kalebs, der als Einziger aus dem judäischen Süden stammt, nicht nur die tatsächlich vorhandenen Schwächen herausarbeitet, sondern diese unter erheblichem Aufwand an Phantasie generell abwertet, indem er antimonarchische Textstü-cke wie Gideons Ablehnung dynastischer Herrschaft und die Jotamfabel umdeutet:
Da Ehuds Taktik an den Jordanübergängen (Ri 3,28–29) angesichts des verfetteten moabitischen Militärs auch ohne den Königsmord effektiv gewesen wäre, erweist sich der brutale Mord am unbewaffneten König als völlig überflüssiger terroristischer An­schlag. Indem Ehud zu diesem Zweck bei den Götterbildern umkehrt, »springt er in den Sumpf der Kanaanaisierung«. Durch seinen zweischneidigen Dolch ermordet er nicht nur den König, sondern auch seinen eigenen Charakter. Die erfolgreiche Flucht durch die Toilette beschmutzt seine Würde. Debora fasst den verhängnisvollen Beschluss, die Schlacht nicht selbst zu leiten, sondern gibt die Führung an Barak ab und ruiniert so ihren eigenen Siegerruhm. Jaëls Mann Heber hat als Schmied wohl Siseras eiserne Wagen gebaut und gewartet, Jaël war somit ehemals durch ihren Mann eine Unterdrückerin Israels und versucht durch den verräterischen Mord an Sisera lediglich, ihre Haut zu retten. Dass das Lied Ri 5 Barak und Debora, die Führer Israels, zugleich mit der ehemaligen Unterdrückerin Jaël preist, ist purer Hohn. Die beklagte Passivität vieler Stämme weist indirekt darauf hin, dass ein zentralistisch führendes Königtum militärisch effektiver wäre, und durch die Nichterwähnung Judas, das so einem Tadel als Nichtteilnehmer entgeht, zeigt das Lied indirekt an, dass dessen Königtum damit gemeint ist. Auf übermäßigen Fernsehkonsum lässt die Tatsache schließen, dass F. dem gesamten Teil Ri 4,1–5,31 die völlig unpassende Überschrift gibt: »desperate housewives«. Gideon war ein Feigling durch und durch; die Anrede »tapferer Krieger« durch den Boten JHWHs Ri 6,12 ist daher ironisch gemeint. Dass er später die Bewohner Sukkots und Penuëls wegen Feigheit vor dem Feind so hart bestraft, erweist ihn als Heuchler. Dass er beklagt, JHWH habe Israel verlassen und den Midianitern ausgeliefert, zeigt seine religiöse Unbildung. Die Ablehnung der Krone Ri 8,23 entsprach nicht JHWHs Willen, sondern war ein Fehler Gideons, denn JHWH will gar nicht König Israels sein, sondern hat laut Dtn 17,14–20 das Königtum eines Israeliten vorgeschrieben. Da er entgegen dem Angebot der Krieger auch seine Nachfolge nicht regelt, ist die Katastrophe unter Abimelech direkte Folge. Die Erzählung von Abimelech ist nicht antimonarchisch, sondern richtet sich lediglich gegen die schlechte Ausübung des an sich guten Königsamtes; dasselbe gilt von der Jotamfabel. Der Erzählung von Jiftach Ri 10,6–12,15 gibt F. die Überschrift »JHWHs Braut«, erklärt somit die namenlose Tochter zur Hauptperson. Nicht nur Jiftach, sondern auch seine Tochter ist zu tadeln, weil sie, indem sie ihre Opferung akzeptiert, einem ungeeigneten Kultakt zustimmt; da solche Kult­akte andernorts als »Huren« bezeichnet werden, prostituiert sie sich dadurch selbst, obgleich der Text zweimal ihre Jungfräulichkeit betont. Der biblische Erzähler ermöglicht dem Leser die seit Abraham Ibn Ezra im 12. Jh. vertretene Auslegung, die Tochter sei gar nicht auf dem Altar geschlachtet worden, sondern habe als Braut JHWHs weitergelebt. Als der Bote JHWHs der zukünftigen Mutter Simsons verkündete, ihr Sohn werde damit beginnen, Israel von den Philistern zu befreien, hat er sich getäuscht. Simson war ein völliger Versager. Die verbrecherischen Komponenten seiner Taten zeigen, dass er einem »banditry« nahekommt. Juda spielt in den Simsonerzählungen eine jämmerliche Rolle. Das beeinträchtigt jedoch nicht die projudäische Tendenz des Ri, denn die Sim-sonepisoden wurden erst sekundär eingefügt; ebenso scheidet F. 1Sam 1,1–7,17; 8,1–22 wegen der antimonarchischen Tendenz als redaktionelle Interpretation aus dem ursprünglichen enneateuchischen Zusammenhang aus. In der kurzen Erzählung von Micha, seinem Gelddiebstahl und seiner Hauskapelle Ri 17,1–6 führt exegetische Spekulation zu dem Ergebnis: Michas Mutter ist identisch mit Delila, insofern Micha vielleicht sogar Sohn Simsons. So leitet die Erzählung von dem letzten Richter und Versager Simson über zu den katastrophischen Erzählungen am Ende des Ri. Zu der Episode vom ephraimitischen Leviten und seiner Nebenfrau Ri 19 schließlich deutet F. eine veritable Allegorese an; die Namenlosigkeit des Paares ermöglicht, es auf JHWH und Israel zu beziehen.
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