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Ausgabe: | Dezember/2013 |
Spalte: | 1361–1364 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Mather, Cotton |
Titel/Untertitel: | Biblia Americana. America’s First Bible Commentary. A Synoptic Commentary on the Old and New Testaments. Vol. 1: Genesis. Ed., with an Introduction and Annotations, by R. Smolinski. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck; Grand Rapids: Baker Academic 2010. XIX, 1337 S. m. 8 Abb. Lw. EUR 219,00. ISBN 978-3-16-150190-6 (Mohr Siebeck); 978-0-8010-3900-3 (Baker Academic). |
Rezensent: | Markus Wriedt |
Cotton Mather (1663–1728) aus Boston gehört als puritanischer Geistlicher und Gelehrter zur dritten englischen Auswanderer- und Siedlergeneration in den nordamerikanischen Kolonien Neuenglands. Die männlichen Vorfahren väterlicherseits gehörten bereits zur intellektuellen Elite der zweiten (Increase Mather) bzw. ersten Generation (John Cotton, Richard Mather) von religiösen Migranten in Boston. Cotton bezog knapp zwölfjährig das College in Harvard, um sich auf das Predigtamt vorzubereiten. Sein Vater als Präsident der Einrichtung konnte ihm die akademischen Ehren eines Bachelor mit 15 und eines Master mit 18 Jahren überreichen. Entsprechend vorbereitet hielt er bereits 1680 vor der Gemeinde seines Vaters seine erste Predigt. Nach dessen Tod 1685 übernahm er die Stelle. In die Politik der Kolonien mischte er sich 1688 zugunsten einer erfolgreichen Revolte gegen den königlichen Statthalter in den neuenglischen Kolonien ein.
Mather verteidigte den orthodoxen Puritanismus in etwa 450 Büchern und Pamphleten, kritisierte dessen lehrmäßige Aufweichung und geißelte die Säkularisierung der amerikanischen Zivilkultur. Auf die berüchtigten Hexenprozesse von Salem wirkte er mit seinen Ratschlägen auf zahlreiche Schuldsprüche ein und zeichnete sich insgesamt durch eine unnachgiebige Haltung aus. Dennoch war Mather in anderen Angelegenheiten ein durchaus fortschrittlicher und wissenschaftlicher Gelehrter. Sein Hauptwerk »Magnalia Christi Americana« begann er 1693. Es stellt bis heute eines der wichtigsten Werke der neuenglischen Geschichtsschreibung dar. Freilich erschien schon seinen Zeitgenossen das siebenbändige Werk als allzu pedantisch und überbordend. Die Kritik gegenüber der Magnalia richtete sich zum einen gegen die Fülle von Verweisen und Zitaten auf die Bibel und klassische Motive, aber auch gegen Mathers Verquickung von Heils- und Weltgeschichte.
Dennoch repräsentiert Mathers großes Werk bis heute die Kontinuität puritanischer Wesenszüge in der amerikanischen Geistesgeschichte sowie in der heilsgeschichtlichen Überhöhung der neuenglischen Geschichte als amerikanischer Geschichte den seit der Gründung der Kolonien vorherrschenden Erwählungsglauben der neuenglischen Puritaner.
Während dieses Werk durch seine Publikation und Bereitstellung in Bibliotheken einen gewissen öffentlichen Rang erhielt, blieb ein weiteres, an Umfang und detailversessener Fülle den Magnalia allemal ebenbürtiges Werk handschriftlich für nahezu 300 Jahre verborgen. Zwischen 1693 und 1728 hatte Cotton Mather den ersten zusammenhängenden Kommentar zu den kanonischen Schriften auf nordamerikanischem Boden in insgesamt 4500 Folio- Seiten, gebunden in sechs Bänden, verfasst. Er kombiniert darin eine extensive Kenntnis der bibelwissenschaftlichen Debatten seiner Zeit und verbindet diese mit wissenschaftlichen Spekulationen ebenso wie mit Hinweisen zur praktischen Frömmigkeit. Sein Kommentar spiegelt die aufkommende Aufklärung in den bri-tischen Kolonien ebenso wie die sich dieser entgegenstemmende frömmigkeitliche Bewegung des »Great Awakening«. Historische Kritik findet sich hier bereits in einer elaborierten Form, auf die Kontinentaleuropa noch gute 100 Jahre warten musste. Mittelalterlichen Kommentatoren nicht unähnlich kompiliert Mather in seinem Werk eine kaum zu überschauende Menge an Autoren von den Kirchenvätern über die mittelalterlichen und reformatorischen Theologen bis hin zu den Rabbinen, Schriften der antiken Geschichtsschreibung, Geographie oder gar neuesten philologischen und philosophischen Streitigkeiten höchster Aktualität.
Es ist der bemerkenswerten Zusammenarbeit des Mohr Siebeck Verlages und der Baker Academic zu verdanken, dass sie sich unter Vermittlung des jetzt in Heidelberg lehrenden Professors für die Geschichte des Nordamerikanischen Christentums Jan Stievermann auf das verlegerische Risiko einer Edition und Drucklegung des handschriftlich überlieferten Fundes aus dem Archiv der Massachusetts Historical Society eingelassen haben. Die Gesamtausgabe ist auf zehn Bände projektiert, deren erster 2010 unter Federführung von Reiner Smolinski mit einem Gesamtumfang von 1337 Seiten erschienen ist. Er enthält die kritisch editierte Kommentierung zum ersten Buch des Alten Testaments, der Genesis. Dieser Edition ist eine mehr als 200 Seiten umfassende ausführliche Einleitung vorangestellt, die auch dem Unkundigen eindrücklich vermittelt, um was für ein Werk es sich handelt, biographische Informationen zum Urheber gibt, vor allem aber das wissenschaftliche Werk von Mather einordnet, Verbindungen zu Quellen rekonstruiert und ausführlich auf die zitierten Werke, mithin den Referenzrahmen der stupenden Gelehrsamkeit des Kolonialgeistlichen verweist.
Hierbei lassen sich – aus nachträglicher Perspektive – zwei entscheidende Dimensionen der Rezeption europäischer Gelehrsamkeit erkennen: zum Ersten die naturrechtlich-aufgeklärte Perspektive der Suche nach dem inneren Zusammenhang von na-turwissenschaftlicher Erkenntnis und biblisch-theologisch approbierter Wirklichkeitsinterpretation. Bemerkenswert ist dabei, dass Mather es eben nicht auf die späterhin gern verwendete antagonistische Verhältnisbestimmung im Sinne eines Glaube oder Vernunft hinauslaufen lässt, sondern im Sinne einer wechselseitigen Interdependenz oder Komplementarität nach der Synthese von naturwissenschaftlicher, historisch-kritischer Erkenntnis und biblischer Offenbarungsaussage sucht. Wie noch näher zu zeigen ist, ermöglicht die Textvorlage des Buches Genesis hierbei historische Reminiszenzen zu höchst aktuellen Themen wie Fragen der Anthropologie (Gentechnologie und Geburtenkontrolle), der Schöpfungslehre (Kreationismus), der Sprachentstehung und -verwirrung (Sprachevolution, Semantik, Semiotik u. v. a. m.), Zeit und Weltraum im Sinne der biblischen Astronomie, bis hin zu einer teleologischen Geschichtsschau und ihrer impliziten Erklärung von Bösem und Leid in der Welt. Erkennbar setzt sich Mather dabei mit Positionen des Rationalismus, Empirismus sowie des begin nenden englischen Deismus auseinander. Erste Theorien einer biblischen Hermeneutik werden im Umfeld der Wunderdebatte und der Probleme im Kontext poetischer Hyperbole oder Metaphorik entworfen.
Die zweite Dimension ist in der Einordnung und Charakterisierung Mathers als Theologe, Schriftgelehrter und kontroverstheologischer Polemiker zu sehen. Faktisch scheitern die klassischen Typologien an der Performation einerseits radikal-konservativer, starrer puritanischer Orthodoxie, die nicht zuletzt auch in den Beiträgen zu den Hexenprozessen von Salem zutage traten, und weltoffen, fast liberal anmutender Rezeptionsfreudigkeit im Blick auf naturwissenschaftliche, philosophische und erkenntnistheoretische Überlegungen im Zusammenhang der europäischen Frühaufklärung. Die bisherige Geschichtsschreibung, insbesondere die konfessionelle Kirchengeschichtsschreibung, muss sich angesichts eines Phänomens wie Cotton Mather fragen lassen, ob die erkenntnisleitenden Theorien und daraus folgende Systematisierungen wirklich angemessen sind. Mather ist insofern ein spannendes Beispiel für die Vielgestaltigkeit des nordamerikanischen Puritanismus einerseits und für die Entwicklungsfähigkeit und wachsende Selbständigkeit der theologisch-philosophischen Reflexion fernab von den Ursprungsorten europäischer Philosophie in den Kolonien Nordamerikas andererseits. Am Beispiel der Auslegung des ersten Buches der Bibel stellt Mather wesentliche Argumente zu Fragen der Autorschaft des ersten Buches Mose – faktisch des gesamten Pentateuch – zusammen und fragt nach den Grenzen der historischen Kritik angesichts der Folgen für das Gesamtwerk, eine »Biblia Americana« und die Theologie. Er diskutiert zudem rezeptions- und quellenkritische Befunde im Zusammenhang der Behauptung Spinozas, dass der Pentateuch eben nicht die gesamte biblische Überlieferung umfasst – vor allem das Problem verlorener Bücher der Heiligen Schrift sowie das Problem der Verbalinspiration der alttestamentlichen Propheten. Insbesondere die Existenz zweier Schöpfungsberichte, zweier Dekaloge und weiterer Doppelungen bzw. Widersprüche ruft nach einem vernünftigen Entscheid über die Versionen. Die Einleitung Smolinskis gibt dazu ausführlich Hinweise und stellt das Werk Mathers auch in seinen zeitgeschichtlichen Kontext, insbesondere aber setzt Smolinski die Sammlung vergleichbaren Unternehmen fast der gleichen Zeit komparatistisch zur Seite.
Nach einer ebenso wichtigen wie ausführlichen Einführung in die editorischen Prinzipien der Wiedergabe beginnt auf S. 213 dann der eigentliche Textcorpus. Er beginnt mit zwei historisch-chronologisch erstellen Kanonharmonisierungen des Alten und des Neuen Testaments. Mather erstellt damit eine eigenwillige, freilich das Geschichtsverständnis seiner Zeit höchst eindrücklich repräsentierende Chronologie der alttestamentlichen Bundesgeschichte und ihrer biblischen Zeugnisse. Gleichermaßen erstellt er eine Evangelienharmonie, welche mit einer Weltzeitchronographie bis in die Zeit der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. reicht und die Entstehung der paulinischen Schriften inkludiert.
Der eigentliche Kommentar beginnt mit folio 55r und steigt sofort mit der Frage der Vereinbarkeit moderner Entdeckungen und dem biblischen Schöpfungsbericht in die Auseinandersetzungen seiner Zeit ein. In Form von scholastisch anmutenden Quaestiones werden Probleme dialogisch abgehandelt und entschieden. Freilich verzichtet Mather auf die syllogistische Logik und argumentiert unter den Bedingungen seiner Zeit mit den Mitteln der Vernunft.
Die Frage- und Antwort-Passagen leiten immer wieder über zu umfassenden Traktaten, in denen Antworten der Tradition bis hin zur Gegenwart seiner Zeit gegeben und diskutiert werden. Von Philo über die Kirchenväter, pagane Weisheitsschriften, alttestamentliche und neutestamentliche Belege sowie naturwissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen werden sie beispielsweise zu Gen 1,26 herangezogen und füllen gute 20 Seiten des gedruckten Kommentars. Gleich im Anschluss geht es weiter mit einer extensiven Diskussion der Frage der Schöpfungsordnung und der Chronologie der Schöpfungstage und den ersten naturwissenschaftlichen Einsichten in die Entstehung von Flora und Fauna.
Eine ähnlich spektakuläre Sammlung von Weltwissen findet sich erneut zu Kapitel 10 und der darin enthaltenen Geschichte vom Turmbau zu Babel. Nach einer den Maßstäben moderner Geographie entsprechenden Analyse der Genealogie Noahs setzt Mather fort, die geographisch-archäologische Suche nach Babel und dem Turm minutiös aus der Überlieferung zu rekonstruieren. Ab Spalte 3165 widmet er sich sodann dem Sprachenproblem und den genealogischen Relationen der Nachfahren Noahs zu den entstehenden Sprachkulturen. Im Druck umfassen diese Passagen knapp 100 Seiten.
Viele weitere, von tiefgründiger, enzyklopädischer Gelehrsamkeit und einem unbändigen Ordnungswillen gekennzeichnete Seiten folgen und tragen bei zu einem überwältigenden, freilich auch ermüdenden und vor der Wissensmenge kapitulierenden Leseeindruck. Es kann die Aufgabe einer Rezension nicht sein, das wirtschaftliche Risiko eines solchen Unternehmens einzuschätzen. An der Geschichte des Christentums in Nordamerika interessierte Wissenschaftler und solche, die sich zu transatlantischen Wech-selwirkungen, Kulturtransfers und Wissenschaftsentwicklungen äußern, finden in diesem Band – und dann wohl auch in allen weiteren neun noch ausstehenden – eine unendlich wirkende Mine frühaufgeklärter Bildung gleichsam in termini civilisationis. Freilich, dazu tragen nicht zuletzt der Umfang des Werkes und der damit verbundene finanzielle Aufwand zu seiner Anschaffung bei, wird das Werk es kaum in den Kanon der Bücher mit examensrelevantem Grundwissen schaffen. Angesichts der fortschreitenden Studienreformen in den akkreditierungspflichtigen Modulordnungen wird es auch kaum ein Seminar geben, das sich ein Semester ausgiebig mit dieser vielfältigen und schillernden Quelle beschäftigen wird – dies sicherlich zum Nachteil der Studierenden der neuzeitlichen Geistesgeschichte und der an der Geschichte der Auslegung der Bibel Interessierten. Umso mehr ist es dem Herausgeber und den sein Projekt unterstützenden Verlagen zu danken, dass sie dennoch und unbeeindruckt von den Moden gegenwärtiger Wissensorganisation das Wagnis der Drucklegung eingegangen sind und so einem dann hoffentlich bald wachsenden Leserkreis das Vergnügen einer zahlreiche Vorurteile revidierenden Lektüre eines Textes aus dem 17./18 Jh. ermöglichen. In jedem Falle kann dem nächsten Band mit gespannter Aufmerksamkeit entgegengeblickt werden.