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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1426–1428

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Dönitz, Saskia

Titel/Untertitel:

Überlieferung und Rezeption desSefer Yosippon.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XII, 339 S. = Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism, 29. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-152663-3.

Rezensent:

Michael Tilly

Der Sefer Josippon kann als das erste hebräische Prosawerk des europäischen Mittelalters gelten. Er enthält eine im 10. Jh. in Süditalien von einem unbekannten jüdischen Autor verfasste Bearbeitung und Fortschreibung der Geschichtswerke des Flavius Josephus. Thema der vorliegenden judaistischen Studie von Saskia Dönitz, die bereits im Sommersemester 2008 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und für die Drucklegung gründlich überarbeitet wurde, sind zum einen die Überlieferung und die Wirkungsgeschichte des Textes bis ins frühe 14. Jh. und zum anderen seine Funktion und Bedeutung im Kontext des mittelalterlichen jüdischen Geschichtsbildes und -bewusstseins.
Das einleitende erste Kapitel (1–34) thematisiert die Entstehung, die Quellen und den Charakter dieser (bald mit der in Josephus, Bell. 1,3 erwähnten aramäischen Fassung des »Jüdischen Krieges« identifizierten) Kompilation lateinischer Übersetzungen von Schriften des Flavius Josephus, umfangreicher Auszüge aus der Vulgata und weiterer nichtjüdischer Texte. D. unterscheidet mit David Flusser drei inhaltlich verschiedene Redaktionen des in einem biblischen Hebräisch geschriebenen Sefer Josippon, den sie dem Genre der Historiographie zurechnet. Einem konzisen Blick auf die Geschichte der Region seines Entstehens folgt eine Skizze der neueren und gegenwärtigen Forschungspositionen hinsichtlich der Existenz einer konturierten jüdischen historiographischen Literatur im Mittelalter, die in ein Plädoyer für die Erweiterung der diesbezüglichen Quellenbasis mündet: »Neben dem Verfassen war auch das Fortschreiben vorhandener Quellen ein wichtiger Teil historiographischer Tätigkeit in der jüdischen Literatur des Mittelalters« (27).
Im zweiten Kapitel (35–102) geht es um die pluriforme Handschriftenlage und um die komplexe Text- und Überlieferungsgeschichte des Sefer Josippon. D. setzt sich hierbei von David Flussers textgeschichtlichem Modell und dem von ihm rekonstruierten eklektischen Text ab, indem sie (unter Berücksichtigung zahlreicher erstmalig ausgewerteter Zeugen) die anfängliche Verbreitung der Redaktion A vor allem im Orient lokalisiert, die Hinzufügungen und Auslassungen der Redaktion B mehreren Bearbeitungsstufen zuweist und die umfassenden Interpolationen der »langen« Redaktion C als das Werk des spätmittelalterlichen Gelehrten Jehuda ben Leon Mosqari betrachtet.
Das dritte Kapitel (103–122) nimmt die Überlieferung, den historischen Hintergrund und die Rezeption der verschiedenen judaeo-arabischen Übersetzungen des Sefer Josippon aus den Kairoer Ge-niza-Fragmenten in den Blick. D. merkt an, dass die Übersetzungen zum einen das Bedürfnis nach Informationen über die Ge­schichte des Zweiten Tempels in den jüdischen Gemeinden aus dem arabischsprachigen Kulturraum befriedigte und zum anderen auch koptischen Christen und muslimischen Historikern die Hinwendung zu und Rezeption von jüdischer Kultur und Geschichte ermöglichte.
Die Frage, welche Autoren (vornehmlich exegetischer und liturgischer) Werke welche Inhalte des Sefer Josippon in welchem Kontext zitieren, behandelt das ausführliche vierte Kapitel (123–203). Bei der Betrachtung seiner Rezeption anhand der intertextuellen Bezüge zu anderen hebräischen Texten aus dem Bereich der mittelalterlichen jüdischen Literatur konzentriert D. ihre Analyse auf Zitate und Referenzen als Spezialfälle intertextueller Beziehungen. Während dergestalte Bezugnahmen auf das Werk in der historisierenden Bibel- und Talmudexegese mehrheitlich vor dem Hintergrund von Auseinandersetzungen mit dem Geschichtskonzept der zeitgenössischen christlichen Mehrheitsgesellschaft zu betrachten seien, hätten die Verfasser von Pijjutim und Pijjutkommentaren vor allem zur narrativen Ausgestaltung ihrer Dichtungen auf die in ihm enthaltenen Geschichtsdarstellungen (insbesondere der Er­eignisse der Makkabäerzeit) zurückgegriffen. Ein Exkurs (197–203) behandelt die Aufnahme von Zusätzen zum biblischen Esterbuch, die nur in der Texttradition der Septuaginta überliefert sind.
Das fünfte Kapitel (205–261) befasst sich mit der Rezeption des Sefer Josippon in narrativen Geschichtsdarstellungen in der he­bräischen Literatur. Dabei findet D. in der Megillat Antiochus und in den Chanukka-Midraschim auffällig wenige inhaltliche und motivliche Übereinstimmungen. In den Seder Olam-Texten hingegen sei die Verwendung der Schrift als chronologische und ge­nealogische Quelle für die Zeit des Zweiten Tempels augenfällig. Die Bearbeitung von Abraham ibn Daud habe den Ursprung aller jüdischen Häresien in dieser Epoche aufzeigen wollen. Die deutenden Allusionen auf die Martyriumserzählungen in der hebräischen Paraphrase des Josephus in jüdischen Berichten zum Ersten Kreuzzug schließlich stünden in engem Zusammenhang mit der aktuellen Erfahrung von Entrechtung, Verfolgung und Ermordung.
Ein Fazit aus den bisherigen Einzelergebnissen zieht das sechste Kapitel (263–274), das die identitätsstiftende Funktion des Sefer Josippon akzentuiert: »Am Beispiel der Überlieferung und Rezep-tion des SY ließ sich ablesen, dass sich das mittelalterliche Ge­schichtsbewusstsein an der Deutung vergangener Ereignisse orientiert, die sich als konstitutiv für das jüdische Selbstverständnis unter den Bedingungen des Exils und in Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft erwiesen« (274). Ein Anhang (275–277) listet die Handschriften nach Interpolationen auf. Beigegeben sind ein Literaturverzeichnis (279–310) und Register der angeführten Stellen (311–322), behandelten Handschriften (323 f.), modernen Autoren (325–329), Personen, Sachen und Orte (331–339).
In ihrer lesenswerten Studie ist es D. in beeindruckender Weise gelungen, anhand gründlicher und philologisch gediegener Analysen und Interpretationen des verwickelten handschriftlichen Befundes sowie mit historischem Sachverstand die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte eines bedeutenden jüdischen Geschichtswerkes zu erhellen.