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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

611–630

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hermann Brandt

Titel/Untertitel:

Religionswissenschaften interkulturell
Die gegensätzliche Wahrnehmung der Religionsphänomenologie in Brasilien und Deutschland

1. Veranlassungen zu diesem Vergleich


Im Folgenden geht es um einen Vergleich zwischen der Art und Weise, wie die Religionsphänomenologie von der Religionswissenschaft in beiden Ländern bzw. Kontinenten wahrgenommen und eingeschätzt wird. Da es bei diesem Vergleich, wie noch zu zeigen sein wird, um die Voraussetzungen von (Religions-)Wissenschaft geht, halte ich es für angebracht, auch die Voraussetzungen dieses Aufsatzes offenzulegen: Was hat mich veranlasst, ihn zu schreiben?

Ich nenne drei Motive. Das erste ist ein äußerliches: Diese Studie ist im Rahmen eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts an der Escola Superior de Teologia (EST) in São Leopoldo, Brasilien, entstanden. Gefördert wurde dieser Aufenthalt durch ein Forschungsstipendium der brasilianischen Stiftung zur Unterstützung der For­schung des Bundesstaates Rio Grande do Sul (Fundação de Amparo à Pesquisa do Estado Rio Grande do Sul = FAPERGS). Eine der Bedingungen war, dass ein Forschungsprojekt benannt und durchgeführt wurde.

Die Wahl des Themas – dies ist die zweite Veranlassung – beruhte auf Erfahrungen, die ich bei früheren Aufenthalten in Brasilien gemacht hatte. Es war mir aufgefallen, wie unterschiedlich die Religionswissenschaft in Brasilien und Deutschland konstituiert ist und betrieben wird, ohne dass ich diesen Eindruck seinerzeit näher überprüfen konnte.1 Von daher lag es nahe, dieser Vermutung jetzt genauer nachzugehen.

Das dritte Motiv hängt zusammen mit dem zwischenzeitlich erschienenen repräsentativen Werk »New Approaches to the Study of Religion; Volume 1: Regional, Critical, and Historical Approaches, Volume 2: Textual, Comparative, Sociological, and Cognitive Ap­proa­ches«, herausgegeben von Peter Antes, Arnim W. Geertz und Randi R. Warne.2 Das Werk erhebt den Anspruch, einen Überblick über die Religionswissenschaft und die sie charakterisierenden Entwicklungen seit 1980 zu bieten3 und zu zeigen, dass die Religionswissenschaft inzwischen zu einem »global endeavor« geworden ist. Für die Herausgeber repräsentiert das vorgelegte Werk – nach früheren problematischen Phasen der Religionswissenschaft in den letzten über 150 Jahren – jetzt den neuen »›critical turn‹ in the study of religion. It consists of extracting the study of religion from the vanities and wrong turns of the past and providing it with a theoretically and methodologically sound framework for a global [!] pursuit.« 4

Hier zeigen sich ein Epochenbewusstsein und ein globaler An­spruch, der aus afrikanischer und lateinamerikanischer Perspek­tive verwundern mag: Im ersten Band »Regional« Approaches werden zwar die »neuen Zugänge« zum wissenschaftlichen Studium der Religion in Nordamerika, Europa, der Türkei, Indien, Australien und im Pazifik behandelt. Es fehlen in diesem umfassenden Werk aber die »Regionen« Zentral- und Süd- (bzw. Latein-)Amerika so­wie Afrika. So fragte ich mich: Warum? Gibt es in Afrika und in den südlichen zwei Dritteln Amerikas keine »new approaches«? Passt die in diesen Regionen betriebene Religionswissenschaft nicht in das erwähnte »globale« akademische Konzept und zu der von ihm protegierten »kritischen Wende«? Oder ist es einfach nicht gelungen, kompetente Autorinnen und Autoren aus diesen Regionen zu gewinnen? Wie dem auch sei – dieser Beitrag möchte, wenn auch auf begrenzte Weise, der Frage nachgehen: Wie wird Religionswissenschaft in Lateinamerika betrieben und wie verhält sich diese zu der in Europa?5

Diesen Hinweisen auf meine drei Motive für diesen Beitrag füge ich noch eine Erläuterung der erwähnten Begrenzung hinzu. Die Begrenzung ist sowohl eine regionale wie eine inhaltliche: Ich be­ziehe mich im Folgenden mit wenigen Ausnahmen nur auf brasilianische und deutsche Veröffentlichungen, und ich konzentriere mich auf die unterschiedlichen Einschätzungen der Religionsphänomenologie.

Ich gehe so vor, dass ich zunächst die Bewertung der Religionsphänomenologie in Deutschland skizziere (Abschnitt 2), sodann die an sie gerichteten Erwartungen in Brasilien beschreibe (Ab­schnitt 3) und schließlich einige Erwägungen über dieses Fach mit seinen zwei Gesichtern und seine Position innerhalb der Religionswissenschaften in Lateinamerika und Europa anstelle (Abschnitt 4).

2. Der Abschied von der Religionsphänomenologie – auf Nimmerwiedersehen?


Um mit einem Unterschied zwischen Deutschland und Brasilien zu beginnen: Während in Brasilien, wie im folgenden Ab­schnitt gezeigt wird, eigene Einführungen und Handbücher über das Fach Religionswissenschaft noch ein Desiderat darstellen, sind in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zahlreiche solcher Einführungen und Handbücher erschienen. Sie wurden entweder von einzelnen Autoren oder als Sammelwerke verschiedener Religionswissenschaftler verfasst, informieren über die Geschichte der Disziplin, über ihre klassischen und aktuellen Fragestellungen und Methoden, das Verhältnis der Religionswissenschaft zu ihren Nachbar-Disziplinen und die Zukunftsperspektiven.6 Diese Einführungen und Handbücher signalisieren, dass das Fach Religionswissenschaft, obwohl keineswegs an allen Universitäten vertreten,7 sich in Deutschland konsolidiert hat; jedenfalls mangelt es nicht am Angebot von Selbstdarstellungen der Religionswissenschaft als eigenem Fach.

Wie bei Einführungen in andere akademische Fächer lassen sich auch bei den Einführungen in die Religionswissenschaft zwei Ty­pen unterscheiden: solche, die doch eher eigene Thesen und Konzeptionen des Autors bzw. der Autoren (etablierte Religionswissenschaftlerinnen gibt es kaum) vertreten und formulieren, so dass die Informationsleistung zurücktritt, und andere, bei denen die persönlichen Anschauungen der Verfasser zwar nicht fehlen, aber das Ziel, in das Material und die Disziplinen der Religionswissenschaft einzuführen, im Vordergrund steht. Die beiden im Folgenden vorgestellten Einführungen lassen sich diesen unterschiedlichen Ty­pen als exemplarische Beispiele zuordnen. Wie oben erwähnt, in­teressiert in der Perspektive dieses Aufsatzes besonders, wie die Religionsphänomenologie in beiden Einführungen beurteilt wird.

Was die Überschrift dieses Abschnitts betrifft – »Der Abschied von der Religionsphänomenologie – auf Nimmerwiedersehen?« –, so repräsentiert die erste Einführung immerhin das Fragezeichen, also einen möglicherweise widerrufbaren Abschied, während die zweite sich dezidiert für eine endgültige Verabschiedung der Religionsphänomenologie aus der und durch die Religionswissenschaft ausspricht.

2.1 Die Religionsphänomenologie in der »Einführung in die Religionswissenschaft« von Klaus Hock und der »Theologieverdacht« gegenüber der klassischen Religionsphänomenologie


Das Werk von Klaus Hock »Einführung in die Religionswissenschaft«,8 besticht durch seine konzentrierte Darstellung und seine pädagogische Anordnung des umfänglichen Stoffes, die nicht zu Lasten der Problemfülle geht. Hock ist zurückhaltend bei der Beurteilung von religionswissenschaftlichen Kontroversen, und wenn er urteilt, ist er fair. Im Ganzen ein sehr informatives Werk; gerade seine etwas »kühle« Darstellung ermuntert zu eigenem Urteilen.

Für die Mehrzahl der zwölf Kapitel des Werkes ist die Kategorie der »Zugänge« charakteristisch: Es geht um die Zugänge der Religionswissenschaft und ihrer verschiedenen Unterdisziplinen zu ihrem Gegenstand, der Religion. Es sind u. a. die folgenden: Systematische und phänomenologische Zugänge, Religionssoziologische Zugänge, Religionsethnologische Zugänge, Religionspsychologische Zu­gänge, Weitere Zugänge zu den Religionen (religionsgeographische, religionsästhetische, religionsökonomische).

Alle »Zugänge« setzen in diesem Aufriss die Religionsgeschichte voraus. Und nicht zufällig stehen die systematischen und phänomenologischen Zugänge vor allen weiteren. Dass Hock die Religionsphänomenologie bzw. die Systematische Religionswissenschaft an den Anfang der Zugänge stellt, kann zweierlei zum Ausdruck bringen: Einmal könnte die Religionsphänomenologie (wie gesagt unter der Voraussetzung religionsgeschichtlicher Forschung) als der eigentliche Ursprung der neueren Religionswissenschaft angesehen werden; sie wird als »principium« der Religionswissenschaft gewürdigt. Hinter dem Aufriss könnte aber auch die These stecken: Der religionsphänomenologische Anfang der Religionswissenschaft ist durch die späteren Zugänge überholt, wenn nicht gar erledigt.

Hock würdigt einerseits die Gegenwartsbedeutung der Religionsphänomenologie, erwähnt aber auch die gegen sie vorgebrachte Kritik. Zu den wichtigsten, bis heute aktuellen Fragen, die die Religionsphänomenologie aufgeworfen hat, gehört vor allem die folgende: »Wenn die Religionsphänomenologie darum bemüht ist, die Wahrheitsfrage und den Glauben des Forschers bzw. der Forscherin ›einzuklammern‹ – wird dann nicht zugleich eine der zentralen Fragen ausgeklammert … Insofern ist auch jenseits einer umfassenden radikalen Kritik an der Religionsphänomenologie vieles von dem, was sie bewegt hat, noch heute von Bedeutung – al­lem voran die Frage, wie Religionen angemessen zu verstehen sind, die Frage nach einer ›hermeneutischen‹ Religionswissenschaft. Dabei wird der Begriff ›Religionsphänomenologie‹ jedoch häufig vermieden – zu sehr ist er historisch vorbelastet.« 9

Worin besteht diese Last der Geschichte, die in der Tat dazu ge­führt hat, dass manche europäische Religionswissenschaftler das Wort Religionsphänomenologie nur noch in den Mund nehmen, um gegen die mit ihm bezeichnete Disziplin aus den Anfängen der Religionswissenschaft zu Felde zu ziehen?10 Hock informiert in eigenständiger An- und Zuordnung über verschiedene Positionen innerhalb der Religionsphänomenologie, stellt deren imponierende Ahnenreihe (u. a. Söderblom, Otto, van der Leeuw, Mensching, Lanczkowski, Eliade) vor und erläutert die gegen sie vorgebrachte Kritik.

Die von Seiten der neueren Religionswissenschaft gegen diese Religionsphänomenologen und ihre Forschungen vorgebrachten Kritiken lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:11 Gegen Söderblom, Otto und van der Leeuw wird eingewandt, sie postulierten eine spezifische Kategorie – die des Heiligen oder die der Macht – und die entsprechenden religiösen Erfahrungen, um auf dieser Grundlage das Wesen der Religion zu beschreiben. D. h.: Es wird ein Element als zentral und universal angesehen, das allein keinesfalls der Realität und Pluralität der religiösen Phänomene Rechnung tragen kann. Ähnlich die Kritik an Eliade: Er verstehe seine Phänomenologie als eine Art »Seinslehre«, innerhalb derer die verschiedenen Religionen und religiösen Elemente klassifiziert und eingeordnet werden. Mit anderen Worten: Alle verschiedenen Religionen verweisen auf ein und dasselbe Sein an sich.

Diese Kritiken haben zur Folge gehabt, so Hock, dass die Religionsphänomenologie als Ganze unter massiven Beschuss geraten ist. Die Mehrheit der Religionswissenschaftler weigerte sich und weigert sich bis heute, die »metaphysischen Spekulationen« der Kollegen Religionsphänomenologen zu akzeptieren. Die Religionsphänomenologie als Ganze wurde einem »Theologieverdacht« unterstellt. Somit wurde sie nicht mehr als (selbst-)kritische Wissenschaft angesehen. Die Wissenschaftlichkeit der phänomenologischen Methode wurde bestritten. Die Religionswissenschaft weist also ihre – einst so berühmte – Phänomenologie zurück. Sie plädiert dafür, die Religionsphänomenologie zu »überwinden« und sie, falls möglich, endgültig zu »vergessen«. In der Tat lässt sich konstatieren: Die klassische Religionsphänomenologie ist von der neueren Religionswissenschaft verabschiedet worden. 12

Aber während Hock die Gründe der zunehmenden Distanzierung von der Religionsphänomenologie sachlich beschreibt und diskutiert und – dazu siehe unten – eine erneuerte Religionsphänomenologie für möglich hält, sie also nicht »Auf Nimmerwiedersehen« verabschieden will, geht die zuletzt in Deutschland erschienene »Einführung« sehr viel polemischer mit den Vertretern der Religionsphänomenologie ins Gericht.

2.2 Die Polemik gegen die Religionsphänomenologie in der »Einführung in die Religionswissenschaft« von Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad


In der jüngsten Einführung in die Religionswissenschaft, ge­mein­sam verfasst von Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad,13 erfährt man zwar kaum etwas über die Geschichte der Religionsphänomenologie und über die Motive, die die ihr verpflichteten Forscher geleitet haben, wohl aber manches über die Affekte der beiden Autoren gegenüber der Religionsphänomenologie, denen sie ziemlich freien Lauf lassen,14 und insofern über Aspekte der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Diskussion. Die Autoren attestieren den Religionsphänomenologen, sie hätten »ein zeitloses Wesen von Religion« konstruiert. Ohne etwa Ottos Kritik an der liberalen Theologie seiner Zeit zu würdigen, wird behauptet: »Die akademische Religionswissenschaft war [durch den Einfluss der Phänomenologie] gleichsam zu einer Raffinerie geworden, die einen Rohstoff zu einem marktgängigen Produkt veredelt.« 15

So kann das »Ende von Funktionalismus und Religionsphänomenologie« als Phase der »Kulturgeschichte der Religionswissenschaft« beschrieben16 und die »gleichzeitige Verabschiedung von soziologischem Funktionalismus und phänomenologischer Religionsauffassung« als Bedingung religionswissenschaftlicher Neuorientierung aufgefasst werden: »Dadurch wurden festgefahrene Deutungen aus den Angeln gehoben.«17 Die phänomenologischen Methoden – dies richtet sich vor allem gegen Eliade – seien »letztlich ahistorisch konzipiert« gewesen; sie abstrahieren »von histo­rischen Kontexten auf das Allgemeine«.18 So lautet der Vorwurf: »Ontologisierung des Transzendenten«: »Wenn Rudolf Otto von der Erfahrung des ›Numinosen‹ spricht, Mircea Eliade vom ›Einbruch des Heiligen ins Profane‹ oder wenn C. G. Jung einen Fundus an archetypischen kollektiven Symbolen des Unbewussten propagiert«, so folgen sie einer Linie, »die das Transzendente ontologisiert und als einflussreiche Macht mit der Lebenswelt des Individuums verbindet. Das narrative Element der religiösen Identität und die Rolle der sozialen Kontexte werden hier ausgeblendet …« 19

Genug der Belege; sie bestätigen die Auffassung der Autoren, dass die Verabschiedung der Religionsphänomenologie unwiderruflich ist. Diese Auffassung, so kategorisch und emotional sie vorgetragen wurde, ist nun freilich keine überall herrschende communis opinio; es gibt abweichende Positionen – nicht nur in Deutschland, sondern erst recht in Lateinamerika.

2.3 Vor einer Wiederbelebung der Religionsphänomenologie?

Im Unterschied zur Einführung in die Religionswissenschaft von Kippenberg und von Stuckrad lässt Hock dem Abschnitt »Zur Entwicklung der religionsphänomenologischen Forschung«,20 den ich unter 2.1 referiert habe, den Abschnitt »Religionsphänomenologische Neuansätze«21 folgen. Die Perspektiven, so Hock, die sich aus den Arbeiten von Jacques Waardenburg und Carsten Colpe ergeben, lassen den Schluss zu, dass die Verabschiedung der Religionsphänomenologie durch die Religionswissenschaft doch keine »auf Nimmerwiedersehen« ist. Ausdrücklich bezieht sich Hock auf den Beitrag von Carsten Colpe mit dem Titel »Zur Neubegründung [!] einer Phänomenologie der Religionen und der Religion«.22

Colpe plädiert dafür, von der Autonomie der Religionsphänomenologie hypothetisch auszugehen (insofern: »reflexive« Religionsphänomenologie) und die Ergebnisse von Nachbarwissenschaften einzubeziehen. Der Vergleich von Phänomenen müsse auf Mehrdimensionalität angelegt sein, und es müsse eine Metasprache entwickelt werden, die klar von der Sprache der Religionen selbst unterschieden ist. Damit sind in der Tat Bedingungen für eine Neubegründung der Religionsphänomenologie – gleichsam auf reflexiver, wissenschaftlicher Ebene – benannt. Hock weist aber darauf hin, dass dieses Konzept einer neuen Religionsphänomenologie noch »der weiteren Diskussion, der konkreten Umsetzung und der breiteren Anwendung« harrt. Ein wirklicher Durchbruch zu einer neu begründeten und wieder belebten Religionsphänomenologie steht also noch aus. 23

Während die Einschätzung der Religionsphänomenologie durch die Religionswissenschaft in Deutschland also von dezidierter Ab­lehnung zu vorsichtiger, erst angedeuteter Neubegründung un­ter bestimmten Bedingungen reicht, betritt man mit der Frage nach der Bewertung der Religionsphänomenologie durch die Religionswissenschaft in Brasilien nicht nur in geographischer Hinsicht ein ganz anderes Land.

3. Die Religionsphänomenologie als Hoffnungsträgerin der Religionswissenschaft


Mit dem obigen Titel sei die im Vergleich zu Deutschland grundverschiedene Einstellung zur Religionsphänomenologie in Brasilien angedeutet. Die Religionsphänomenologie ließe sich aus der Perspektive des Vergleichs als janusköpfig charakterisieren: In Deutschland wird sie abgewiesen, in Lateinamerika dagegen freundlich und erwartungsvoll willkommen geheißen. Generell kann ge­sagt werden: Die mit »Phänomenologie« in Lateinamerika verbundenen Assoziationen sind ohne Ausnahmen positiv. Dies gilt nicht nur für die Religionswissenschaft, sondern auch für andere geisteswissenschaftliche Fächer. Unter Rückgriff auf das Bild vom Januskopf ließe sich metaphorisch sagen: In Brasilien blickt die Religionsphänomenologie einladend und freundlich auf verschiedene akademische Disziplinen, als ob sie diese animieren wollte, sich ihrer bei ihren Forschungen zu bedienen – zum Zweck, eine interdisziplinäre und multiperspektivische Wissenschaft zu etablieren. Das Folgende wird zeigen, dass und wie diese Einladung angenommen wird.

3.1 Die allgemeine Präsenz von »Phänomenologie«


Mir ist aufgefallen, dass die Rede von Phänomenologie in Brasilien überraschend weit verbreitet ist und dass der Begriff Phänomenologie häufig ganz selbstverständlich – ohne besondere methodische Überlegungen zur Bedeutung dieses Wortes – verwendet wird. Eine Ursache hierfür ist sicher in der hervorgehobenen Stellung der Philosophie (nicht zuletzt an katholischen – in Lateinamerika: »päpstlichen« – Universitäten) zu sehen und in ihrem Einfluss auf die anderen Geisteswissenschaften. Die Namen Husserl und Heidegger sind nicht nur innerhalb der Philosophie präsent, und Bezugnahmen auf ihre Werke kommen in ganz verschiedenen Kontexten vor. 24

So gibt es nicht-philosophische Untersuchungen – etwa zur Phä­nomenologie der Erziehungswissenschaft.25 Ein Beispiel für die Wertschätzung von Phänomenologie in einem unspezifischen Sinn ist es, dass »Phänomenologie« als schmückendes Wort im Buchtitel einer empirischen Untersuchung von Volksreligiosität erscheinen kann, ohne dass es in der Studie selbst an irgendeiner Stelle vorkäme oder gar definiert würde.26 – Zweierlei lässt sich an diesem allgemeinen, sozusagen unreflektierten Wortgebrauch ab­lesen: Er setzt voraus, dass »Phänomenologie« allgemein bekannt ist und keinerlei Erklärung bedarf und dass es sich bei »Phänomenologie« jedenfalls um etwas durchaus Positives handelt, dessen Akzeptanz außer Frage steht.

3.2 Die von der Religionswissenschaft in die Religionsphänomenologie gesetzte Hoffnung


Es ist angesichts des in Brasilien herrschenden günstigen Klimas für die Phänomenologie im Allgemeinen verständlich, dass die Re­ligionswissenschaft gerade an ihre »eigene« Religionsphänomenologie besondere Hoffnungen knüpft. Diese Hoffnungen und ihre Gründe sollen nun näher betrachtet werden. Brasilianische Religionswissenschaftler erwarten von der (klassischen) Religionsphänomenologie, sie könne – im Blick u. a. auf die vorgegebene Präsenz der Phänomenologie im universitären Bereich – nachhaltig dazu beitragen, die noch ungefestigte Stellung und Akzeptanz der Religionswissenschaft als selbständiges akademisches Fach zu sichern und zu stärken. Auf der Basis der Religionsphänomenologie sei es möglich, die Religionswissenschaft als Ganze als autonome Wissenschaft in den Universitäten zu etablieren. Während also die Religionswissenschaft in Europa die Religionsphänomenologie verabschiedet, begrüßt die Religionswissenschaft in Lateinamerika die Religionsphänomenologie mit offenen Armen. Anhand von drei repräsentativen Veröffentlichungen sollen diese Begrüßung und die in die Religionsphänomenologie gesetzten Hoffnungen nun verdeutlicht werden.

3.2.1 Die Religionsphänomenologie als Krone der Religionswissenschaften

Ein für Einführungen in die Religionswissenschaft weit verbreitetes, ursprünglich für einen religionswissenschaftlichen Fernkurs verfasstes Handbuch von José Severino Croatto trägt den Titel »Los Lenguajes de la Experiencia Religiosa. Estudio de Fenomenología de la Religión« (Die Sprachen der religiösen Erfahrung. Studium der Phänomenologie der Religion).27 Die Tatsache, dass dieses spanischsprachige Werk gerade in Brasilien zur religions­wissen­schaft­lichen Basisliteratur gehört, macht auf das schon er­wähnte Defizit an eigenen, brasilianischen Handbüchern aufmerksam. Neben der Einführung von Croatto behilft man sich daher mit Werken aus Europa.28 Dass Croatto die Religionsphänomenologie als Krone der Religionswissenschaften ansieht, geht schon aus der Gliederung des Buches hervor. Zunächst aber ein Hinweis auf die für Europa ganz ungewohnte Verwendung des Plurals Religionswissenschaften: Während in Deutschland dieser Plural von Religionswissenschaftlern vehement abgelehnt wird, weil er die Einheit der Religionswissenschaft als selbständiger Disziplin gefährde, wird er in Lateinamerika teils unreflektiert, teils sehr bewusst gebraucht – z. B. um die Multiperspektivität dieses Faches zu betonen. 29

Croatto gliedert sein Buch in fünf »Módulos«: Die Zugänge zur Religion, Die religiöse Erfahrung und ihr symbolischer Ausdruck, Mythos und Interpretation der Wirklichkeit, Die Manifestation der Religion im Ritus, Die Fixierung der religiösen Erfahrung in der Lehre und den Texten. Wie später Hock (s. o.) beginnt Croatto also mit der Darstellung der verschiedenen »Accesos«. Allerdings werden die verschiedenen Zugänge von der Phänomenologie der Religion »gekrönt«: 1. Die Geschichte der Religionen; 2. Die Soziologie der Religion; 3. Die Psychologie der Religion; 4. Die Philosophie der Religion; 5. Die Theologie; 6. Die Theologie der Religionen; 7. Der Strukturalismus; 8. Die Phänomenologie der Religion. 30

Auffällig an dieser Anordnung ist einmal der Einschluss des Zugangs der (christlichen) Theologie sowie der Theologie der Religionen in die verschiedenen religionswissenschaftlichen Zugänge; damit wird die Theologie ganz selbstverständlich zu den Religionswissenschaften gerechnet. Denn alle acht Zugänge stellt Croatto unter die Überschrift »La fenomenología de la religión entre las ciencias de la religión«. Und, wie gesagt, alle Zugänge münden gleichsam in die Religionsphänomenologie. Die phänomenolo­gische Annäherung ist »nötig, um die übrigen Zugänge zu bereichern«.31 Zusammengefasst besteht der spezifische Beitrag der Religionsphänomenologie in der Untersuchung der folgenden drei Aspekte des religiösen Phänomens: 1. »die Bedeutung/der Sinn der religiösen Ausdrucksformen in ihrem spezifischen Kontext; 2. ihre Struktur und ihr Zusammenhang (ihre Morphologie); und 3. ihre Dynamik ( Entwicklung, Selbstbehauptung, Spaltungen usw.)«.32

Aus diesem Entwurf geht also hervor: Die Religionsphänomenologie krönt und vollendet die Religionswissenschaften.

3.2.2 Bemühungen um Anerkennung der Religionswissenschaft(en) als autonome akademische Disziplin

Bevor im folgenden Abschnitt von der Rolle der Religionsphänomenologie bei der Konstituierung der Religionswissenschaft(en) als anerkanntes universitäres Fach die Rede sein wird, geht es jetzt zunächst um den Hinweis auf die Bemühungen, diese Anerkennung zu gewinnen. Symptomatisch in dieser Hinsicht ist der von Faustino Teixeira herausgegebene Sammelband mit dem sprechenden Titel »A(s) ciência(s) da religião no Brasil: afirmação de uma área acadêmica«. 33 In ihm berichten Wissenschaftler verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen, die in der Postgraduierung gemeinsam Religionswissenschaft(en) lehren, von ihren Erfahrungen und Zukunftsperspektiven. Gemeinsam geht es ihnen darum, die Selbständigkeit dieses Fachs herauszuarbeiten und zu zeigen, inwiefern es in Brasilien eine Herausforderung darstellt.34

Diese Suche nach Anerkennung der Religionswissenschaft als eigener universitärer Disziplin spiegelt die Tatsache, dass »Religionswissenschaft« weithin von Soziologen, Philosophen, Ethno­logen, Theologen betrieben wird, und damit das Desiderat, die Re­ligionswissenschaft(en) aus dieser Abhängigkeit und Fremdbestimmung herauszuführen. An diesem Punkt lassen sich durchaus Verbindungslinien zur Situation der Religionswissenschaft in Europa ziehen;35 auch dort geht es um den Nachweis ihrer Eigenständigkeit als akademisches Fach und um ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Dennoch unterscheiden sich Kontext und Diskussionsfelder von denen etwa in Deutschland.

Wenn im Titel des Werkes die Zielvorstellung Affirmation einer akademischen Disziplin formuliert wird, so liegt der Ton nicht nur auf »Affirmation« und »akademisch«, sondern auch auf »einer«, und zwar gerade deshalb, weil üblicherweise von Religionswissenschaften im Plural gesprochen wird.36 Hier sehen manche Forscher ein Indiz für das Auseinanderfallen dieser Wissenschaft in getrennte Arbeitszweige und Methoden, für das Fehlen wissenschaftlicher Identität als autonomer Wissenschaft. So wird, um die Einheit der Religionswissenschaft zu erreichen, einerseits ein Wechsel von den »Religionswissenschaften« zu einer Religionswissenschaft (als sys­tematische und kohärente Erkenntnis) angestrebt.37 Andererseits wird die Position vertreten, der Singular reflektiere nur noch die Emanzipationsbedürfnisse der im 19. Jh. entstehenden Religionswissenschaft, sei aber im Blick auf die heute erreichte Konsolidierung der Autonomie und Pluralität der Kompetenzen in den Geis­teswissenschaften überholt.38 – Hier zeigen sich zwei Dilemmata, die künftig noch zu klären sein werden: die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des Begriffs Wissenschaft und die Frage, inwiefern von »der« Religion in den Religionen gesprochen werden kann.

Ein weiteres Diskussionsfeld betrifft die Einbeziehung der Theo­logie bzw. der Religionstheologie in die Religionswissenschaft(en). In diesem Zusammenhang werden die Vorfragen erörtert: Kann man sich wissenschaftlich mit der Religion beschäftigen und dabei dennoch religiös bleiben? Und wie steht es mit der Plausibilität einer wissenschaftlichen Erforschung religiöser Phäno­mene in vitro, also frei von emotionaler Identifikation?39 (Hier hat man als Religionswissenschaftler aus Europa ein Déjà-vu-Erlebnis!) Überraschend wirkt – jedenfalls aus deutscher Perspektive – in einem Buch, das dem Plädoyer für die Eigenständigkeit der Religionswissenschaft verpflichtet ist, die explizite Erörterung des Or­tes und der Funktion »der Theologie innerhalb der übrigen Fächer der Religionswissenschaft«.40 Es wird die Hypothese vertreten, ge­rade als Theologie der Religionen leiste die Theologie einen einzigartigen und innovativen Beitrag für die Religionswissenschaft, da sie die »irreduzible und unwiderrufliche Originalität«41 des religiösen Phänomens kläre.

Diese fast selbstverständliche Subsumierung der Theologie un­ter die Religionswissenschaft(en) hängt nicht zuletzt mit dem Kontext und den Konstitutionsbedingungen der beiden Wissenschaften zusammen, die freilich kaum explizit benannt werden: So haben Theologen deshalb unter dem Dach der Religionswissenschaft(en) gearbeitet, um sich auf diese Weise der Kontrolle der für die Theologie zuständigen (katholischen) Bischöfe zu entziehen; gerade Befreiungstheologen firmierten daher häufig als Religionswissenschaftler. Denn als solche hatten sie keine normativen Verpflichtungen und so die Freiheit zu eigenständiger Wahrnehmung und Deutung religiöser Phänomene. Umgekehrt war und ist es opportun, Religionswissenschaft(en) innerhalb Theologischer Fa­kultäten oder theologischer Abteilungen (departamentos) zu verankern und zu betreiben. (In der Pontifícia Universidade Católica von São Paulo gibt es das »Departamento de Teologia e Ciências da Religião«.) Denn für die staatliche Förderung in Brasilien stellt die Theologie ein klar zu identifizierendes Fach dar, dessen Finanzierung keinem Zweifel unterliegt, während demgegenüber die Religionswissenschaft(en) für sich allein aus der Sicht der fördernden Stellen (noch) keine Plausibilität besitzen. 42

Ein letzter Aspekt betrifft die Problematisierung der meist unhinterfragten Gleichsetzung von Theologie und Religionstheologie mit christlicher (Religions-)Theologie, die auch in der vorstehenden Darstellung erkennbar wurde. Darauf bezieht sich die Forderung, die Theologie dürfe nicht unreflektiert als christliche Theologie in den religionswissenschaftlichen Fächerkanon einbezogen werden. Vielmehr müsse der Pluralität verschiedener (Religions-)Theologien Rechnung getragen werden. Notwendig sei es daher, »die gängige Identifizierung von Theologie mit christlicher Theologie aufzuheben«. Die Begründung: Diese falsche, teils unbewusste, teils bewusste Identifizierung sei eines der größten Hindernisse für die Akzeptanz der Theologie als einer religionswissenschaftlichen Disziplin im akademischen Bereich.43

3.2.3 Die Religionsphänomenologie als Einheitsband der Religionswissenschaften

Im Folgenden ist nun zu zeigen, welche Erwartungen in die Religionsphänomenologie gesetzt und wie diese begründet werden. Antonio Gouvêa Mendonça hat in einem Aufsatz44 argumentiert, die Religionsphänomenologie ermögliche die Überwindung der Vielfalt »von Methoden, die eine Diskussion [der Religion] in ihrer Einzigartigkeit unmöglich macht«.45 Durch die Religionsphänomenologie könnten bei aller Kontingenz der religiösen Phänomene die »religiösen a prioris« bzw. das »wesentlich Religiöse« erfasst werden. Dazu gilt es, die klassischen Religionsphänomenologen46 der Vergessenheit zu entreißen. Mit ihrer Hilfe lasse sich eine »na­tureza religiosa«, und damit die »Universalität der religiösen Wirklichkeit« herausarbeiten. Der Autor will den »Empirismus, in den die Sozialwissenschaften in Brasilien gefallen sind«, überwinden und statt dessen die Perspektive einer (!) Religionswissenschaft philosophischer und phänomenologischer Prägung einnehmen. Dieses Modell »wissenschaftlicher Erkenntnis« orientiert sich an Wesens-Aspekten des religiösen Objekts (wie »Mystizismus« oder »religiöse Erfahrung«), die seinen äußeren Erscheinungsformen zu Grunde lägen. 47

Dem Thema der Stellung der Phänomenologie innerhalb der in­terdisziplinär arbeitenden Religionswissenschaft ist der letzte hier zu erwähnende Sammelband gewidmet: Luís H. Dreher (Hrsg.), »A essência manifesta: a fenomenologia nos estudos interdisciplinares da religião« (Das manifeste Wesen: die Phänomenologie im Rahmen interdisziplinärer religionswissenschaftlicher Studien).48 Im Vorwort fasst der Herausgeber den Stier sozusagen bei den Hörnern: Die Phänomenologie sei unter Verdacht gestellt worden, weil sie »Mauern zwischen den Einzelfächern« durchbrochen habe. Doch anstatt sich damit lange aufzuhalten, bezieht sich Dreher auf jene Wissenschaftler, die die Unabhängigkeit besaßen und besitzen, »die Zentralität de jure der Beiträge der Phänomenologie zu erkennen, eine Zentralität, die im Studium der Religion und der Religionen eine noch größere Bedeutung gewinnt«.49 Von daher erklärt sich der Titel des Buches. Die Autorinnen und Autoren haben keine Scheu, im Gefolge von Edmund Husserl von »einem eigenen Wesen der Religion« auszugehen, »einem Wesen, das allerdings die Fähigkeit besitzt, sich der erkennenden Subjektivität so zu manifestieren, wie es ›in sich selbst‹ ist.«50

Wenn ich oben bei Croatto von der Religionsphänomenologie als »Krone« gesprochen hatte, so wäre hier das Bild von der Phänomenologie als Lebenszentrum oder als »Herz« angebracht. Es geht darum, den Einfluss (influxo) der Religionsphänomenologie auf die (und den Dialog mit den) verschiedenen Disziplinen herauszuarbeiten, die die Religionswissenschaft(en) konstituieren. So werde die Religionsphänomenologie »transdisziplinäre Bedeutung und Statur« gewinnen. 51 Denn eine gründliche Beschäftigung mit der Phänomenologie (der Religion) stehe in Brasilien noch aus (!).52

Im Unterschied zum oben erwähnten, von Teixeira herausgegebenen Buch sind die hier versammelten Einzelbeiträge weniger programmatisch und taktisch, sondern vielmehr analytisch, wissenschaftshistorisch und wissenschaftstheoretisch ausgerichtet. Einige Positionen seien im Folgenden kurz vorgeführt.

Vitória Peres de Oliveira wendet sich gegen die Kritik, der Religionsphänomenologie fehle eine solide empirische Basis. Sie hält dagegen, die Autoren solcher Kritik gingen ihrerseits von der Voraussetzung einer – problematischen – Dichotomie zwischen empirischer (induktiver und historischer) und nicht-empirischer (de­duktiver und ahistorischer) Methode aus und schlössen daraus, die deduktiv vorgehende Religionswissenschaft sei unwissenschaftlich. Es könne aber nicht um eine Rückkehr »zur ›illusionären‹ Sicherheit einer positivistischen Weltanschauung« gehen. 53 Trotz des gelegentlich vagen und unkritischen Gebrauchs des Begriffs Phänomenologie sei die Religionsphänomenologie sowohl eine wissenschaftliche Disziplin »in vollem Recht« wie eine aktu­elle und nützliche Methode. Für die religionswissenschaftlichen Forschungen sei die Religionsphänomenologie – sei es als eines der religionswissenschaftlichen Fächer, sei es als eine Methode – von fundamentaler Bedeutung. Sie ermögliche die Integration der religiösen Ge­gebenheiten in die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung. 54

Sidnei Vilmar Noé reflektiert über das Verhältnis von Religionsphänomenologie und Religionspsychologie innerhalb der Religionswissenschaften. Jede der für beide Teilwissenschaften charakteristischen Perspektiven habe ihr Recht; beide müssten das Recht der anderen anerkennen.55 Gemeinsam hätten sie die Aufgabe, die religiöse Erfahrung (vivência) als sui generis zu verstehen und zu rekonstruieren, und zwar in der Wechselbeziehung zwischen einem Phänomen, das sich jemandem zeigt, und der Reaktion in der Subjektivität dieses jemanden auf dieses Phänomen. »Dies verlangt von dem Forscher, die vermeintliche Objektivität aus der Hand zu geben, um sich stattdessen subjektiv durch das zu untersuchende religiöse Phänomen verunsichern zu lassen.«56 Ein empiristischer Positivismus wird auch in diesem Beitrag zurückgewiesen; er wäre dem untersuchten Objekt nicht angemessen. Vielmehr könnten beide Disziplinen nicht mehr tun, als sich auf ein »Tasten« in der Dimension des Vorletzten und Provisorischen zu beschränken: »Sie müssen zugeben, dass die religiöse Erfahrung auf eine Grenze jenseits der wissenschaftlichen Fähigkeit, Antworten zu ge­winnen, verweist«.57

Der schon erwähnte Antonio Gouvêa Mendonça58 hebt »die Persistenz der phänomenologischen Methode in der Religionssoziologie« hervor und will durch diesen Nachweis »das Übermaß von Empirismus vermeiden, der gelegentlich zu einer übertriebenen, um nicht zu sagen: exklusiven, Hochschätzung der Epiphänomene führt«.59 Auch in dieser Argumentation erscheint die Phänomenologie als Zentrum der Religionswissenschaft. Entscheidend sei nicht, ob man von der »Peripherie« ausgehend zum »Zentrum« oder Ursprung gelange oder aber den umgekehrten Weg gehe, sondern dass dieser Weg überhaupt gegangen werde. Selbst wenn man den Tendenzen des ganzen 20. Jh.s folge und die Konstruktionen großer allgemeiner Prinzipien zu Gunsten provisorischer Verstehensmodelle aufgebe, erweise sich die Phänomenologie dennoch als durchaus angemessenes methodologisches Instrument. Außerdem sei die Phänomenologie keineswegs exklusivistisch, sondern sie lebe und teile ihre Bemühungen mit ihren nächsten Nachbarn, der Gestalttheorie (auch im Original deutsch) und dem Strukturalismus.

Rodigo Toledo França bezieht sich auf Desiderate der Erforschung von Beziehungen zwischen Religion und Literatur und vertritt die Hypothese, dass Rudolf Ottos Religionsphänomenologie einen gangbaren Weg hierzu darstelle. Am Beispiel des klassischen Werkes brasilianischer Literatur Grande Sertão: Veredas (und hier insbesondere der Episode des angeblichen Paktes von Riobaldo mit dem Teufel) von João Guimarães Rosa wird gezeigt, wie Ottos Zu­gang zum religiösen Phänomen literaranalytisch fruchtbar ge­macht werden kann. 60

Eduardo Gross schließlich stellt, ausgehend von Paul Ricœur, Erwägungen an über die Phänomenologie und die Freudsche Theo­rie in ihrer Bedeutung für religionswissenschaftliche Forschung. Für Gross enthalten die zwischen diesen unterschiedlichen Zu­gangsweisen zur Religion bestehenden Konflikte ein kreatives Po­tential. Die Konflikte und Unterschiede, die ja hinsichtlich der (reflexiven) Phänomenologie einerseits und der (analytischen) Psy­choanalyse andererseits auf der Hand liegen, können ihre inhärente wissenschaftliche Produktivität unter der Bedingung ent­falten, dass »es einen Raum gibt für die Selbstkritik und für die Zurückweisung dogmatischer Reduktionismen«.61 Nur wer die Wahrheit schon besitze, brauche sich nicht durch fremdartige Perspektiven »kontaminieren« zu lassen, sei aber im »ambiente aca­dêmico« nicht am Platz. Wenn aber die Religion in ihren vielen Facetten (»caráter multifacetado«) und mit den ihr innewohnenden Spannungen wahrgenommen werde, könnten die auf Ursachen begründete Psychoanalyse und die eschatologische, weil letztgül­tigen Intentionen (ultimate intentions) verpflichtete, Phänomenologie ihr Verhältnis als komplementär begreifen: Beide bezeugen die Vielfalt, die den religiösen Phänomenen innewohnt. 62

Am Schluss dieses Überblicks über die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Religionsphänomenologie lässt sich mit einem vereinfachenden Bild aus der Welt der Banken sagen: Die Religionswissenschaft in Deutschland besitzt zwar noch das Bankkonto »Religionsphänomenologie«. Aber dieses Konto ist schon lange leer. Und es gibt so gut wie niemanden mehr, der versuchte, etwas abzuheben, bzw. bereit wäre, noch etwas auf dieses Konto einzuzahlen. Die Religionswissenschaft in Brasilien dagegen ist dabei, ihr Konto Religionsphänomenologie nicht nur zu entdecken – und zwar als gut gefülltes, sondern von ihm nach und nach erhebliche Beträge abzuheben, um mit ihnen die Zukunft zu sichern. Gerade dieser Abschnitt 3.2.3 hat ja gezeigt, welche Erwartungen die Religionswissenschaft an ihre Phänomenologie richtet. 63

4. Perspektiven: Unterschiede und Gemeinsamkeiten


Abschließend sei versucht, in den Unterschieden auch Gemeinsam­keiten anzudeuten und so Perspektiven zu benennen, die die Religionswissenschaft in beiden Kontinenten miteinander betreffen.

4.1 Institutionelle Abhängigkeit


Die Religionswissenschaft befindet sich – in Deutschland wie in Brasilien – in einer Situation der Abhängigkeit. Sie teilt diese Ab­hängigkeit mit den anderen Wissenschaften. Die institutionellen Strukturen sind abhängig von der staatlichen Kultur- und Bildungspolitik. Im Fall der Religionswissenschaft können auch noch Abhängigkeiten von Religionen und christlichen Kirchen hinzukommen, sofern sie Träger eigener Hochschulen sind bzw. Einfluss auf die staatliche Hochschulpolitik ausüben: Wer zahlt, entscheidet über die Errichtung und Profilierung von Lehrstühlen.

Was Brasilien betrifft, so scheint der sicherste Ort der Religionswissenschaft (noch?) ein Platz unter dem Dach der christlichen Theologie zu sein. Ich habe auf das Argument hingewiesen, die Theologie müsse – im Blick vor allem auf ihre Theologie der Religionen – in die Religionswissenschaften integriert werden bzw. bleiben.64 Zur Existenzsicherung und zu ihrem weiteren Ausbau sieht sich die Religionswissenschaft also auf die Theologie angewiesen. Denn vorläufig hat sie, anders als die Theologie, noch keine feste und unangefochtene Position im Kontext der Universitäten. Das Interesse an der Phänomenologie ist, wie gezeigt, auch von der Erwartung geleitet, diese könne der Religionswissenschaft zu theoretischer und institutioneller Selbstbestimmung verhelfen.

Zwar gibt es in Deutschland, anders als in Brasilien, eine Tradition selbständiger Lehrstühle allein für Religionswissenschaft. Aber diese Tradition wird zunehmend brüchig. Jeder Religionswissenschaftler, der in den Ruhestand geht, muss damit rechnen, dass sein Lehrstuhl nicht wieder besetzt wird. Zur Absicherung der noch bestehenden religionswissenschaftlichen Lehrstühle und Institute sind die Religionswissenschaftler gezwungen, an die Öf­fentlichkeit zu gehen und auf die Notwendigkeit der Religionswissenschaft für die Gesellschaft hinzuweisen wie auch auf den unerlässlichen Beitrag der Religionswissenschaft für andere, weniger gefährdete Fakultäten.

In der Perspektive der strukturellen Abhängigkeit ist die Situation der Religionswissenschaft in Brasilien und Deutschland also gar nicht so verschieden. Diese Situation bringt es mit sich, dass hier wie dort die Abhängigkeit der Religionswissenschaft von den Finanzen und der Universitätspolitik zur zwangsweisen Entfremdung von den eigenen wissenschaftlichen Themen führen kann. Die Wissenschaft kann nicht mehr selbst entscheiden, was und wie geforscht wird, sondern sie wird von außen her fremdbestimmt. Es gibt zwar in Deutschland und Brasilien unterschiedlich ausgeprägte Abhängigkeiten, aber abhängig ist die Religionswissenschaft auf beiden Seiten. 65 Insofern sitzen die Religionswissenschaftler jenseits und diesseits des Atlantiks im gleichen Boot.

4.2 Unterschiedliche Interessen und Indizien gegenseitiger Annäherung


Im Blick auf die in Brasilien und Deutschland betriebene Religionswissenschaft lassen sich unterschiedliche Interessen konstatieren. Es ist z. B. auffällig – ich habe oben darauf hingewiesen – , dass in Brasilien ein Bedarf an Handbüchern und Gesamtdarstellungen aus eigener Produktion besteht. Aus europäischer Sicht wäre gerade die Existenz solcher Einführungen ein Signal für die Akzeptanz und Präsenz einer wissenschaftlichen Disziplin. Auch hinsichtlich der in Brasilien vorliegenden Übersetzungen religionswissenschaftlicher Klassiker wird die Situation als prekär angesehen. So ist einerseits Rudolf Ottos Das Heilige weithin rezipiert und löst erstaunliche interdisziplinäre Inspirationen aus. Andererseits aber ist die Textbasis zurzeit immer noch eine völlig unzureichende Übersetzung, auf die selbst Dissertationen über Das Heilige zu­rück­greifen. An beiden Punkten besteht also ein in Brasilien durchaus be­wusstes Nachholbedürfnis.66

Beim Betrachten der Rezeptionen Ottos begegnen Überraschungen – im positiven und negativen Sinn des Wortes. Für beides ein Beispiel: In der Einführung in die Religionsphänomenologie von Piazza wird Otto vorgeworfen, er betrachte das Heilige zwar »als etwas Objektives, aber auf Grund seiner Treue zu Kant [!] identifiziert er es nicht mit Gott« und reduziere das Heilige auf eine leere Kategorie ohne Sinn.67 Andererseits begegnet eine unvermutete Berufung auf Otto in einem Beitrag über das Verhältnis zwischen (christlicher) Mission und Spiritualität, und zwar auf seine These über die Harmonie zwischen dem irrationalen und dem rationalen Element als Kriterium für die Überlegenheit einer Religion.68

Gerade dieser letzte Hinweis auf Ottos Anwendung eines Maßstabs zum »Messen« der Religionen verdient Beachtung. Es mag sein, dass insbesondere das 22. Kapitel (»Divination im heutigen Christentume«) von Das Heilige, das bei der Rezeption Ottos oft übersehen wird, die Kritiker der Religionsphänomenologie in ihrer Ablehnung bestätigt und ihre Anhänger irritiert: Das Phänomen des Numinosen bzw. die Kontrastharmonie zwischen dem mysterium fascinans und dem mysterium tremendum ist für Otto dann ein Maßstab für die Bewertung der Religionen, wenn das Numinose kreuzestheologisch interpretiert wird bzw. wenn es sich im Kreuz Christi vollendet oder besser vertieft: Unter Berufung auf das »Kreuz Christi, dieses Monogramm des ewigen Mysteriums« hat das »christliche Gefühl die lebendigste Anwendung der ›Kategorie des Heiligen‹ vollzogen und damit die tiefste religiöse Intuition hervorgebracht, die je auf dem Gebiete der Religionsgeschichte zu finden gewesen ist.

Darnach aber muß man fragen, wenn man Religionen an einander messen und feststellen will, welche von ihnen die vollkommenste sei. Nicht Leistung für Kultur, nicht Beziehung auf ›Grenzen der Vernunft‹ und ›der Humanität‹, die man vorher und ohne sie selber glaubt konstruieren zu können, nichts ihr Äußerliches kann im letzten Grunde der Maßstab sein für den Wert einer Religion als Religion. Nur das, was ihr eigenstes Innerstes ist, die Idee des Heiligen selber, und wie vollkommen eine gegebene Einzelreligion dieser gerecht werde oder nicht, kann hier den Maßstab abgeben.« 69

Soweit Rudolf Otto. Dieses kreuzestheologisch interpretierte Heilige stellt eine doppelte Herausforderung dar: Es sperrt sich gegen eine Benutzung der Religionsphänomenologie als Legitimationsbasis für ein die Disziplinen verbindendes Konzept von Religionswissenschaft (wie in Lateinamerika), aber ebenso auch gegen eine Auffassung von Religionswissenschaft, die sich dem methodischen Atheismus verpflichtet fühlt (wie in Europa).


Neben dem erwähnten Nachholbedürfnis lassen sich in Europa und Lateinamerika unterschiedliche sachliche Orientierungen feststellen. Es handelt sich um den Unterschied zwischen einer Ori­entierung nach »innen« und nach »außen«: Während in Deutschland »theoretische« Studien über Methodenfragen und Identitätsbegründungen der Religionswissenschaft im Vordergrund stehen, gibt es in Brasilien eine überaus reiche Produktion von Fallstudien und Texteditionen70 über die verschiedensten Religionen und Kon­fessionen, wobei diejenigen im Vordergrund des Interesses stehen, die – auch in Gestalt der Teilnehmenden an Lehrveranstaltungen71 – präsent sind. Abgesehen davon ist das Interesse an »Religion« auch in den säkularen Medien überaus lebendig.72

Auch im Blick auf die Bewertung der Phänomenologie gibt es Anzeichen für Entwicklungen, die das Schema dieser Darstellung zu korrigieren scheinen.73 Aufs Ganze gesehen ist es zwar so, dass die Phänomenologie in der deutschen Religionswissenschaft verabschiedet wurde, während in Brasilien beträchtliche Hoffnungen in sie gesetzt werden. Jedoch wenn die Phänomenologen wegen ihrer Wertungen der religiösen Objekte kritisiert wurden, so ist diese Kritik bei einigen der brasilianischen Beiträge durchaus berücksichtigt worden, während es umgekehrt in der deutschen Religionswissenschaft neuere Tendenzen gibt, die erkennen lassen, dass die Abstinenz hinsichtlich einer kritischen Bewertung religiöser Phänomene aufgegeben wird. 74

Umso verheißungsvoller wäre ein internationales Fachgespräch, das eine Begegnung beider Einstellungen zur Religionsphänomenologie ermöglicht.75 Denn es gibt Indizien für eine ge­genseitige Annäherung: In Deutschland bewegt sich die Religions-wissenschaft von der Begründung einer eigenen Methode hin zu einer Beurteilung religiöser Phänomene und öffnet sich damit (wie­der) für normative Fragestellungen; in Brasilien gibt es eine Tendenz, nach der Konzentration auf analytische Fallstudien (aus den verschiedensten wissenschaftlichen Perspektiven) und von der Beurteilung des empirischen Materials sich künftig stärker dem Thema einer eigenen religionswissenschaftlichen Methode zuzuwenden. Dabei wäre es wichtig, dass sich die Religionswissenschaften als interkulturelle Wissenschaften begreifen.76

4.3 Forschung unter Voraussetzungen


Die letzte Beobachtung betrifft die Beziehung zwischen der Forschung und ihren Voraussetzungen. Ich hatte oben von der Abhängigkeit der Forschung gesprochen. Mir geht es jetzt nicht um diese gleichsam äußere, institutionelle Abhängigkeit, sondern um die der Forschung selbst inhärenten Voraussetzungen.77 Was die Phänomenologie betrifft, so leben die Kritiken gegen sie in Europa von der Voraussetzung, eine Forschung frei von Voraussetzungen (z. B. der Metaphysik und/oder der Theologie) wäre möglich. In Brasilien zeigen sich solche Voraussetzungen in dem Ziel, die Autonomie der Religionswissenschaft als akademische Disziplin anzustreben und die Phänomenologie als Einheitsband der Religionswissenschaften zu konstituieren.

Anstatt sich auf das unerreichbare Ideal einer voraussetzungslosen Wissenschaft zu versteifen, plädiere ich für eine (Religions-) Wissenschaft, die bereit ist, frei und unbefangen die ihr eigenen Ziele und Voraussetzungen (wie auch die der Forscherinnen und Forscher) zu diskutieren.78 Dazu gehört die Offenlegung und Be­antwortung der Frage: Was will die Religionswissenschaft? Will sie verhindern, in die Falle des Positivismus (Brasilien) oder des Technizismus (Deutschland) zu gehen, um so ihrem »Objekt«, der/den Religion(en), gerecht werden zu können? Dem wäre voll zuzustimmen. Aber eben damit zeigt sich die unvermeidliche Spannung und Beziehung zwischen Voraussetzung und Forschung. Die Frage nach den Voraussetzungen und Zielen der Forschung ist unablösbar von der Forschung selbst. Und die Unausweichlichkeit der Entscheidung darüber, was erforscht werden soll und mit welchem Ziel, eint die Religionswissenschaften in Brasilien und die Religionswissenschaft in Deutschland.

Dann könnten auch die oft verschwiegenen oder uneingestandenen Leitinteressen offen thematisiert werden, ebenso wie die Bildungsziele, denen die Forschung sich verpflichtet weiß bzw. denen sie verpflichtet worden ist. Zu den die Forschung selbst beeinflussenden Voraussetzungen gehören ebenso die inner-universitären Konkurrenzen, insbesondere die Animositäten gegenüber Nachbarfächern, und das Bedürfnis, in der außeruniversitären Öffentlichkeit, in der Politik und den Medien, präsenter zu werden. Bei dieser Selbstpräsentation gilt nicht selten die strikte Anwendung des Prinzips, alles Religiöse nicht-religiös zu formulieren, als Aus weis von Religions-»Wissenschaft«.79 Hier stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt das überkommene Ideal von positivistischer Wissenschaftlichkeit für das Selbstverständnis der Religionswissenschaft(en)? M. E. verweisen solche Fragen und Beobachtungen auf den unentrinnbaren Einfluss der Voraussetzungen auf die Forschung selbst.

Genau dies zeigen die kontroversen Diskussionen über die Religionsphänomenologie: Zur Erforschung der »Objekte« – der sich zeigenden Religion(en) – gehört die Rechenschaft über die jedem Forschungsprojekt eigenen Voraussetzungen und über die Leitmotive der Forscherinnen und Forscher. Wissenschaft ist angewiesen auf kleine Fakten und auf große Träume von einer Synthese der disparaten Einzelphänomene.80 Durch diese Angewiesenheit wird und bleibt die Erforschung der Phänomene eine menschliche Un­ternehmung. »Jede Rede, besonders denn das Bruchstück einer Rede, setzt gemeinhin etwas voraus, wovon sie ausgeht; wer die Rede oder die Aussage zum Gegenstand der Erwägung machen will, tut deshalb wohl, wenn er zuerst die Voraussetzung ausfindig macht, um dann mit ihr zu beginnen.«81

Um zusammenzufassen: Die hier dargestellte Auseinandersetzung über die Phänomenologie kann der Religionswissenschaft als Spiegel ihrer eigenen Prämissen dienen und dazu, die Metho­den­dis­kussion selbstkritisch zu vertiefen. Außerdem wird im Blick auf außereuropäische Religionswissenschaften die Rede von einer In­terkulturalität der Religionswissenschaften (im Plural) plausibel, wie sie sich für christliche Theologien bereits eingebürgert hat.

Summary


This essay was written during a research semester in Brazil. It deals with the controversial estimation of the phenomenology of religion by religious studies in the »North« and the »South« and analy­s­es the reasons and intentions of the respective positions. First, the largely critical assessment of phenomenology of religion in Ger­many is described, then the great expectations of religious studies in Brazil concerning this topic. One reason for this expectation is the intention to establish their own subject – religious studies – through the medium of phenomenology of religion as an autonomous academic discipline. One last passage deals with the common ground of religious studies in Brazil and Germany despite their differences. Most striking is the insight, that research here and there has different preconditions. So the ideal of a positivistic science is questioned. Insofar, the comparison between Brazil and Germany might encourage a more profound discussion of methods.

Fussnoten:

1) Vgl. meine diesbezüglichen Beobachtungen in: Hermann Brandt, Die heilige Barbara in Brasilien. Kulturtransfer und Synkretismus (= Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften, Band 105), Erlangen 2003, 91 f. einschließlich Anm. 110.
2) Berlin-New York 2004. Der Preis dieses zweibändigen Werkes von über 1000 Seiten – 216,00 EUR – wird allerdings seine Verbreitung im »Süden« er­schweren.
3) Vgl. Bd. 1, 1 (Vorwort).
4) Bd. 2, 458 f. (Zusammenfassung).
5) Meinem brasilianischen Kollegen Oneide Bobsin an der Escola Superior de Teologia (EST) in São Leopoldo danke ich herzlich für anregende Gespräche während der Arbeit an diesem Beitrag.
6) Vgl. z. B. die Einführungen von Greschat, Stolz, Rudolph, Lanczkowski und die unten näher betrachteten von Hock und Stuckrad/Kippenberg sowie den Beitrag von Christoph Bochinger, Religionswissenschaft, in: Michael Roth (Hrsg.), Leitfaden Theologiestudium (UTB 2600), Göttingen 2004, 183–216.
7) Vgl. hierzu den allerdings korrekturbedürftigen Aufsatz von Frank Usarski, Perfil paradigmático da ciência da religião na Alemanha, in: Teixeira (s. u. bei Anm. 33), 67–102.
8) Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002.
9) Hock, op. cit., 55.
10) Im markanten Unterschied zur Religionswissenschaft in Lateinamerika! Vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen.
11) Vgl. zum Folgenden: Hock, op. cit., 58–67.
12) Vgl. z. B. die Zurückweisung eines religionsphänomenologischen (im Sinne von: theologisierenden) Verständnisses von Religionswissenschaft durch Hartmut Zinser, Art. Religionsphänomenologie, in: HrwG I, 306–309, und die Auseinandersetzung zwischen Theodor Ahrens und Theo Sundermeier über das Verhältnis zwischen Missions- und Religionswissenschaft, in: Theodor Ahrens, Gegebenheiten, Frankfurt a. M. 2005, 309–313.
13) Bremen 2003.
14) Ich vermisse in diesem Werk etwas von der Souveränität eines Gerardus van der Leeuw, der seinerzeit die Religionsphilosophie des »alten« Hegel humorvoll gewürdigt und zugleich die besserwisserische »nörgelnde Wissenschaft« kritisiert hatte, vgl. v. d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, 2. Aufl., Tübingen 1956, 707 und dort Anm. 3 (707 f.). (Übrigens wird bei der Rezeption der Phänomenologie v. d. Leeuws oft dessen Kooperation mit Rudolf Bultmann übersehen. So schrieb v. d. Leeuw im Vorwort zur 1. Auflage (1933): »Ein besonderes Wort des Dankes sei aber meinem lieben Kollegen Rud. Bultmann gewidmet, der nicht bloß in aufopferungsreicher und gewissenhaftester Weise die Korrekturen mitgelesen hat, sondern auch an dem Inhalt einen Anteil genommen, der mich oft beschämt und immer gefördert hat.« Op. cit., VI.)
15) Op. cit., 13.
16) Op. cit., 32–34.
17) Op. cit., 34 f.
18) Op. cit., 60.
19) Op. cit., 142 f.
20) Hock, op. cit., 58–67.
21) Op. cit., 67 f.
22) Dieser zukunftsweisende Beitrag findet sich in einer weiteren »Einführung«, die sich von den beiden hier besprochenen dadurch unterscheidet, dass die Einzelaspekte der Religionswissenschaft von verschiedenen Autoren dargestellt werden: Hartmut Zinser (Hrsg.), Religionswissenschaft. Eine Einführung, Berlin 1988, darin: 131–154.
23) Hock, op. cit., 70.
24) Nur ein aktuelles Beispiel: Luiz Hebeche, O escândalo de Cristo: ensaio sob­re Heidegger e São Paulo, Ijuí: Ed. Unijuí, 2005; das Buch (432 S.) ist in der brasi­lianischen Katalogisierung folgenden Bereichen zugeordnet: 1. Philosophie, 2.Re­ligion Christentum, 3. Phänomenologie, 4. Heidegger, 5. Religionsphilosophie.
25) Vgl. Vera Rudge Warneck, O eu educado: uma teoria da educação fundamentada na fenomenologia, Rio de Janeiro 1991.
26) Vgl. Angelina Pollak-Eltz, La religiosidad popular en Venezuela. Um estudo fenomenológico de la religiosidad en Venezuela, San Pablo, Carracas 1994. Auf der hinteren Umschlagseite bezeichnet das Wort »fenomenológico« die Abgrenzung von einem »estudo sociológico y estatístico«. Entsprechendes lässt sich über die Verwendung des Wortes sagen im zweibändigen Werk von Valdeli Carvalho da Costa, Os »seres superiores« e os orixás/santos. Um estudo sobre a fenomenologia do sincretismo umbandístico na perspectiva da Teologia Católica, São Paulo 1983.
27) Editorial DOCENCIA, Buenos Aires 1994. – Im Folgenden gebe ich portugiesische und spanische Zitate in eigener Übersetzung wieder, soweit sie nicht unmittelbar vom Lateinischen her verständlich sind.
28) Vgl. z. B. J. Martin Velasco, Introducción a la fenomenología de la religión, Ediciones Cristandad, Madrid 1978 (er versteht die Religionsphänomenologie als moderne Religionswissenschaft, die sich gleichermaßen gegen die Theologie wie gegen die säkulare Anthropologie richtet, 52 f.), oder Giovanni Filoramo/Carlo Prandi; As Ciências das Religiões (Übersetzung aus dem Italienischen), Paulus, São Paulo 1999.
29) Ich komme unten im Abschnitt 3.2.2 auf diese Kontroverse zurück.
30) Croatto, op. cit., 21–28.
31) Op. cit., 21.
32) Op. cit., 28.
33) F. Teixeira (Hrsg.), Titel wie oben, Paulinas, São Paulo 2001.
34) Op. cit., 3.
35) Vgl. das aus dem Italienischen übersetzte Werk von Aldo Natale Terrin, O Sagrado Off Limits. As experiências religiosas e suas expressões, São Paulo 1998; das erste Kapitel hat die Überschrift »Zur Verteidigung der Autonomie des religionswissenschaftlichen Studiums«!
36) Inzwischen hat eine Reflexion darüber eingesetzt, was der Singular und der Plural implizieren: »Wer von der Religionswissenschaft (Singular) spricht, tendiert dazu, eine wissenschaftliche Methode und ein einheitliches Objekt vorauszusetzen. Wer es dagegen vorzieht, von Religionswissenschaften (Plural) zu sprechen, tut dies, weil er sowohl vom Pluralismus der Methoden überzeugt ist (und von der Unmöglichkeit, ihn auf einen kleinsten Nenner zu reduzieren) als auch vom Pluralismus des Objektes (und von der Unzulässigkeit, ja sogar der Unmöglichkeit, im Rahmen der empirischen Untersuchung seine Einheit zu konstruieren).« In: Op. cit., 203.
37) Op. cit., 162 f.
38) Op. cit., 203 f. Im Gegensatz hierzu steht das heftig vorgetragene Plä­doyer für den Singular Religionswissenschaft von Kurt Rudolph, Texte als religionswissenschaftliche ›Quellen‹, in: Zinser (wie Anm. 22), 38–54; nur als eine Religionswissenschaft könne sie im universitären Kontext unverwechselbar er­kennbar sein und Bestand haben. Die Etablierung des Plurals »Religionswissenschaften« seit den 70er Jahren in Deutschland »kann … nur auf Unwissen oder auf einem bewußten Versuch beruhen, den Charakter dieser Fachrichtung zu untergraben, und zwar im Sinne einer theologischen Inanspruchnahme, indem die traditionellen theologischen Aufgabenbereiche in reduzierter Form zusammen mit einem beschnittenen religionswissenschaftlichen Fachgebiet unter ein Dach von ›Religionswissenschaften‹ gebracht werden …«. Rudolph verweist auf ein englischsprachiges Prospekt »Study in Marburg«, in dem unter Magisterstudiengängen steht: »Religious Science, Theology«, während in der deutschen Fassung »Religionswissenschaften (!)« steht und getrennt davon »Theologie, ev.«. Rudolph kommentiert: »Daraus soll ein Student klug werden!« Op. cit., 38 f. und 51, Anm. 1.
39) Vgl. Teixeira, op. cit. (= Anm. 33), 298–300.
40) Op. cit., 304–313.
41) Op. cit., 321 f.
42) Andererseits können auch theologische Hochschulen in Schwierigkeiten kommen, wenn etwa auf Grund staatlicher Vorgaben (im Blick auf weiter zu gewährende Zuschüsse) verlangt wird, dass Kurse über »cultura negra« von Dozenten gehalten werden, die selbst Anhänger afrobrasilianischer Kulte sind, ein solches Angebot aber in Konflikt mit dem eigenen Profil geriete und negative Folgen für die finanzielle Unterstützung durch die jeweiligen Träger (Gemeinden, Kirchen) hätte. Abgesehen davon begrüßen kirchliche Träger von Hochschulen und Universitäten es zwar, wenn »ihre« Religionswissenschaftler andere Religionen und Kirchen untersuchen, sind jedoch weniger davon angetan, wenn die eigene Religion bzw. Kirche zum Objekt religionswissenschaftlicher Forschung gemacht wird.
43) Op. cit., 331.
44) Fenomenologia da Experiência Religiosa, in: Numen: (Juiz de Fora), v. 2 – n. 2, Jul/Dez, 65–89, 1999.
45) Bei Teixeira, op. cit., 206.
46) Mendonça bezieht sich auf: Schleiermacher, Husserl, Scheler, Otto, v. d. Leeuw, Wach, Eliade, op. cit., 65–89.
47) Diese Argumentation wird aber auch, z. B. von anthropologischer Seite, zurückgewiesen, u. a. mit dem Argument, der Aspekt der Unableitbarkeit der religiösen Erfahrung werde bereits von der Theologie abgedeckt, vgl. Teixeira, op. cit., 207–217.
48) Juiz de Fora, Editora UFJF: 2003.
49) Dreher, op. cit., 5.
50) Op. cit., 6.
51) Ibidem.
52) Op. cit., 9.
53) Op cit., 56 f.
54) Die Autorin bezeichnet dies als Herausforderung und zitiert aus einem persischen Gedicht: »Auf dem Grund des Meeres gibt es unvergleichliche Reichtümer. / Aber wenn du Sicherheit willst, suche sie auf dem Strand.« Op. cit., 57.
55) Op. cit., 59 f.
56) Op. cit., 74 f.
57) Op. cit., 75.
58) S. o., Anm. 44.
59) Op. cit., 101.
60) Vgl. op. cit., 111–120. Die zu Grunde gelegte portugiesische Übersetzung von Ottos Das Heilige und die vom Autor erwähnte Studie von Bruno O. Birck, O Sagrado em Rudolf Otto, Porto Alegre 1993, sind allerdings nicht geeignet, diese These zu sichern, s. u. unter 4.2.
61) Op. cit., 130.
62) Op. cit., 131.
63) Zum Abschluss dieser Ausführungen über die Einschätzung der Religionsphänomenologie in Brasilien sei auf zwei gewichtige Arbeiten verwiesen, deren Autoren Impulse von außen aufgenommen und so eine Brücke zwischen verschiedenen Welten geschlagen haben. Beide betreffen das Werk von Eliade.

Die erste: António Barbosa da Silva, The Phenomenology of Religion as a Philosophical Problem. An Analysis of the Theoretical Background of the Phe­nom­enology, in General, an of M. Eliade’s Phenomenological Approach, in Particular. Studia Philosophiae Religionis 8, Uppsala 1982. Der Autor ist jedoch nicht, wie sein Name vermuten lässt, Brasilianer, sondern seine Eltern stammten von den Kapverdischen Inseln und lebten seit 1972 in Oslo. Mit dem genannten Werk promovierte da Silva an der Universität Uppsala, Schweden, zum Dr. theol. Die Arbeit zeichnet sich durch einen ungewöhnlich hohen Reflexionsgrad aus, was insbesondere die Methodik und die Begriffsklärungen betrifft. Sie spiegelt die analytische skandinavische Religionswissenschaft. Welche wissenschaftliche Distanzierung der Autor hier praktiziert, welche Ausschaltung von Emotionen, wird erst deutlich bei einem Vergleich dieser Analyse der theoretischen Grundlagen der Religionsphänomenologie mit einem völlig anders gearteten Werk des Autors, das er zusammen mit Domingos Barbosa da Silva herausgegeben hat: A Odissea Crioula, in Norwegen auf Portugiesisch gedruckt: Aktietrykkeriet, 2. Aufl., Oslo 1993. Dieses Buch ist dem Gedenken seiner Eltern und seiner an Krebs gestorbenen Schwester gewidmet. Es ist poetisch-politische Eruption; der Untertitel deutet es an: Die Traurigkeiten, Freuden und Hoffnungen des Kap-verdischen Volkes.

Die zweite Arbeit: André Eduardo Guimarães, O Sagrado e a História. Fenômeno Religioso e Valorização da História à Luz do Anti-Historicismo de Mircea Eliade: EDIPUCRS (Coleção: Teologia 21 [!]), Porto Alegre 2000. Nach Abschluss seiner Studien in Klinischer Psychologie und Theologie in Brasilien ging er nach Rom, um an der Gregoriana zu promovieren. Nach der Verteidigung seiner Promotionsschrift im Juli 1989 kehrte er nach Brasilien zurück. Das angezeigte Buch ist seine Doktorarbeit. Die Drucklegung hat der Autor nicht mehr erlebt: Er starb 1991 bei einem Autounfall auf der Strecke zwischen Belo Horizonte und Juiz der Fora. Das Buch hat einen Umfang von 600 Seiten und ist eine meisterhafte Darstellung nicht nur des Werkes und der Intentionen von Eliade, sondern auch in der Analyse der vielfältigen und kontroversen Rezeptionen. Die eigene Interpretation des Autors kann ich hier nur durch drei Kapitelüberschriften andeuten: Die Unauflöslichkeit des Verhältnisses zwischen der Erfahrung des Heiligen und dem religiösen Symbolimus; Die Integration von Phänomenologie und Geschichte in der Hermeneutik Eliades; Von der Morphologie des Heiligen zur Geschichte der religiösen Ideen. – Mit diesem Werk hat der brasilianische Autor einen Maßstab gesetzt, an dem künftige Forschungen zur Religionsphänomenologie sich werden messen lassen müssen.

Beide Werke zeigen die wissenschaftliche Produktivität von Autoren, die die Grenzen ihres ursprünglichen Kontextes überschritten haben. Sie bekräftigen die Hoffnung, dass auch eine Kooperation zwischen lateinamerikanischen und europäischen Religionswissenschaftlern zukunftsträchtig sein könnte.
64) Siehe oben zu Teixeira, op. cit. (wie bei Anm. 33), 207 ff.
65) Insofern ist die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts diskutierte Dependenztheorie für die Religionswissenschaft heute keineswegs nur »Theorie«. – Ein eigenes Thema wäre in diesem Zusammenhang – auch im Blick auf eine interkulturelle Verständigung zwischen Religionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern – ein Vergleich der hier wie dort vorgegebenen Bildungsziele.
66) Näheres hierzu in: H. Brandt, As ciêcias da religião numa perspectiva intercultural, in: Estudos Teológicos, 2006 Nr. 1, (122–151), 143–145. Zurzeit ist in Brasilien eine Neuübersetzung von Das Heilige geplant, die den wissenschaftlichen Standards genügt (an der Escola Superior de Teologia – EST).
67) Waldomiro Octavio Piazza, Introdução à Fenomenologia Religiosa, Petrópolis 1976, 83.
68) Carloz Queiros, Missão e espiritualidade, in: Sérgio Andrade/Rudolf von Sinner (Hrsg.), Diaconia no contexto nordestino, São Leopoldo-São Paulo 2003, 91–114, das Zitat 99 f.
69) R. Otto, Das Heilige, 29. bis 30. Aufl., München o. J. (Vorwort datiert Januar 1936), 200.
70) Vgl. z. B. das Standardwerk von Reginaldo Prandi, Mitologia dos Orixás: Editora Schwarcz, São Paulo 2001 (hierzu: H. Brandt, Die hl. Barbara in Brasilien– wie Anm. 1), oder die Fallstudien von Oneide Bobsin, O subterrâneo religioso da vida eclesial: intuições a partir das Ciências da Religião, in: Estudos Teológicos, São Leopoldo 1995, 261–280; Tendências religiosas e transversalidade: hipóteses sobre a transgressão de fronteiras, in: Bobsin, Correntes religiosas e globalização, São Leopoldo 2002, 13–38.
71) An einem Kurs Einführung in die Religionswissenschaften an der EST im Jahr 2005 nahmen nicht nur Christen verschiedener Konfessionen teil (Katholiken, Methodisten, Lutheraner, Pfingstler, Baptisten, Presbyterianer), sondern auch Spiritisten, und die meisten hatten persönliche Erfahrungen mit »magischen« Praktiken und afro-brasilianischen Kulten. Die facettenreiche religiöse Szene war also im Seminarraum unmittelbar gegenwärtig. Vgl. zu dieser: Gerd Uwe Kliewer, Brodelnde Vielfalt. Religionen und Kirchen in Brasilien heute, in: Ökumenische Rundschau 2005, Heft 3, 328–337. – Im Unterschied zu dem in den letzten Jahren ja auch in Europa gewachsenen Interesse an Religion und Religiosität ist in Lateinamerika dieser Religionsbezug m. E. weniger »freischwebend«.
72) Während meines letzten Aufenthalts in Brasilien erschien in der VEJA (dem deutschen »Spiegel« vergleichbar) vom 11. Mai 2005 (Jg. 38, Nr. 19) die Titelgeschichte »Warum der Brasilianer an ein Leben nach dem Tod glaubt« (112–117). Der Außenumschlag zeigte eine Leiche, an deren Zehe ein Zettel mit der Aufschrift »komme gleich zurück« geheftet war. Der Text auf dem Umschlag: »Leben nach dem Tod. Warum der Glaube an die Reinkarnation und an die Kommunikation mit den Toten so stark ist«.
73) Z. B. handelt Carsten Colpe in seinem oben erwähnten Beitrag über die Neubegründung einer Phänomenologie der Religionen und der Religion (s. o. bei Anm. 22) in § 7 über »Religionsphänomenologische Elemente in anderen Wissenschaften (Psychologie, Systemtheorie, Erkenntnistheorie, Ethik)«. Diese Perspektive ähnelt den oben in Abschnitt 3.2.3 geschilderten brasilianischen Bemühungen, das interdisziplinäre Potential der Phänomenologie fruchtbar zu machen. Es gibt eben auch – trotz unterschiedlicher Intentionen – Übereinstimmungen zwischen wissenschaftlichen Positionen, die wie in diesem Fall unabhängig von einander formuliert wurden. Vgl. für eine differenzierende Dis­kussion der Religionsphänomenologie auch den Sammelband: Axel Michaelis/ Daria Pezzoli-Olgiati/Fritz Stolz (Hrsg.), Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie? Bern u. a. (Peter Lang) 2001 (Studia Religiosa Helvetica 6/7); darin z. B. Ulrich Berner, Religionsphänomenologie und Skeptizismus, op. cit., 369–391.
74) Vgl. z. B. Hans G. Kippenberg, Kriminelle Religion. Religionswissenschaftliche Betrachtungen zu Vorgängen in Jugoslawien und im Libanon, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 1999 (Jahrgang 7) Heft 1, 95–110.
75) Vorreiter für eine solche Begegnung sind Personen, die die Kenntnis sowohl des deutschen wie des brasilianischen Kontextes in sich vereinen, wie z. B. Frank Usarski, der seine akademische Laufbahn in Deutschland begonnen hat und jetzt Professor für Postgraduierung in Religionswissenschaft an der Päpstlichen Katholischen Universität (PUC) in São Paulo ist. Ein Paradebeispiel für eine kritische Reflexion sowohl der europäischen als auch der lateinamerikanischen Religionsphänomenologie ist Usarskis Aufsatz »Os Enganos sobre o Sagrado – Uma Síntese da Crítica da Fenomenologia da Religião es seus Conceitos-Chave« (Die Irrtümer über das Heilige – eine Zusammenfassung der Kritik an der Religionsphänomenologie und ihren Schlüsselbegriffen), in: Revista de Estudos da Religião, Nr. 4, 2004, 73–95.
76) Ein Beispiel dafür, dass die Animositäten zwischen Religionswissenschaftlern und Theologen in Deutschland zu schwinden beginnen, ist ein Positionspapier einer gemeinsamen Kommission der Fachgruppe »Religionswissenschaft und Missionswissenschaft« in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie einerseits und der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft andererseits. An ihm haben also Religionswissenschaftler und Missionswissenschaftler mitgewirkt. Der Titel lautet: »Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft«. Darin wird gemeinsam festgestellt: »Die Verbindung von Missionswissenschaft bzw. Interkultureller Theologie mit der Religionswissenschaft, wie sie an theologischen Fakultäten üblich ist, hat sich als fruchtbar erwiesen und soll daher unbedingt beibehalten werden.« Der Schlusssatz lautet: »Interkulturelle Theologie/Mis sionswissenschaft in Verbindung mit Religionswissenschaft ist von grund­legender Relevanz für das Ganze der evangelischen Theologie im Horizont globaler Herausforderungen. Die Stellung des Faches an den theologischen Fakultäten muss daher in Zukunft auch institutionell deutlich gestärkt werden.« Dieses Papier bezieht das Wort »interkulturell« allerdings nur auf die Missionswissenschaft; der missverständliche Begriff »Mission« soll in den Hintergrund treten. Daher wird unter Berufung auf die heutige Ausrichtung des Faches Missionswissenschaft gefordert: »Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie«. Die Religionswissenschaft soll damit keineswegs »für die Theologie vereinnahmt werden«. Sondern: »Religionswissenschaft wird als eine [!] Kulturwissenschaft verstanden, auf deren Expertise die Interkulturelle Theologie/Missionswissenschaft in vielen Arbeitsfeldern angewiesen ist.« Dieses Positionspapier ist dokumentiert in: Zeitschrift für Mission, 31. Jg. 4/2005, 376–382.

Mit dem Titel dieses Beitrags »Religionswissenschaften interkulturell« und auf Grund meiner hier vorgelegten Beobachtungen und Erwägungen über die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Beurteilungen der Phänomenologie wollte ich anregen, die Interkulturalität auch der Religionswissenschaft(en) zu bedenken. Meiner Ansicht nach legt sich dies insofern nahe, als – wie gezeigt – die Religionswissenschaft als eine der Kulturwissenschaften begriffen wird; siehe hierzu auch das Zitat aus München in der folgenden Anmerkung.
77) Vgl. dazu etwa die forschungsgeschichtliche Studie von Hans G. Kippenberg, Rivalitäten in der Religionswissenschaft. Religionsphänomenologen und Religionssoziologen als kulturkritische Konkurrenten, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 2. Jg. 1994, 69–89. – Instruktiv für die jeweils wirksamen Voraussetzungen ist ein Vergleich des Werbematerials, mit dem Hochschulen für ihre religionswissenschaftlichen Studiengänge werben. So heißt es in einem Flyer des Ökumenischen Instituts für Postgraduierung der Escola Superior de Teologia, Brasilien, über die Spezialisierung in Religionswissenschaften: »Der wachsende religiöse Pluralismus und die sich daraus ergebende Komplexität der religiösen Phänomene, die sich voneinander abgrezen, aber auch Grenzen auflösen, erfordern eine analytische Methode im Horizont der Transversalität … Indem dieser Kurs eine kritische und solidarische Anschauung der religiösen Phänomene erstrebt, zielt er darauf ab, Angehörige verschiedener Berufe darauf vorzubereiten, das Vorurteil gegenüber den verschiedenen Glaubensformen zu überwinden und so den religiösen Dialog zu erleichtern, und zwar im Blick auf die Ausübung der Bürgerrechte (cidadania) …«. Dagegen wirbt der interfakultäre Studiengang Religionswissenschaft der Universität München so: »Die Religionswissenschaft gehört zu den Kulturwissenschaften. Häufig wird sie auch mit evangelischer oder katholischer Theologie verwechselt. Doch die Religionswissenschaft hat keinen religiösen Standpunkt. Sie ist durch den weltanschaulichen Diskurs ihrer Zeit geprägt. … Die Religionswissenschaft ist mit zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen verknüpft und bildet übergreifend ein eigenständiges Fach mit besonderer Fragestellung und Methodik. Sie steht der kulturellen Vielfalt offen gegenüber. Wer sie studiert, wird damit nicht nur zum Welten-, sondern auch zum Wissenschaftsbummler …«.
78) Vgl. die Würdigung Nathan Söderbloms durch Carsten Colpe in: Über das Heilige, Frankfurt a. M. 1990, 39 f.: Gerade die vorausgesetzte »Offenbarungstheologie gestattet es Söderblom sogar, klarer zu erkennen, als noch manch ein heutiger Wissenschaftstheoretiker es kann, was eine Prämisse ist. Das ist auch seinen Untersuchungen über ›das Heilige‹ zugute gekommen.« Vgl. hierzu auch: Hermann Brandt, Vom Reiz der Mission, Neuendettelsau 2003, 268 f.
79) R. Otto hatte hierzu einst geschrieben, natürlich müsse der Unterschied zwischen religiösen Selbstaussagen und religiösen Fremdaussagen gekannt sein, »aber ihre geflissentliche Auseinanderhaltung wäre … Pedanterie«, in: Das Heilige (wie oben Anm. 69), 171, Anm. 1.
80) Harro Heuser, Universitätsprofessor für Mathematik mit Philosophiestudium, verwendet diese Worte bei seiner Interpretation der griechischen Physiker-Philosophen: »Zweieinhalb Jahrtausende Wissenschaft haben gelehrt, daß die Untersuchung konkreter Einzelphänomene uns langsam, sehr langsam (aber sicher, sehr sicher) in das Innere der Natur führt – immer vorausgesetzt, daß hin und wieder ein genialer Kopf daherkommt, der die Einzelresultate zur Synthese bringt. Gerade die exakten Wissenschaften sind janusköpfig: Sie brauchen die kleine Tatsache und den großen Traum. Wer nur in Tatsachen herumstochert, kommt zu gar nichts, wer nur träumt, kommt zu noch viel weniger.« (H. Heuser, Als die Götter lachen lernten, München 1996, 94) Diese Janusköpfigkeit könnte auch den Religionswissenschaften bei ihren Beurteilungen der Phänomenologie zu denken geben – auf beiden Seiten.
81) Søren Kierkegaard zu Beginn seiner Auslegung von Mt 12,39: Der Liebe Tun, in: Gesammelte Werke (Edition Emanuel Hirsch), 19. Abteilung, übersetzt von Hayo Gerdes, Düsseldorf-Köln 1966, 21.