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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1428–1430

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hempel, Charlotte

Titel/Untertitel:

The Qumran Rule Texts in Context. Collected Studies.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XXIII, 396 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 154. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-152709-8.

Rezensent:

Peter Porzig

Das Buch enthält die gesammelten Studien der zweifellos zu den besten Kennern der Handschriften vom Toten Meer, allen voran der »Rule Texts«, d. h. der Regelliteratur, gehörenden Autorin (insbesondere Damaskusschrift »D«, Regel der Gemeinschaft [Særæḵ ha-Yaḥad], kurz »S«, und verwandte Texte). Für jeden Interessierten ist es eine Freude, dass die 17 Studien aus 17 Jahren nun in dieser Form greifbar sind. Dabei umfassen sie mehr, als der bescheidene Titel verrät: H. präsentiert ein (in den Regeltexten lediglich fokussiertes) Gesamtbild des Phänomens »Qumran«, das sich bei aller Vielfältigkeit der einzelnen Studien und aller Komplexität des Materials als beeindruckend geschlossen erweist. Dabei spiegelt die Sammlung zugleich die (nach Meinung des Rezensenten notwendige) Offenheit H.s gegenüber neuen Einsichten und Erkenntnissen wider. Eine 32-seitige, übergreifende Bibliographie – zugleich ein ausgezeichneter Überblick über die einschlägige Literatur zum Thema – sowie hilfreiche Verzeichnisse zitierter Stellen und mo­derner Autoren sind dem Band beigegeben.
Die Einleitung stellt die Aufsätze, nicht ohne einen feinen Hu­mor, in den Rahmen der aktuellen Forschungssituation. Das geschieht anhand von acht Abschnitten, die den Teilen des Buches entsprechen (s. im Folgenden) und sich nacheinander mit 1. dem Wesen der Gemeinschaft(en), 2. ihren Anfängen, 3. den Traditionen der Gemeinschaftsregel, 4. ihrem engen Verhältnis zur Damaskusschrift, 5. den Regeln im Kontext von Weisheits- und Rechtstexten, 6. dem Priestertum, 7. dem Verhältnis zu den später biblischen Schriften und schließlich 8. mit der Frage nach dem Charakter der Texte aus Höhle 4 insgesamt beschäftigen.
1. Nachdem die grundlegenden Texte innerhalb von S und D zu Struktur und Organisation/Ämtern in der Gemeinschaft erläutert sind, beschäftigt sich ein Kapitel mit dem Verhältnis von D zur Regel der Gemeinde (1QSa). Inzwischen geradezu klassisch ist H.s Einsicht, dass in 1QSa ein älterer, frühqumranischer oder -essenischer Kern (1QSa I, 6–II, 11a*) von einer zadokidischen Redaktion gerahmt wurde, die 1QS V nahesteht und die Regeln an das »Ende der Tage« verlegt.
2. In D finden sich mehrere Berichte von der Entstehung der Qumrangemeinschaft, aus denen vorsichtig gefolgert werden kann, dass letztere sich von einer älteren Bewegung abgespalten hat, die vielleicht auch hinter 1Henoch und dem Jubiläenbuch erkennbar ist. Solche Vorgängerinnen der Gemeinschaft waren zunächst möglicherweise kleinere Zusammenkünfte Gleichgesinnter; erst später wurde daraus die scharf nach außen abgegrenzte (und abgrenzende) Gruppe, die heute so dominant zu sein scheint.
3. Wie sich an den 4QS-Manuskripten quasi in Momentaufnahmen zeigt, sind die Regeltexte, nicht anders als die biblischen Bücher, Ergebnis eines komplizierten Redaktions- und Wachstumsprozesses, den es für jede der Textformen einzeln nachzuvollziehen gilt. Eine einfache Alternative, etwa »den« älteren/jüngeren Textvertreter zu finden, wird dem Befund kaum gerecht. Es ist eine der großen Stärken der Studien H.s, diesen Weg zu beschreiten, der sich für die Bücher der Hebräischen Bibel so vorzüglich bewährt hat (und bewährt) und der, wie sich nicht zuletzt hier zeigt, überaus angemessen und notwendig ist, den Tiefendimensionen der Texte auf die Spur zu kommen.
4. Die Verwandtschaft von S und D ist das Thema des nächsten Teils. Neben einer Untersuchung des komplizierten Verhältnisses von CD XX zu 1QS VIII–IX werden die Schriften in den Kategorien des »Rewriting« betrachtet (vgl. auch die »Serekh-redaction« in den gesetzlichen Passagen von CD: Ch. Hempel, The Laws of the Damascus Document, StTDJ 29, Leiden 1998). Den Wert dieser Ansätze, zuerst gemeinsam bei einem Göttinger Workshop 2009 entwickelt (137, Anm. 1), konnte zuletzt A. Steudel demonstrieren (RdQ 26 [2012], 605–620; vgl. bereits R. G. Kratz, RdQ 25 [2011], 199–227). Die Priorität eines Exemplars eines mehrfach überlieferten Texts (A. Schofield: 1QS) findet hingegen keine Bestätigung.
5. Die Regeltexte stehen in vielschichtigen Beziehungen zu den Weisheitstexten aus Qumran, was H. anschließend untersucht. Der Begriff des maśkîl etwa kommt in beiden Bereichen vor – doch ist nicht immer klar, wo damit ein Amt in der Gemeinschaft und wo einfach ein »Einsichtiger« (so die Grundbedeutung) bezeichnet wird. Die Möglichkeit, dass es sich an keiner der Stellen um den Träger eines festen Amtes handelt, zieht H. dabei nicht in Betracht. Ein Vergleich von D mit der Miqṣāt Ma’aśeh ha-Tôrāh (4QMMT) zeigt, dass beider Halacha ein allgemeines priesterliches Interesse verrät. Für beide Texte muss überdies mit der Aufnahme quellenhafter »collections of halakhot« nach Art von 4Q159 (= 4QOrdinancesa) gerechnet werden.
6. Spezieller geht H. nun auf das offenbar hinter jenen Texten stehende Priestertum ein. Die Bedeutung der »Söhne Aarons« und später der »Söhne Zadoks« ist, so H., erst nach und nach zum jetzigen Stand gewachsen. Die Erwähnungen der Zadokiden scheinen dabei die der Aaroniden vorauszusetzen, aber nicht umgekehrt. – Gern wüsste man, was das für eine Dynamik der Struktur der Qumrangemeinschaft genau bedeutet, doch ist zugleich fraglich, ob man über erste Ansätze hinausgelangen kann.
7. Die Bedeutung des Danielbuchs für die Qumrangemeinschaft kann schwerlich überschätzt werden. Doch weder eine scharfe Trennung der Trägerkreise (St. Beyerle) noch die Position einer Übernahme danielischer Sprache in Qumran (M. Henze) treffen den Punkt: Vielmehr dürfte, so H., hinter den Qumrantexten (d. h. dem entstehenden Yaḥad) und dem Danielbuch grundsätzlich der gleiche Trägerkreis stehen und seine Spuren hinterlassen haben, lediglich in unterschiedlichen Phasen der Gruppenbildung; auch in der Sozialstruktur ist eine entsprechende Entwicklung (ausgehend von Esr–Neh) zu beobachten. Im Vergleich mit dem biblischen Material kommt H. schließlich auf die Frage eines autoritativen »Endtexts« zu sprechen. Wie auch die Bezeugung der später kanonischen Bücher zeigt, ist die Suche nach solch einem »Endtext« in der damaligen Zeit wenig aussichtsreich. Fluidität und Pluralität im handschriftlichen Material machen nicht an den Grenzen zwischen »biblischem« und »nichtbiblischem« Material halt, sondern beides entsteht in einem gemeinsamen Milieu. In den Worten des Rezensenten: Die Qumrantexte setzen im Grundsatz genau den Prozess fort, der sich im Wachstum »biblischer« Bücher zeigt, nicht selten knüpfen sie direkt an ihn an.
8. Eine Erklärung für die Pluralität der Textformen und -inhalte führt H. schließlich zu der anregenden Hypothese, dass Höhle 4 den »learned Hub of the Qumran elite« repräsentiere. Die Annahme geographisch verschiedener Provenienz der Texte ist laut H. unnötig, wenn man mit einer »fluid textual tradition not unlike the textual fluidity of the emerging scriptures« rechnet (337).
Qualität und Bedeutung der Studien H.s müssen nicht erneut betont werden. Hinter viele der Einsichten, die sowohl die Methodik als auch die Pluralität der Texte und Inhalte sowie einstige, in Folge der Funde aus Höhle 4 jedoch fraglich ge­wordene Sicherheiten betreffen, wird man kaum mehr zurückgehen können (und wollen) – auch dann nicht, wenn man nicht jedem Detailergebnis zustimmen möchte. Denn auch dafür gilt der Satz: »Rather like learning to swim, the security of the floor and the sides are what stops us letting go and experiencing the freedom of swimming in deep water. Once we are there, what appeared to be a threat at first turns into pleasure.« (21) Diese Freude am Studium der Texte ist zugleich die Freude des Lesers dieses Bandes. Sie ist ansteckend.