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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

951–953

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lee, Sang-Il

Titel/Untertitel:

Jesus and Gospel Traditions in Bilingual Context. A Study in the Interdirectionality of Language.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. XVIII, 522 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 186. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-026617-7.

Rezensent:

Armin D. Baum

Die Jesus- und die Evangelienüberlieferung entwickelten sich nicht nur in eine Richtung. Die synoptischen Traditionsstücke wurden (gegen M. Black, J. A. Fitzmyer, J. Jeremias u. a.) nicht nur aus dem Aramäischen ins Griechische übersetzt, sondern auch aus dem Griechischen ins Aramäische. Sie wurden (gegen R. Bultmann, H. Gunkel, G. Theißen u. a.) nicht nur aus dem jüdischen Palästina in hellenistische Regionen transportiert, sondern auch umgekehrt. Und sie wurden (gegen B. Gerhardsson, W. Kelber, T. C. Mournet u. a.) nicht nur aus einem mündlichen Zustand in einen schriftlichen überführt, sondern schriftliche Texte wurden auch wieder vermündlicht. Daher ist es methodisch unzulässig, das re­lative Alter einer Überlieferungseinheit anhand ihrer semitischen, palästinischen oder mündlichen Merkmale zu bestimmen. Dies ist die Hauptthese der von Sang-Il Lee an der Universität Durham verfassten und von James Dunn betreuten Dissertation.
Das Hauptaugenmerk des Vf.s ruht auf den Sprachen, in denen die synoptische Tradition überliefert wurde. In einem ersten großen Hauptteil befasst er sich mit dem Phänomen des Bilingualismus (75–212). Bei der im Palästina des 1. Jh.s zu beobachtenden Zweisprachigkeit habe es sich nicht um Diglossie gehandelt, bei der einem Dialekt (L = low) eine Standardsprache (H = high) oder einer Volkssprache (L) eine Hochsprache (H) gegenübersteht – wie etwa in der Deutschschweiz. Angemessener sei der Begriff Bilingualismus, der eine Situation beschreibt, in der Individuen oder ganze Gesellschaften über (unterschiedlich große) Kompetenzen in zwei Sprachen verfügen (77–103).
Das Palästina des 1. Jh.s sei weitgehend bilingual gewesen. Dies führt der Vf. auf militärische Invasionen, Migrationsbewegungen usw. zurück und belegt es anhand von Inschriften, Papyri usw. Nicht erst in der Jerusalemer Urgemeinde, sondern schon während der galiläischen Wirksamkeit Jesu werde die Jesustradition daher sowohl aus dem Aramäischen ins Griechische als auch aus dem Griechischen ins Aramäische übersetzt worden sein (105–133).
Im Blick auf die in Apg 6,1 erwähnten »Hellenisten« und »He­-b­räer« nimmt der Vf. – im Anschluss an J. A. Bengel und gegen M. Hengel – an, dass nicht nur die »Hebräer«, sondern auch die »Hellenisten« zweisprachig waren. Die beiden Gruppen hätten sich nur dadurch unterschieden, dass die Hauptsprache der »Hebräer« das Aramäische und die Hauptsprache der »Hellenisten« das Griechische war (175–212).
Dass es auch in der jüdischen Diaspora viele bilinguale Juden mit Aramäisch als Hauptsprache gab, sei in der neutestamentlichen Forschung von Bultmann bis Hengel vernachlässigt worden. Für Alexandrien nimmt der Vf. an, dass die dortige jüdische Gemeinschaft sich des Griechischen und des Aramäischen bediente. Viele Bewohner des syrischen Antiochien seien bilingual mit Aramäisch als Hauptsprache gewesen. Daher könne die Evangelientradition auch in der Diaspora nicht nur ins Griechische, sondern auch ins Aramäische zurückübersetzt worden sein (135–173).
Der zweite Hauptteil ist der Deutung syntaktischer, phonologischer und semantischer Phänomene gewidmet (213–393). Der Vf. will syntaktische Phänomene wie das auf ein finites Verb des Sagens folgende λέγων, das teilweise als Semitismus gedeutet wird (vgl. BDR § 420), als Produkt eines universal feststellbaren Sprachwandels (Grammatikalisierung) interpretieren. Weil sich solche syntaktischen Phänomene in vielen Sprachen entwickeln, dürften sie im neutestamentlichen Griechisch nicht als Semitismen gedeutet werden und damit auch nicht als Altersindizien (223–280).
Semitisierende Transliterationen semitischer Wörter (wie z. B. Ἰερου­σαλήμ) hält der Vf. nicht für ursprünglicher als gräzisierende Transliterationen (wie Ἱεροσόλυμα) (281–329). Vielmehr habe der Schriftsteller Lukas die semitisierenden Transliterationen be­wusst in den Abschnitten verwendet, in denen er jüdische Situationen schilderte oder jüdische Redner auftreten ließ.
Transliterierte semitische Wörter (wie Μεσσίας) seien – gegen J. Jeremias – nicht ursprünglicher als übersetzte semitische Wörter (wie Χριστός). Vielmehr habe sich der zweite Evangelist des Kode-Wechsels bedient, mit dem bilinguale Sprecher in derselben Situation zwischen Russisch und Französisch (wie in Tolstois »Krieg und Frieden«) oder zwischen Griechisch und Aramäisch (wie Paulus laut Apg 21,37–22,2 im Tempel) abwechseln. Der Vf. hält es – zu Recht – für ausgeschlossen, dass Jesus in der Regel Griechisch (T. K. Abbot) oder Hebräisch (H. Birkeland) sprach und Markus seine wenigen aramäischen Wörter und Sätze festhalten wollte. Er nimmt an, Markus habe stellenweise lexikalische Aramaismen (wie ταλιθα κουμ) eingestreut, um seine Erzählung lebendiger und eindringlicher zu gestalten. Daher seien solche Semitismen als Indizien für die Ursprünglichkeit der Überlieferung ungeeignet (331–393). Offen bleibt bei dieser Erklärung freilich, warum die drei Synoptiker dieses literarische Stilmittel so selten und willkürlich eingesetzt haben. Dieser Befund lässt sich dagegen gut erklären, wenn es sich bei den lexika­lischen Aramaismen um im Verschwinden begriffene Spuren eines semitischen Sprachhintergrunds der Evangelien handelt.
Meines Erachtens ist die Hauptthese dieser sehr gelehrten Arbeit, dass Teile der synoptischen Tradition im Zuge ihrer Verbreitung auch vom Griechischen ins Aramäische übersetzt worden sein können, berechtigt. Allerdings finde ich nicht, dass man diese Möglichkeit so stark gewichten sollte, wie der Vf. es tut. Es spricht vieles dafür, dass die Jesus- und die Evangelientradition hauptsächlich in einer Richtung übersetzt wurde: Jesus und seine ersten Schüler sprachen (vornehmlich) Aramäisch – die Evangelien liegen uns in griechischer Sprache vor. Dass die synoptische Überlieferung sich sprachlich überwiegend in einer Richtung bewegte, le­gen auch die ältesten historischen Nachrichten (seit Papias) nahe: Maßgebliche Träger der synoptischen Tradition (wie Petrus) er­zählten auf Aramäisch. Ihre bilingualen Mitarbeiter (wie Johan nes Markus) übersetzten diese mündlichen Erzählungen erst mündlich und dann schriftlich ins Griechische. Ein Schüler Jesu (Matthäus) soll gar ein Jesusbuch auf Aramäisch verfasst haben, das zunächst vielfach mündlich und dann schriftlich ins Griechische übersetzt wurde. Angesichts dessen halte ich nach wie vor die These für überlegen, dass es sich bei den lexikalischen und syntak­tischen Semitismen der synoptischen Evangelien in der Regel um sprachliche Spuren eines früheren Überlieferungsstadiums handelt.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Ähnlich häufig und ausnahmslos wie vor allem in der ersten Hälfte des Markusevangeliums ist das parataktische καί am Satz- und Perikopenanfang bisher in keinem nicht-semitischen griechischen Text nachgewiesen worden. Ähnlich arm an der Konjunktion δέ, und reich an der καί-Para­taxe sind nur einige Bücher der LXX – aufgrund ihrer semitischen Vorlage. Es ist zwar nicht ganz unmöglich, dass das parataktische καί durch eine zwischenzeitliche Rückübersetzung einer unsemi­tischen griechischen Evangelientradition ins Aramäische entstanden und in die Synoptiker eingedrungen ist; viel näher liegt m. E. aber die vom Vf. in Frage gestellte Erklärung, dass die semitische Art der frühen Christen, von Jesus zu erzählen, in einigen Ab­schnitten unserer schriftlichen Evangelien in Gestalt einer sehr wörtlichen griechischen Übersetzung sichtbar geblieben ist.