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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1056–1058

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kliesch, Fabian

Titel/Untertitel:

Das Ethos der Bundesärztekammer. Eine Untersuchung ihrer Verlautbarungen zu Themen des Lebensanfangs und Lebensendes.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2013. 455 S. m. 6 Tab. = Edition Ethik, 10. Geb. EUR 74,00. ISBN 978-3-8469-0017-8.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Zu den Tendenzen der modernen medizinischen Ethik gehört – neben der Orientierung an ethischen Grundnormen der Verfassung und an der Gesetzgebung, der Tätigkeit interdisziplinärer Einrichtungen und politikberatender Gremien (wie etwa dem Nationalen Ethikrat) – die Fortführung des Standesethos in berufsrechtlichen Kodizes. Fabian Kliesch hat in seiner von Wilfried Härle betreuten Heidelberger Dissertation mit den Empfehlungen und Richtlinien der Bundesärztekammer (BÄK) als Spitzenorganisation der ärztlichen Selbstverwaltung solche Kodizes eingehend untersucht.
Seine als theologisch-ethische Analyse entfaltete Untersuchung widmet sich dem ärztlichen Ethos, wobei K. mit der Bundesärztekammer darunter »begründete und im gesamtgesellschaftlichen Diskurs eingebrachte ethische Positionen« (13; dort kursiv) versteht. Den konkreten Untersuchungsgegenstand bildet die Be­handlung der Themen an den Grenzen des Lebens in den Verlautbarungen der Bundesärztekammer, die exemplarisch einer detaillierten Analyse unterzogen werden. Bezogen auf den Lebensanfang handelt es sich um die materialethischen Themenfelder Schwangerschaftsabbruch (SSA), Reproduktionsmedizin und Pränataldiagnostik (PND), bezogen auf das Lebensende um Sterbebegleitung bzw. -hilfe.
In methodischer Hinsicht zeichnet sich die Arbeit durch einen anspruchsvollen und aufwändigen regelrecht exegetischen Zugriff auf ihren Gegenstand aus. Nachdem Kapitel 1 (18–52) mit der Ge­schichte und Struktur der Bundesärztekammer zunächst die Voraussetzungen institutioneller ärztlicher Medizinethik be­leuchtet und Kapitel 2 (53–78) die verwendeten Quellen, ethischen Grundbegriffe und Themen der Untersuchung einführend klärt, werden die Verlautbarungen der Bundesärztekammer in den Kapiteln 3 und 4 einer diachronen (79–277) und synchronen Textanalyse (278–333) unterzogen. Unter diachronem Aspekt (Kapitel 3) erfolgt zu­nächst die Darstellung der chronologischen Entwicklung des Bundesärztekammer-Ethos, wozu K. alle Versionen von Bundesärztekammer-Verlautbarungen zu den ausgewählten Themen in einer Synopse zusammenstellt und so anhand von Veränderungen und Kontinuitäten (Variablen und Konstanten) den Entwicklungs-verlauf der ethischen Positionen der Bundesärztekammer nachzeichnen kann (vgl. dazu die Synopsen im Anhang [373–445]). Die synchrone Textanalyse (Kapitel 4) widmet sich den themenübergreifenden Positionen und Konzepten, die in den Verlautbarungen sichtbar werden. Als Querschnittsthemen treten dabei die Freiheit des Arztberufs, die Beratungs- und Dokumentationspflicht wie das ärztliche Gewissen in Erscheinung (295–302.310 f.). Zugleich un-terzieht K. die themenübergreifenden Positionen und Konzepte einem Vergleich mit kirchlichen Verlautbarungen (vor allem der EKD), was auch die Profilierung der inhaltlichen Tendenzen des Bundesärztekammer-Ethos ermöglicht. Durchgängig berücksichtigt K. dabei den zeitgeschichtlichen Hintergrund.
Im abschließenden Kapitel 5 (334–338) gewährt K. einen Ausblick und benennt Konsequenzen sowie Forschungsdesiderate. Dazu rechnet er einen internationalen Vergleich standesethischer Positionen und Konzepte (z. B. Auswertung der Deklarationen des Weltärztebundes), das klärungsbedürftige Verhältnis von Empirie und Ethik insbesondere angesichts der Berufung auf empirisch feststellbare Mehrheiten im Blick auf ethische Positionen, sowie die Erforschung der Umsetzung der Richtlinien in die Praxis. Unter bleibende Herausforderungen subsumiert er die Verhältnisbestimmung von Standesethik und Recht, die Verständigung über zugrundliegende ethische Konzepte und weltanschaulich e Voraussetzungen (etwa bezüglich Menschenwürde und Menschenbild) sowie den Umgang mit Wertepluralismus in Ärzteschaft und Gesellschaft.
Als Fazit des Vergleichs zwischen Bundesärztekammer- und EKD-Verlautbarungen notiert K. große positionelle Übereinstimmungen sowie konzeptionelle und pragmatische Differenzen: »Große Kongruenzen zeigen die EKD und die BÄK darin, wie sie die Kernprobleme der Themenfelder Reproduktionsmedizin, SSA und Sterbehilfe grundsätzlich bewerten. Positionelle Differenzen sind nur dort auszumachen, wo die BÄK medizinisch etablierte Maßnahmen aus ärztlicher Sicht positiver bewertet, als es die EKD tut. So wird weder die IVF als Methode infrage gestellt noch eine grundsätzliche Verwerflichkeit eines SSA nach PND formuliert. Differenzen zwischen EKD und BÄK kommen darüber hinaus dort zum Vorschein, wo Begründungen für die ethischen Positionen gegeben werden. Dies ist vor allem bei den Gründen für die Bewertung der unterschiedlichen Sterbehilfeformen der Fall und zeigt sich auch in der unterschiedlichen Einschätzung des Verhältnisses von Selbstbestimmung und Fürsorge« (332).
Indes zeichnet sich die Untersuchung nicht nur durch eine präzise Darstellung der Übereinstimmungen und Differenzen bzw. – allgemein gewendet – des Ethos der Bundesärztekammer aus. Ethik ist grundsätzlich mehr als die Darstellung des Ethos und der Moral einer Gemeinschaft von Menschen, nämlich zugleich deren Kritik (so etwa W. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen 2008, 14). Und beides gehört grundsätzlich zur ethischen Reflexion, wie K. sie auf das Ethos der Bundesärztekammer hin vollzieht. D. h., dass er auch Kritik – wenngleich nicht pauschal, sondern differenziert im Interesse an Kooperations- und beiderseitigen Lernmöglichkeiten zwischen Ärzteschaft und Kirche – üben kann.
So kritisiert er etwa, dass die Bundesärztekammer die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe und der ärztlichen Beihilfe zum Suizid ethisch unzureichend begründe, was die Gefahr mit sich bringe, ärztliche Ethik gleichsam rechtspositivistisch von der Gesetzeslage abhängig zu machen. K. beobachtet also in den Verlautbarungen der Bundesärztekammer auf der Begründungsebene teilweise einen Begründungsmangel sowie fernerhin einen Eklektizismus in der Wahl ethischer Konzepte. Zutreffend identifiziert und kritisiert K. »eine Tendenz, die die Rede von einem verbindlichen ärztlichen Ethos zum Schweigen bringt und Moralvorstellungen in die Privatsphäre verschiebt. Abseits von dieser Entmoralisierungstendenz ist bei den Handlungsregeln, die (noch) ethisch begründet werden, eine konzeptionelle Inkohärenz festzustellen. Je nach Themenfeld und Gremium scheinen andere ethische Konzepte vorzuherrschen, sodass sich der Eindruck einer Patchwork-Ethik ergibt« (335).
Umgekehrt könne – so das Monitum K.s an die kirchliche Adresse – die EKD von der Bundesärztekammer im Blick auf die Selbstverständlichkeit und Effektivität ihrer Interessenvertretung im Diskurs und in politischen Entscheidungsprozessen lernen. Indes kritisiert K. wiederum, dass die Bundesärztekammer im Unterschied zum EKD-Text »Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen« aufgrund eines übergeordneten Konsensverständnisses oft nur den kleinsten gemeinsamen Nenner benennen könne, anstatt analog zum innerkirchlichen Pluralismus Dissense in gehaltvolle Argumentationshilfen münden zu lassen. Gleichwohl atme auch das Ethos der Bundesärztekammer den Geist der Liebe, wenngleich »es sowohl bei der EKD als auch bei der BÄK Bereiche gibt, in denen der Geist der Liebe noch nicht rein genug zu Darstellung gekommen ist« (333). Hier kommen nun freilich die Grenzen der verdienstvollen und nachdrücklich zu würdigenden Untersuchung in den Blick, zumal eine theologisch-ethische Perspektive bezüglich einer solchen Argumentationsfigur vertiefterer theologischer Urteilsbildung in kriteriologischer Hinsicht (etwa im Zusammenspiel von Pneumatologie und Christologie) bedarf.