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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1232–1234

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Luttenberger, Joram

Titel/Untertitel:

Prophetenmantel oder Bücherfutteral? Die persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen im Licht antiker Epistolographie und literarischer Pseudepigraphie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 430 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 40. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03063-7

Rezensent:

Armin D. Baum

Sollten alle drei Pastoralbriefe nachpaulinisch sein, waren Tit und 2Tim literarische Fälschungen, während 1Tim ein täuschungsfreies Pseudepigraphon war. Diese These entfaltet Joram Luttenberger, Dozent am Gnadauer Theologischen Seminar Falkenberg, in seiner von Jens Herzer betreuten Dissertation. Damit knüpft er an den Versuch an, im Neuen Testament zwischen Pseudepigraphen mit und solchen ohne Täuschungsabsicht zu unterscheiden (vgl. ThLZ 135 [2010], 1104–1107).
L. geht davon aus, dass für Vertreter eines nachpaulinischen Ursprungs der Pastoralbriefe die Interpretation der Personalnotizen das größte Problem darstellt (12). Handelte es sich bei den zahlreichen Mitteilungen über die Lebensumstände des Paulus um transparente Fiktionen oder sollten sie den Lesern vortäuschen, dass sie es mit echten Schreiben des Paulus zu tun hatten?
Um die Absender- und Adressatenangaben, die übrigen Namen und die persönlichen Mitteilungen vom Verdacht einer Täuschungsabsicht zu befreien, hat man ihnen eine übertragene Be­deutung bzw. exemplarische Funktion zugeschrieben: Die Adressaten Timotheus und Titus seien literarische Gestalten, die typologisch zeigen sollten, dass Gemeindeleiter Vorbilder sein müssen (1Tim 4,12; Tit 2,7). An Paulus sei fiktiv und paradigmatisch das Problem der Verlassenheit demonstriert worden und an Demas die Gefahr des Abfalls (2Tim 4,10). 2Tim 1,5 habe anhand der fiktiven Frauen Lois und Eunike auf die Bedeutung von gläubigen Eltern und Großeltern hingewiesen (21–84).
L. geht in seiner Untersuchung der Frage nach, ob sich solche Interpretationen angesichts dessen, was wir über die Verwendung persönlicher Notizen in anderen antiken Briefkorpora wissen, halten lassen. Als zeitgenössisches Vergleichsmaterial zieht L. andere griechisch-römische Briefsammlungen heran: Die Chion-, Sokrates- und Sokratikerbriefe können insgesamt als transparente literarische Pseudepigraphen gelten (220–244). In der Platonbriefsammlung wurden die wahrscheinlich echten Briefe 6–8 durch zehn pseudepigraphe Briefe ergänzt, die teilweise (Brief 1–3; 9; 13) mit und teilweise (Brief 4–5; 6–8; 10–12) ohne Täuschungsabsicht verfasst wurden (207–220).
Wirkliche und literarische (d. h. transparent pseudepigraphe) Briefe lassen sich nach L. anhand von zwei Kriterien unterscheiden:
1. Die Autoren transparenter literarischer Briefe verwendeten nur Personennamen, die aus der antiken Literatur bekannt waren, während wirkliche (echte oder gefälschte) Briefe daran zu erkennen waren und sind, dass sie auch unbekannte Personennamen enthalten (244–254).
2. Die persönlichen Notizen in transparenten Pseudepigraphen unterschieden sich von solchen in gefälschten Pseudepigraphen dadurch, dass sie ein inhaltliches Anliegen vermittelten oder diesem dienten (260–262.378).
Anhand dieser beiden Kriterien unterscheidet L. auch zwischen wirklichen (echten oder gefälschten) und transparenten literarischen Pastoralbriefen (263–369):
1. Die persönlichen Notizen in 2Tim und Tit ließen sich nicht übertragen deuten und können nur echt sein oder im Dienst einer Fälschung verwendet worden sein. Nur die wenigen im 1Tim enthaltenen persönlichen Mitteilungen waren übertragen gemeint und transparent, weil sie entweder auf einen Quellentext Bezug nahmen (1Tim 1,3 auf Apg 19–20 und 1Tim 1,20 auf 1Kor 5,3–5) oder durch Personifizierung eine allgemeine Paränese veranschaulichten (1Tim 5,23).
2. Die Namen in 2Tim und Tit sind zahlreich, teilweise außerhalb der Pastoralbriefe unbekannt und lassen sich nicht als rein paradigmatische Veranschaulichungen der Briefinhalte interpretieren. Daher dienten sie einer literarischen Fälschung. Nur die wenigen in 1Tim enthaltenen Namen hatten eine transparente literarische Funktion. Darüber hinaus können die in 2Tim und Tit enthaltenen Grüße nur echt oder gefälscht gewesen sein. Dagegen verzichtete 1Tim als transparentes Pseudepigraphon auf solche Grüße.
L. hat m. E. überzeugend nachgewiesen, dass die persönlichen Notizen in 2Tim und Tit es unmöglich machen, diese als transparente Pseudepigraphen zu interpretieren. Die These, beim 1Tim handle es sich angesichts des andersartigen Charakters seiner persönlichen Mitteilungen und Namen um ein täuschungsfreies Pseudepigraphon, fordert jedoch mindestens zwei kritische Rück-fragen heraus:
1. Müsste ein Kriterium, das zur Unterscheidung zwischen wirklichen und literarischen Briefen dienen sollte, nicht eindeutiger gewesen sein? Unbekannte Personennamen fehlen nicht nur in den literarischen Philosophenbriefen, sondern auch in den wirklichen Platonbriefen 6 und 8 (253). Der briefliche Rahmen fiel nicht nur in literarischen Briefen, sondern auch in manchen Plinius- und Cicerobriefen sehr knapp aus oder ganz weg (173–174). Eine Grußliste fehlte nicht nur dem literarischen 1Tim, sondern auch dem Gal (280), einem wirklichen Brief. Persönliche Notizen ohne Bezug zum Inhalt gab es nicht nur in wirklichen (echten oder gefälschten), sondern auch in literarischen Briefen (295). Der von L. vorgeschlagenen Interpretation zufolge waren im 1Tim die Namen »Hymenäus und Alexander« (1Tim 1,20) frei erfunden (307), nicht aber der Name »Paulus« in der Grußüberschrift desselben Briefes (1Tim 1,1). 1Tim hat den Stil der älteren Paulinen genauso nachgeahmt wie 2Tim und Tit, obwohl literarische Briefe eigentlich auf Stilnachahmung verzichtet haben (181). Wie realistisch ist angesichts derart fließender Grenzen die An­nahme, dass Christen in den nachpaulinischen Gemeinden in der Lage waren, an der Art der persönlichen Notizen zu erkennen, dass 2Tim vorgab, von Paulus verfasst zu sein, 1Tim aber nicht?
2. Was L. zur antiken Unterscheidung zwischen Pseudepigraphen mit und ohne Fälschungsabsicht (181–201) und zur Bedeutung eines eigenhändigen Briefschlusses (117–144) erarbeitet hat, ergibt sich aus zahlreichen expliziten Aussagen antiker Autoren. Aber in welchem antiken Text wird auch nur angedeutet, dass Autoren und Leser anhand der von L. vorgeschlagenen Kriterien zwischen gefälschten und literarischen Briefen unterschieden haben? Als wie wahrscheinlich kann es gelten, dass Kriterien, die in keinem antiken Text erwähnt werden, in der Antike geläufig und den frühen Christen bekannt waren?
Den Vorzug verdient angesichts dieses Befundes m. E. eine wesentlich näherliegende Interpretation der persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen: Falls alle drei Briefe nachpaulinisch sind, unterscheiden sie sich nicht dadurch, dass sie teilweise mit und teilweise ohne Täuschungsabsicht verfasst wurden, sondern dadurch, dass die Täuschung der Leser unterschiedlich aufwändig durchgeführt wurde. Der Unterschied ist nur quantitativ, nicht qualitativ.
Mit dem Gesamtphänomen Pseudepigraphie befasst L. sich in einem eigenen Abschnitt (181–201). Aufgrund einer Durchsicht der wichtigsten Quellen kommt er zu dem Resultat, dass das Altertum geistiges Eigentum und literarische Fälschungen durchaus kannte. Als antikes Unterscheidungskriterium zwischen authentischen und gefälschten Schriften definiert L., ein Brief könne »als authentisch gelten, wenn die in ihm artikulierten Inhalte und Gedanken der als Autor genannten Person legitim entsprechen« (377). Seines Erachtens wird von den Pastoralbriefen nur der 1Tim diesem Kriterium gerecht, »da die in ihm artikulierten Inhalte und Gedanken der als Autor genannten Person des Paulus legitim entsprechen. Sein Name wird gleichermaßen Maßstab und Richtschnur für die sachliche Richtigkeit der Inhalte« (382). Paulus könne als geistiger Urheber des 1Tim und dieser als »authentisch« gelten (383). Auch zu dieser Argumentation drängen sich wenigstens zwei Fragen auf:
1. Mit welchen Quellen lässt sich die Gültigkeit des von L. genannten Kriteriums für den 1Tim belegen? In der Antike galt es nachweislich als legitim, Gedanken posthum ihren geistigen Urhebern zuzuschreiben. Dass es auch zulässig war, geistiges Eigentum ohne Auftrag oder Authentifizierung des Autors oder gar posthum mit einer brieflichen Grußüberschrift samt Absender- und Adressatenangabe zu versehen, ist bisher nicht nachgewiesen worden. Meines Wissens hätte ein nachpaulinischer Text nach antiken Maßstäben nur dann als täuschungsfrei gegolten, wenn er von Paulus stammende Gedanken ohne briefliche Rahmung unter seinem Namen verbreitet hätte. In einem nachpaulinischen Brief stellte die briefliche Grußüberschrift in 1Tim 1–2 (»Paulus, Apostel Christi Jesu […] Timotheus, meinem echten Kind im Glauben«) eine Täuschung der Leser dar.
2. Wie verhält sich die Frage nach der Authentizität seines In­halts zur These, der 1Tim sei ein literarisches Pseudepigraphon? An dem vom L. genannten historischen Kriterium wurden in der Antike meines Wissens nur Texte gemessen, die als literarisch echt gelten wollten, und daher nur wirkliche Briefe, keine literarischen. Da­her erscheint es mir fraglich, ob hypothetische antike Leser, die den 1Tim nicht als wirklichen Brief, sondern als literarisches Pseud­epigraphon aufgefasst haben, nach seiner inhaltlichen Authentizität und geistigen Urheberschaft gefragt hätten. Würde man sich an den unpaulinischen Inhalten eines literarischen Paulusbriefs nicht genauso wenig gestört haben wie an den kynischen Inhalten eines literarischen Sokratesbriefs (181)?
L. hat die Erforschung der Pastoralbriefe durch eine gründliche Aufarbeitung antiker Philosophenbriefe und Briefkonventionen bereichert, die in Zukunft stärker beachtet werden müssen. M. E. stützen diese seine Interpretation von 2Tim und Tit aber besser als die von 1Tim.