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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

387-400

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Henning Wrogemann

Titel/Untertitel:

Missionarischer Islam und gesellschaftlicher Dialog
Der Aufruf zum Islam als Herausforderung multikulturellen Zusammenlebens im 21. Jahrhundert1

Das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit. Täglich wird in den Medien aus verschiedensten Regionen der Welt von Anschlägen berichtet, die auf das Konto bestimmter ethnischer, religiös-weltanschaulicher, po­litischer oder kultureller Gruppen gehen. Ganz allgemein geht es diesen Gruppen und Bewegungen darum, sich in einem grö­ßeren gesellschaftlichen Ganzen durch verschiedene Formen von Agi­tation und/oder Terror Einfluss oder Gehör zu verschaffen. Es scheint, dass dieses Phänomen in dem Maße zunimmt, wie durch die Globalisierung unifizierende Markt-, Verhaltens- und Wertemuster weltweit mehr und mehr zum Zuge kommen.2 Die Rück­besinnung auf eigene regionale oder lokale Wertemuster und Le­bensformen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungen, die sich in verschiedensten Formen entladen, werden ge­­meinhin unter dem Begriff »Fundamentalismus« verhandelt.3 Sie erhalten seit den 80er Jahren des 20. Jh.s besondere Aufmerksamkeit.4

Mit den Phänomenen Globalisierung und Fundamentalismus, die in einem facettenreichen Bedingungsverhältnis zueinander stehen, kam in den letzten drei Jahrzehnten auch die Frage nach einem tragfähigen Konzept für einen gesellschaftlichen Pluralis­mus auf.5 Die Rahmenbedingungen für ein Miteinander verschiedener kultureller, religiöser, sozialer, weltanschaulicher und nicht zuletzt ethnischer Gruppen stehen dabei ebenso zur Debatte wie die Frage nach den damit verbundenen Gruppenidentitäten und den Geltungsansprüchen, die verschiedene Gruppen im Namen ihrer jeweiligen Kultur, Wertemuster oder Weltdeutung geltend machen. Kann es Sonderrechte geben, die von dem für alle übrigen in diesen Gesellschaften lebenden Menschen geltenden Recht ab­weichen? Und wie ist das Einbringen solcher Geltungsansprüche zu bewerten? Ist das grenzüberschreitende Geltendmachen eigener Werte und Wahrheiten eine Störung und eine Gefährdung des Pluralismus? Oder ist es umgekehrt gerade eine Voraussetzung dafür, dass man berechtig von »Pluralismus« sprechen dar f?

Mit diesen Fragen wird nicht nur ein gehaltvoller Pluralismusbegriff angefragt, jenseits von Beliebigkeitspluralismus einerseits und am common sense orientiertem, aber nicht wirklich kommunikationsfähigem Scheinpluralismus andererseits. Darüber hinaus wird die Art und Weise angefragt, wie verschiedene Gruppen ihre Weltdeutung zu anderen und zur Gesamtgesellschaft in Beziehung setzen, und nicht zuletzt, wie sie ihre Geltungsansprüche einzubringen gedenken. Aus der eigenen Tradition ergeben sich spezifische Deutungs- und Handlungsprofile gegenüber anderen Traditionen und der übrigen Gesellschaft. Damit stehen wir vor der Frage nach den weltanschaulichen, kulturellen und religiösen »Missionen« von Gruppen, Bewegungen und Kulturen. Verschiedenste Gruppen erheben – implizit oder explizit – Geltungsansprüche an die Ge­samtgesellschaft, indem Ideen oder Stile eines »guten Lebens« entweder propagiert oder eingefordert werden. Dabei muss es sich al­lerdings nicht primär um religiöse Missionen handeln, da auch im gesellschaftlichen Diskurs universale Geltungsansprüche auszumachen sind. Welche Geltungsansprüche können, so muss weiter gefragt werden, in einer bestimmten Gesellschaft als legitim anerkannt werden? Welche Formen der Artikulation solcher Geltungsansprüche können als gesellschaftlich akzeptabel betrachtet werden? Und nicht zuletzt: Auf Grund welcher traditionsgesteuerten Vorgaben wird die Ausbreitung solcher Geltungsansprüche innerhalb der verschiedenen Gruppen begründet, gerechtfertigt und in die Praxis umgesetzt?

Bei dem Bedenken dieser Fragen stößt der aufmerksame Beobachter schnell auf die Geltungsansprüche der universalen Religionen, ein Forschungsfeld, dem sich die Religionswissenschaft z. B. im Blick auf den Buddhismus oder den Islam bisher kaum gewidmet hat. Im Folgenden sollen am Beispiel des sunnitischen Islam einige Muster und deren theologische Begründung aufgezeigt werden, wie aus muslimischer Sicht der universale Geltungsanspruch des Islam zu artikulieren und zur Gesamtgesellschaft in Beziehung

zu setzen ist. Zunächst wird (1.) kurz auf islamische Re­vitali­sie­rungsbewegungen der letzten beiden Jahrhunderte Bezug zu nehmen sein. Danach werde ich (2.) nach einigen grundsätzlichen Bemerkungen zur da´wa-Literatur (3.) insgesamt vier Modelle des Rufes zum Islam im gegenwärtigen sunnitischen Diskurs unterscheiden und schließlich (4.) einige Konsequenzen daraus ziehen.

1. Islamische Revitalisierungsbewegungen


Wie alle universalen Weltreligionen ist auch der Islam seinem We­sen nach missionarisch. Darauf hat bereits Ende des 19. Jh.s der Religionswissenschaftler Max Müller in seiner berühmten Unterscheidung zwischen »missionarischen« und »nichtmissionarischen« Religionen hingewiesen. Während jedoch diese missionarische Dimension des Islam bis in die jüngere Vergangenheit in der re­ligionswissenschaftlichen und missionswissenschaftlichen Forschung wenig beachtet wurde, sind spätestens seit Mitte des 20. Jh.s aktive Ausbreitungsbemühungen international nicht mehr zu übersehen. Dies hängt mit den grundlegenden politischen und ökonomischen Entwicklungen seit der Kolonialzeit zusammen. Nachdem in den Gebieten der Islamischen Welt bis zum Ende des II. Weltkrieges – wie andernorts auch – Territorialstaaten geschaffen worden waren, mussten diese neuartigen politischen Gebilde in der Ära der Dekolonisierung (ca. 1945–1969) die schwierige Aufgabe des »nation-building« bewältigen. Die durch die Kolonialmächte festgesetzten Grenzverläufe schufen politische Entitäten, die – ethnisch und religiös oft sehr heterogen – nach einer Identität suchen mussten, für die es bis dahin keine Vorlagen gab. Dass dabei zumeist auf die kulturell-religiösen Traditionen der Bevölkerungsmehrheit zurückgegriffen wurde, liegt auf der Hand. 6

Unter diesen politischen Rahmenbedingungen gewannen in der Islamischen Welt viele Revitalisierungsbewegungen an Einfluss, die bereits in der ausgehenden Kolonialzeit begründet worden waren. Für den Bereich Ägyptens ist allen voran die auf .Hasan al-Bann¯a zurückgehende Muslimbruderschaft zu nennen, im Be­reich Indonesiens die Mu.hammadiya, im indo-pakistanischen Ge­biet die von Ab¯u l-A’l¯a Maud¯udı-ins Leben gerufene ˇGam¯acat-i Isl¯amı- (Islamische Gemeinschaft) und die von Maulana Ily¯as be­gründete Tablı-ghı--ˇGam¯acat (Gemeinschaft der Prediger). Diese Bewegungen sind – mit regionalen Schwerpunkten – weltweit ak­tiv und umfassen gegenwärtig etliche Millionen Mitglieder und Förderer.7

Neben diesen – und vielen weiteren – selbständigen Organisationen, die sich ganz der weltweiten Ausbreitung des Islam widmen, sind in den 60er Jahren des 20. Jh.s etliche Organisationen und Institutionen geschaffen worden, die auf staatliche Initiativen zurück­gehen. Dazu gehören internationale Organisationen wie die Islamische Weltliga (die unter maßgeblichem Einfluss Saudi-Arabiens steht),8 aber auch national getragene Organisationen wie die libysche Islamic Call Society. Auch die Errichtung von da´wa-Institutionen an großen Islamischen Universitäten, etwa die da´wa-Academy an der Islamic International University in Islamabad oder die da´wa-Fakultät der renommierten Al-Azhar-Universität in Kairo, dienen diesem Zweck. Ermöglicht wurde das Engagement unter anderem durch den seit Ende der 60er Jahre einsetzenden Ölboom, mit dem die notwendigen finanziellen Ressourcen gegeben waren. Andererseits kann man das da´wa-Engagement von staatlicher Seite auch als einen Versuch auffassen, sich einerseits vor der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung als »islamisch« zu legitimieren, andererseits den Eifer islamistischer Gruppen im eigenen Lande zu kanalisieren.

Durch die selbständigen wie durch die staatlich initiierten und geförderten da´wa-Bemühungen wurde seit den 60er Jahren einerseits die Stärkung islamischer Identität in den Gesellschaften islamischer Länder versucht. Damit sollte der Islam als dritte Alternative gegenüber östlichem Kommunismus und westlichem Kapitalismus zur Geltung gebracht werden. Andererseits reagieren diese da´wa-Bemühungen auch auf das Phänomen, dass es seit Mitte

des Jahrhunderts eine große islamische Diaspora in nichtmus­limischen Gebieten gibt. In der Phase der Dekolonisierung kam

es zu starken Migrationsbewegungen, etwa der Flucht Hunderttausender Algerier infolge des algerischen Unabhängigkeitskrieges nach Frankreich, der Immigration vieler Menschen aus dem indo-pakistanischen Bereich nach Großbritannien nach Ende der bri­tischen Kolonialherrschaft oder der Anwerbung von etwa zwei Mil­lionen türkischen Arbeitnehmern in die Bundesrepublik Deutschland bis Ende der 70er Jahre.

Unter dem Gesichtspunkt muslimischer Präsenz in einem nicht-muslimischen Gebiet wird seither von etlichen da´wa-Theore­tikern dieses Phänomen als eine Art Auswanderung (hiˇgra) ver­standen, die in gewisser Weise der Auswanderung des Propheten Mu.ham­mad von Mekka nach Medina (622 n. Chr.) entspreche. Grundlage und Berechtigung muslimischer Existenz in einem solchen Gebiet könne es nur sein, zum Islam aufzurufen (das heißt da´wa zu betreiben), den Islam zu bezeugen und beispielhaft vorzuleben. Damit rückte der Aufruf zum Islam gegenüber Nichtmuslimen in neuer Weise ins Zentrum des Interesses da´wa-orientierter Kreise, wenn auch feststand, dass der Aufruf zum Islam in diesen Gebieten auch und gerade Muslimen zu gelten habe, die ansonsten in der Gefahr stünden, vom wahren Islam abzufallen, das heißt sich dem kulturell-gesellschaftlichen Umfeld anzupassen. Da´wa be­deutet darum immer zugleich und untrennbar zweierlei: einerseits den Aufruf von Muslimen zum wahren Islam, andererseits den Aufruf von Nichtmuslimen zum Islam.

2. Da´wa-Theologien und da´wa-Strategien


Seit diesen Entwicklungen sind inzwischen etwa 40 Jahre vergangen. Innerhalb wie außerhalb der Islamischen Welt ist es damit zur Errichtung einer umfangreichen da´wa-Infrastruktur gekommen. Darauf kann in diesem Beitrag nicht weiter eingegangen werden. Auffällig ist die Zunahme an da´wa-Materialien in den letzten 15 Jahren, insbesondere von Büchern und Internetbeiträgen zu da´wa-Theologie, da´wa-Theorie und da´wa-Praxis. Anhand einer Auswahl dieser Materialien sollen im Folgenden unterschiedliche Modelle von da´wa-Theorien unterschieden werden. Es wird zu zeigen sein, dass sich hier besonders für die Frage nach dem Zusammenhang von Islam und Gesellschaft ganz verschiedene Deutungsmodelle und Handlungsanleitungen nachweisen lassen. Diese Strömungen aufmerksam wahrzunehmen ist unverzichtbar, um muslimische Bewegungen und deren Selbstverständnis besser einschätzen zu können und damit dem Verstehen des Fremden zu dienen.

Ich gehe dabei grundsätzlich von der These aus, dass plura­listische Gesellschaften bestimmter weltanschaulicher Gruppen in­nerhalb der Gesamtgesellschaft bedürfen, die ihre Geltungsansprüche in einem grenzüberschreitenden Handeln (und also missionarisch) in den Diskurs der Gesellschaft einbringen. Nur da­durch können solche Gesellschaften ihren pluralen Charakter aufrechterhalten und erliegen nicht einem unifizierenden common sense. Es geht dabei ganz grundsätzlich um Vorstellungen eines »guten Lebens« sowie um die Vermittlung und Diskussion ethischer Grundwerte, die der säkulare Staat (und hier gibt es be­kannt­lich bereits in Europa sehr unterschiedliche Verständnisse dessen, was einen säkularen Staat ausmacht) selbst nicht – oder nur sehr bedingt – »schaffen« kann, auf die er jedoch angewiesen ist.9

In vielen westlichen Gesellschaften werden jedoch missionarische Aktivitäten – welcher Religion auch immer – als tendenziell unduldbar und als Gefährdung empfunden. Dass es solche Un­duldbarkeiten gibt, ist unbestritten. Diese gibt es aber auch in anderen weltanschaulich-politischen Richtungen (vom linken bis zum rechten Spektrum). Es wäre darum ebenso fair wie geboten und in jedem Falle ein hermeneutischer Gewinn, missionarische Bewegungen (ob religiös oder säkular) weder zu verketzern noch zu glorifizieren, sondern sie nüchtern wahrzunehmen, um das jeweilige Gegenüber möglichst umfassend in den Blick zu bekommen. Dass etwa – in den gesellschaftlichen wie in den kirchlichen Öffentlichkeiten z. B. europäischer Länder – die missionarische Dimension des Islam entweder nicht wahrgenommen, verdrängt oder verleugnet wird (oft um eines angeblich neutralen Dialogverständnisses willen) oder andererseits als Gefahr beschworen und dämonisiert wird (wo man sie der »Unterwanderung« verdächtigt oder sie als Konkurrenz zur eigenen Sendung empfindet), ist durchaus nicht hilfreich.

Vielmehr gilt es, die Herausforderungen des gesellschaftlichen Miteinanders so weit als möglich wahrzunehmen, um Gefahren von Konfrontationen möglichst frühzeitig zu entdecken und Möglichkeiten von Kooperationen zu erkunden. Im Folgenden seien daher aktuelle da´wa-Theorien idealtypisch anhand von vier Mo­dellen dargestellt. Ich unterscheide die Ansätze einer »purifizierend-individualistischen da´wa«, einer »reformatorisch-organisatorischen da´wa«, einer »revolutionär-prozeduralen da´wa« sowie einer »befreiungstheologisch-kooperativen da´wa«.

3. Vier Modelle islamischer da´wa-Theorien


In der da´wa-Literatur kann man vier Aspekte unterscheiden, die durchgehend als charakteristisch anzusehen sind: (1) Gesellschaftliche Analyse: In der da´wa-Literatur wird grundsätzlich danach gefragt, welche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen in lokaler und globaler Perspektive (moralisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, sozial, politisch usw.) zu beobachten sind. Diese Analyse dient als Referenzrahmen des angemahnten Aufrufes zum Islam und der entsprechenden Diktion des unterlegten Islamverständnisses. Die Fehlentwicklungen werden dabei in den meisten Fällen ebenso den Muslimen zur Last gelegt wie anderen Menschengruppen oder allgemeinen Entwicklungen. (2) Spirituelle Grundlagen des Islam: Eine große Aufmerksamkeit kommt daneben der spirituellen Be­gründung islamischer Existenz und damit dem gelebten Aufruf zum Islam zu. Dabei geht es sowohl um die innere Haltung der Muslime, die nach Meinung vieler Autoren allein Grundlage für eine sachgerechte da´wa sein kann, als auch um den rechten Le­bensvollzug in allen seinen Aspekten. (3) Geschichtliche Rekonstruktion der da´wa-Methodik: Darüber hinaus versuchen die meisten Autoren im Rekurs sowohl auf die islamische »Urgeschichte« (die Geschichte Muh.ammads und der ersten Kalifen) wie auch auf die Geschichte der vorislamischen Propheten, eine aktuell adäquate Form der da´wa-Methodik zu erheben, wobei zumeist die These grundlegend ist, dass es eine ideale und zeitlos gültige Grundform von da´wa gebe, die sich aus dem richtigen Verständnis der vorislamischen und islamischen Prophetengeschichte gewinnen lasse. (4) Pragmatische Um­setzungsvorschläge: Schließlich widmen sich et­liche Autoren ausführlich den verschiedenen Fragen der prag­ma­tischen da´wa-Methodik in weisheitlicher, medientechnischer, kommunikationstheoretischer, taktischer und organisationstheoretischer Perspektive. In unserem Zusammenhang wird insbesondere die Frage der geschichtlichen Rekonstruktion eine Rolle spielen, da sich an ihr die Einschätzung der umgebenden Gesellschaft sowie die Art der da´wa-Methodik entscheidet.

3.1 Das purifizierend-individualistische Modell


Dieses Modell, das insbesondere im Umfeld einer durch Saudi-Arabien beeinflussten Theologie zu finden ist, sei anhand des im Original auf Arabisch verfassten Buches von ˇSai˘h Rabı-c ´Ibn H¯adı- ´al-Mad˘halı- mit dem Titel »Manhaˇgu ´l-´anbiy¯a´ fi-dacwa fi-ll¯ah« (in englischer Übersetzung 1997 unter dem Titel »The Methodology of the Prophets in Calling to Allah. That is the Way of Wisdom and Intelligence« veröffentlicht) dargestellt. Rabı-c ´Ibn H¯adı- ´al-Mad-˘halı- wurde im Jahre 1931 in Saudi-Arabien geboren und studierte seit 1961 an der damals neu gegründeten Islamischen Universität von Medina. Im Jahre 1980 schloss er sein Doktorat an der Umm al-Qur¯a Universität in Mekka ab und lehrt seitdem .hadı-t--Wissenschaft an der Islamischen Universität von Medina.10

Kennzeichnend für diesen Ansatz ist die Konzentration auf die Grundlehre des Islam, die Lehre von der Einheit und Einzigkeit Allahs (tau.hı-d). Der Autor versteht den Aufruf zum Islam dabei als eine prophetische Sendung, die bereits seit Anfang der Zeiten nach Form und Inhalt festgelegen habe. Deshalb reicht die theologische und methodische Rekonstruktion bis zur Zeit der vorislamischen Propheten zurück, die bekanntlich nach islamischem Verständnis– ebenso wie Mu.hammad später – die koranische Botschaft ausrichteten und also Muslime waren. Dabei wird die da´wa-Methodik als eine für alle Zeiten gleichartige und das heißt unwandelbare Art der Ausrichtung des Rufes zu Allah und zum Islam verstanden. Da´wa ist demnach der Ruf zum einzigen Gott, ein Ruf, der me­thodisch als Erstes den tau.hı-d verkündigt und durchzusetzen versucht. Der tau.hı-d ist also zeitlich das erste Moment der da´wa, er ist inhaltlich das zentrale Moment der da´wa und er ist axiologisch das einzig maßgebliche Prinzip der da´wa.

Aus dieser Betonung ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Erstens ist es die Konzentration auf den rechten Glaubensinhalt und die rechte Gottesverehrung, die es gegen alle Neuerungen (bidca) aufrechtzuerhalten gilt. Da´wa dient dem Aufruf zum Islam und nicht der Politik oder der Erlangung politischen Einflusses. Einen solchen Einfluss erreichen zu wollen, würde der Reinheit der Ge­sinnung und ebenso des Rufes abträglich sein. Der Autor illustriert dies an den Prophetengeschichten: Politische Macht habe – bis auf zwei Ausnahmen, eine davon Mu.hammad – keiner der vielen vorislamischen Propheten innegehabt. Außerdem weise das Beispiel des Mose unmissverständlich auf den nichtpolitischen Charakter seiner da´wa hin: Hätte er die politische Macht in Ägypten übernehmen wollen, so hätte er den dafür günstigsten Zeitpunkt gewählt, nämlich die Vernichtung des pharaonischen Heeres im Roten Meer. Dass Mose in diesem Moment nicht nach Ägypten zurückgekehrt sei, um das Land einzunehmen, zeige das Wesen seiner nichtpolitischen da´wa. An Abraham zeige sich das reinigende Moment der da´wa: Abraham habe gegen die Verehrung von anderen Göttern, von Gestirnen usw. – zum Teil ikonoklastisch – gewirkt. An der Gestalt des Noah verdeutlicht der Autor, dass der Aufruf zum Islam im Sinne des tau.hı-d auch nicht abhängig sei von quantitativen Erfolgen oder Misserfolgen. Noah habe – ohne Er­folg– über 900 Jahre gewirkt und dennoch sei seine da´wa in sich von Wert gewesen, weil sie dem ewigen Prinzip des Aufrufes zum Islam entspreche.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Ansatz von Rab ı- c ´Ibn H¯adı- ´al-Mad˘halı- gegenüber politisch-islamistisch ausgerichteten Gruppen klar Stellung bezieht, indem er deren da´wa-Verständnis rundheraus ablehnt. Seiner Meinung nach ist ein ungerechter Herrscher in einem Land eher zu tolerieren als das Begehen von ˇsirk, also die Beigesellung von etwas Kreatürlichem zu Allah. Die legitimatorische Funktion dieses Ansatzes für viele Regime im arabischen Raum (und darüber hinaus) ist unübersehbar, da jede Form politischen Umsturzes als Neuerung (bidca) gebrandmarkt wird. Für den Bereich der Diaspora hat dieser Ansatz eine identitätsstärkende Funktion, da er eine über lange Zeiten erfolglose da´wa als ein die islamische Sendung selbst nicht in Frage stellendes Phänomen erklärt. Ungeachtet dieser Schwerpunkte ist als Zielintention für den Autor unbestritten, dass als Fernziel jeder Gesellschaft eine islamische Ordnung in einem islamischen Staat anzustreben ist. Was darunter im Einzelnen zu verstehen wäre, lässt der Autor indes offen. Deutlich ist jedoch ein kritischer bis aggressiver Zug gegenüber denjenigen, die der Sünde des ˇsirk bezichtigt werden, neben politischen und sufistischen Strömungen kommen dabei auch Judentum und Christentum ins Visier. Die hier vertretene da´wa-Konzeption steht möglichen Dialogbestrebungen eindeutig ablehnend gegenüber.

3.2 Das revolutionär-prozedurale Modell


Eine andere Rekonstruktion der islamischen Ursprungsgeschichte legt Shamim Siddiqi vor. Im Jahre 1928 in Indien geboren, lebte er nach 1950 in Pakistan.11 Seit 1955 Mitglied der Gˇam¯acat-i Isl¯amı-, siedelte er 1976 in die USA über, wo er eine da´wa-orientierte Arbeit begann. In den Jahren 1995–2001 war er Chairman des Department for Dawah and Publication des Islamic Circle of North America. Werke wie »The Dawah Program« oder »Dawah And Its Objectives« geben einen Einblick in seine theologischen und praktischen Erwägungen. Hier wird ein prozedurales da´wa-Verständnis erkennbar, das eine auch politische Systematik mit einiger sozialer Sprengkraft aufweist.

Siddiqi geht – wie Ibn H¯adı- – davon aus, dass sich ein zeitlos gültiges Modell der islamischen da´wa aus den Quellen (Koran und sunna) erheben lasse. Seine Rekonstruktion kommt indes zu völlig anderen Ergebnissen. Während Ibn H¯adı- eine apolitische da´wa vertritt, ist der Prozess der da´wa nach Siddiqi durch die Abfolge be­stimmter Stufen mit weitreichenden politischen Folgen gekennzeichnet. Diese insgesamt sechs Stufen werden anhand der Bio­graphie des Propheten Muh.ammad nachgezeichnet, wobei jede Stufe mit Notwendigkeit zu durchlaufen ist.

Als erste Stufe wird da´wa im engeren Sinne genannt. Der Prophet Mu.hammad habe zunächst im Kreise seiner Familie und seiner Freunde die koranische Botschaft verkündet. Dem folgte die Phase der Gemeinschaftsbildung: ˇgam¯aca (Gemeinschaft). Der personelle Nukleus der islamischen umma wurde hier sowohl ausgebildet und trainiert (Stufe drei) als auch von falschen Ansichten gereinigt (Stufe vier). Während der ersten 13 Jahre der Sendung des Propheten geschah dies in Mekka, zum Teil im Verborgenen, zum Teil in der Öffentlichkeit. Mit dem Erstarken der – zahlenmäßig immer noch kleinen – muslimischen Gemeinde kam es jedoch auch zu Konflikten mit der mekkanischen Mehrheitsbevölkerung, insbesondere der Oberschicht. Darauf folgte für Mu.hammad die Auswanderung (hiˇgra) nach Yathrib (Medina). Diese Auswanderung, der Rückzug aus einem Gebiet falscher Gottesverehrung und falscher Lebensmuster (ˇgahilı-ya), bezeichnet die fünfte Stufe des da´wa-Prozesses. Die Phase der hiˇgra und die Leiden der Muslime durch die ihnen feindlich gesinnte Umwelt schildert der Verfasser in eindringlicher Weise. Als sechste Stufe kommt schließlich der Kampf mit der ungläubigen Gesellschaft in den Blick: qit¯al. In der Biographie des Propheten Mu.hammad ist es der von Medina aus gegen Mekka gerichtete Kampf, der im Jahre 630 zur Einnahme Mekkas führte.

Der Begriff qit¯al stammt von der Wurzel q-t-l. Wortverbindungen dieses Stammes kommen im Koran an 163 Stellen vor.12 Auffällig ist dabei, dass der Zusammenhang zwischen kämpfen und töten bzw. getötet werden bei Stellen, in denen Worte der Wurzel q-t-l vorkommen, viel enger gefasst wird13 als bei dem Wort ˇgih¯ad und den aus der Wurzel ˇg-h-d stammenden Verbindungen, in denen es häufiger um den ganzheitlichen Einsatz für die Sache des Islam bzw. das Sich-Einsetzen auf dem Wege Allahs geht.14 Auffällig ist zudem, dass es, wenn es dem Autor speziell um das Thema des Getötet-werdens von Muslimen geht, eine ganze Reihe von Belegen gibt, die diesen Sachverhalt behandeln. Der im Text des Verfassers jedoch als zentrale Stelle angegebene Text bezieht sich eindeutig auf das Getötet-werden und das Töten.15 Daraus ergibt sich die Frage, welche Art von Militanz hier als Implikat des Prozesses einkalkuliert wird.

Shamim Siddiqi geht davon aus, dass eine recht ausgeführte da´wa zum Widerstand der Gesamtgesellschaft führen muss. Wenn es nicht dazu kommt, so ist die muslimische da´wa noch defizitär. Dass ungeachtet dessen eine ganze Bandbreite von Aktivitäten vorgeschlagen wird, um die Botschaft des Islam zu verbreiten (Work­shops, Einladungen von Nichtmuslimen in örtliche Moscheen, Literaturerstellung u. v. a.), lässt unter dem Blickwinkel der allgemeinen da´wa-Theologie die Frage aufkommen, ob es sich dabei nicht nur um ein Interim handelt. Langfristig jedenfalls scheint die Übernahme politischer und gesellschaftlicher Macht unaufgebbares Ziel dieser da´wa-Theorie zu sein.

Es wird deutlich, dass hier ein hohes Maß politischer Sprengkraft gegeben ist. Ob dieses Modell mit rechtsstaatlichen Prinzipien auf lange Sicht vereinbar ist, mag bezweifelt werden. Ganz anders als bei Ibn H¯adı- wird hier eine politische da´wa im Muster einer festgelegten Prozedur propagiert. Dieses prozedurale Modell wird in Form von Veröffentlichungen weltweit vertrieben. Die Tatsache, dass Siddiqi im Kontext der USA lebt, arbeitet und veröffentlicht, macht die politischen Implikationen, besonders im Blick auf die letzten beiden Stufen der da´wa (hiˇgra/qit¯al), besonders bemerkenswert, da in diesem politisch-gesellschaftlichen Kontext genügend Freiheitsspielräume gegeben zu sein scheinen, eine islamische Identität zu leben. Dass dieses da´wa-Verständnis demgegenüber sehr viel umfassender die Gestaltung der Gesamtgesellschaft intendiert (und nicht nur das zeugnishafte Leben von Muslimen), wird an diesem Beispiel überdeutlich.

3.3 Das reformatorisch-organisatorische Modell


In Ton und Durchführung moderater stellt sich das Modell von Mu.hammad Shafiq dar.16 Der Autor war Professor am Department of Islamic Studies an der University of Peshawar in Pakistan. Nachdem er in Pakistan eine klassische islamische Ausbildung durchlaufen hatte, wirkte er an verschiedenen Orten in den USA, u. a. als Direktor des einflussreichen Islamic Center in Rochester. Sein 1996 in Erstauflage erschienenes Buch »Islamic Da´wah – A Message For All« wendet sich an eine internationale Leserschaft. Er arbeitete eng mit der International Islamic University in Isla­mabad zusammen, insbesondere mit der dort befindlichen Da´wah Academy.

Für Shafiq ist da´wa als ein reformierendes Handeln an der Gesellschaft – gleich ob mehrheitlich muslimisch oder nichtmuslimisch – zu verstehen. Da´wa ist is.la-.h (Reform). Dabei bemüht er sich zunächst um den Nachweis, dass das da´wa-Engagement auf der Grundlage einer dialogischen Haltung unternommen werden könne, da dem Islam als einer der Natur entsprechenden Religion (arabisch dı-n al-fit.ra) ein ebenso rationaler Charakter wie der Welt als solcher eigen sei. Auf der Grundlage der damit auch allen Menschen ge­meinsamen Rationalität könne es zu einem Dialog auch mit Nichtmuslimen kommen, wobei allerdings aus muslimischer Sicht feststehe, dass die höchste Form und das maßgebliche Kriterium von Rationalität in der koranischen Offenbarung gegeben sei.

Da´wa habe – methodisch betrachtet – eine ganze Bandbreite verschiedener Formen. An dieser Stelle unterscheidet sich Shafiq mit seinem pragmatischen Ansatz deutlich von Ibn H¯adı- und Shamim Siddiqi. Nach Shafiq ist da´wa flexibel an den gesellschaftlichen Ge­gebenheiten auszurichten, wobei der Schwerpunkt der Arbeit eindeutig im Bildungssektor zu liegen habe. Die umfangreichen Erwägungen zu diesem Thema können hier nicht annähernd skizziert werden. Deutlich wird jedoch, dass es im Bildungssektor einerseits um die Ersetzung westlicher Bildungsinhalte geht und andererseits um die Errichtung eines nichtislamische Bildungseinrichtungen begleitenden islamischen Systems zur Sicherung islamischer Identität. In den Ausführungen zu diesem Thema ist allerdings eine dialogische Haltung nicht wahrnehmbar. Dies lässt die Frage aufkommen, wie weit auf Grund der ihnen eigenen Rationalität Nichtmuslime zu anderen Ergebnissen kommen können und dennoch von Muslimen gehört werden bzw. in den Austausch einbezogen werden. Anders formuliert: Ist die von Shafiq als Basis betrachtete Rationalität tatsächlich offen für unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich wichtiger Fragen menschlicher Lebensordnungen und multikulturellen Zusammenlebens? Können neue wissenschaftliche Erkenntnisse und neue gesellschaftliche Konstellationen als rational und damit konsensfähig oder allgemein akzeptabel anerkannt werden? Und wenn ja, wie weit?

Der Rationalitätsbegriff Shafiqs macht nicht den Eindruck, dass dem Moment des freien Räsonierens ein größerer Stellenwert eingeräumt werden könnte. Vielmehr scheint Rationalität in seiner Diktion wie folgt charakterisiert zu sein: (a) rational ist etwas, das mit dem Ursprung aller Dinge (der durch Allah gesetzten Ordnung der Dinge) übereinstimmt (generative Rationalität); (b) rational ist etwas, das dem Wesen des Menschen entspricht (anthropologische Rationalität); (c) rational ist etwas, das Menschen unmittelbar einleuchtet (selbstevidente Rationalität); (d) rational ist etwas, das transkulturell wirksam ist (universale Rationalität); (e) rational ist etwas, das mit dem Koran übereinstimmt (inhaltlich bestimmte und bestimmbare Rationalität); (f) rational sind diejenigen Aspekte, die im Fremden als das Eigene wiedererkannt werden können (reflexive Rationalität); (g) rational ist etwas, das den Menschen und der Welt ihre Zukunft sichert (providentielle Rationalität); (h) rational ist etwas, das allen verunreinigten oder von der Urnorm abweichenden Denkversuchen überlegen ist (axiologische Rationalität).

Dieses Konzept wird nur dann eine integrative Funktion entfalten können, wenn es gelingt, Offenheit auch für abweichende Meinungen zu begründen. Ob dies im Entwurf Shafiqs der Fall ist, mag bezweifelt werden. Wolfgang Welsch unterscheidet zwischen Vernunft und verschiedenen Rationalitäten, wobei der Vernunft die Aufgabe zukommt, »die unterschiedlichen und einander widerstreitenden Rationalitätsversionen ins rechte Verhältnis (zu) setzen«.17 Vernunft kann diese Rationalitäten übersteigen, denn sie wird verstanden als »Vermögen unbeschränkter Reflexion«. Gegenüber den Rationalitäten, die bestimmte Sachaussagen machen und Bereiche erst konstituieren, ist die Vernunft prinzipiell auf das Ganze gerichtet. Allerdings kann dieses Ganze nicht mehr als eine einheitliche Ordnung aufgefasst werden. Da viele Ordnungen mit verschiedenen Rationalitäten einander widerstreiten, kann es – nach Welsch – nicht mehr die Idee der Einheit sein, die das Ganze erahnen lässt, sondern die Idee der Gerechtigkeit. Demnach sind rationale Aussagen im Diskurs zuzulassen und als Geltungsansprüche anzuerkennen, soweit sie konsistent und leistungsfähig sind.18

Es geht um eine »transversale Vernunft«, eine Vernunft also, deren Aktionsfeld besonders die Übergänge sind, Übergänge und Bruchlinien, die sie bearbeitet, ohne dabei auf ein Gesamtsystem zu zielen. »Vernunft analysiert die diversen rationalen Strukturen, macht die generativen Mechanismen der Unordentlichkeit klar und legt deren Konsequenzen im ganzen offen.«19 Die Vernunft klärt demnach die verschiedenen Rationalitäten über sich selbst auf. Im Sinne eines auf Kooperation hin orientierten Miteinanders wäre im interkulturellen und interreligiösen Dialog nach Möglichkeiten einer solchen transversalen Vernunft zu fragen.20

3.4 Das befreiungstheologisch-kooperative Modell


Ein weitaus offeneres Konzept von da´wa, als es bei Shafiq zu erkennen ist, vertritt der Südafrikaner Farid Esack (geb. 1957).21 Als sunnitischer Muslim versteht er sich als zur Gruppe von »progressiven Islamisten«22 gehörig, zu denen er unter anderem auch Theologen aus dem internationalen Bereich zählt wie Asghar Ali Engineer, Amina Wadud-Mushin, ´Abdullahi an-Na´im und Fatima Mernissi sowie Theologen aus dem südafrikanischen Kontext, unter ihnen Ebrahim Moosa und Abdul Rashie Omar.23 Seine Arbeit dient dem Ziel, eine »South African qur´anic hermeneutic of religious pluralism for lib­eration« zu entwickeln. Dabei stellt sich Esack bereits methodologisch in den religiös-pluralen Horizont, indem er sich verschiedener religiöser Traditionen bedient und sich als theologische wie philosophische Gewährsleute seiner Hermeneutik zu gleichen Teilen auf islamische wie christliche Autoren beruft. Seine Her­meneutik für einen Pluralismus selbst speist sich aus den Erkenntnissen, die in einer Pluralität von Kontexten erworben wurden.24

In seiner koranischen Befreiungshermeneutik verweist Esack zunächst darauf, dass starre Gruppenbezeichnungen wie »die Muslime«, »die Christen« usw. im Koran nicht gegeben seien. Vielmehr weisen die formelhaften Wendungen »einige unter ihnen«, »es gibt welche unter ihnen« usw. darauf hin, dass der Koran Menschen nur im Kontext besonderer Situationen in den Blick nehme. Daher sei für das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen weniger die formale Gruppenzugehörigkeit ausschlaggebend, sondern gruppenübergreifend die Frage, wer wirklich den isl¯am lebe. Esack differenziert dabei zwischen Islam (Großschreibung) als Ausdruck der verfassten Religion einerseits und isl¯am (Kleinschreibung) als Ausdruck einer Haltung der Unterwerfung unter den Willen Allahs. Da Allahs Wille Gerechtigkeit und Frieden für alle Menschen vorsehe, könne das Prädikat, den isl¯am zu befolgen und also ein Muslim zu sein, nicht nur auf die verfasste Größe des Islam beschränkt werden. Die Grenzen zwischen Glauben im¯am und Unglauben kufr verlaufen vielmehr quer zu den verfassten Religionszugehörigkeiten von Menschen.

Entsprechend dieser Sicht wird da´wa nicht primär als der Ruf zum Islam (Call to Islam, verstanden als verfasste Religion), sondern als Ruf des Islam (Call of Islam) gedeutet. Es geht im Blick auf die theologische Grundlehre um den Aufruf zu Frömmigkeit (arabisch taqwa) und zu dem Glauben an die Einzigkeit Gottes (arabisch tauh.ı-d), im Blick auf den Standort des Rufenden um die Teilnahme am Leben der einfachen Menschen gleich welcher Kultur, Ethnie oder Religion (arabisch an-n¯as) sowie um die besondere Bedeutung der Marginalisierten der Erde (arabisch al-musta.dc af¯un fi´l-ar.d). Schließlich gehe es im Blick auf die Methode der da´wa um die Prinzipien der Gerechtigkeit (arabisch qist. oder cadl) sowie um den Einsatz und die Anstrengung für den Glauben an Allah in diesem Sinne (arabisch ˇgih¯ad). Diese Form des Rufes kann sich daher nur in interkultureller und interreligiöser Kooperation ereignen, im Einstehen für die Rechte aller Menschen und die Gerechtigkeit für alle Menschen.

In diesem Modell wird, so kann man abschließend feststellen, der Letztgültigkeitsanspruch der koranischen Offenbarung nicht geleugnet, sondern es wird von diesem Geltungsanspruch aus ein kooperatives Modell multikulturellen Zusammenlebens entworfen. Möglich wird dies durch einen Grad der Abstraktion, der als gemeinsame Basis des Engagements kultur- und religionsübergreifend ein Ethos menschlichen Handelns fordert.

4. Pluralistische Gesellschaft und die Konkurrenz der Geltungsansprüche


Die hier vorgestellten da´wa-Theorien werfen die Frage auf, in welcher Weise sie – bei möglichst weitgehender Wahrung ihres Letztgültigkeitsanspruches – dazu beitragen können, dem friedlichen Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft zu dienen. Die These von Hans Küng, dass kein Weltfriede ohne Religionsfrieden möglich sei, hebt einerseits auf die wertbildende und motivatorische Kraft der Religionen ab: Sie können durch das von ihnen gepflegte Ethos zu einem menschenwürdigen Miteinander beitragen. Andererseits zeigen die Religionen einen ambivalenten Cha­rakter, da die selbstvergewissernde Kraft und Wertorientierung der Re­ligionen leicht umschlagen kann in religiösen Chauvinismus.

Es hat sich bei den hier vorgestellten Ansätzen gezeigt, wie groß die Bandbreite tatsächlich ist: Von dezidiert konfrontativen Ansätzen über quietistische Modelle reicht das Spektrum bis hin zu reformistischen und kooperativen Ansätzen. Die theologischen Grundierungen dieser Modelle wurden andeutungsweise aufgezeigt. Die Ambivalenz gibt zu denken. Wenn etwa der Begriff der Rationalität als Grundlage eines konstruktiven gesellschaftlichen Streites gewählt wird, so ergibt sich erheblicher Klärungsbedarf zum Profil dieses Begriffes. Das sorgfältige Aufspüren der Implikationen solcher verwendeter Begriffe ist unabdingbar, um einem praktischen Miteinander zu dienen. Es zeigte sich, dass ein großer Bedarf an analytischer Arbeit besteht.

In verschiedenen Ländern haben die gesellschaftspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte – wie etwa die Kommunitarismusdebatte in den USA und Kanada – deutlich gemacht, dass darüber hinaus nur ein gehaltvoller Begriff des Pluralismus es leistet, die Bedingungen zu formulieren, wie Menschengruppen mit unterschiedlichen Wertorientierungen in einem gesellschaftlichen Miteinander friedlich leben können. Die Voraussetzungen zur Wahrung der unterschiedlichen kulturellen Identitäten sind dabei ebenso zu bedenken wie das Mindestmaß an Konsens hinsichtlich der Grundwerte und der Prozeduren, wie diese Grundwerte eingehalten, angeeignet, bejaht und weiterentwickelt werden können. Um diese Bedingungen und Voraussetzungen zu eruieren und zu diskutieren, müssen alle Wissenschaftsbereiche zusammenarbeiten. Dabei ist das Fach Missionswissenschaft und Religionswissenschaft gefordert, die Implikationen herauszuarbeiten, die verschiedene Wertmuster und religiöse Geltungsansprüche im Blick auf andere Wertmuster und Geltungsansprüche haben.

Darüber hinaus ist festzuhalten: Nicht nur Religionen sind missionarisch, indem sie ihre Geltungsansprüche zu kommunizieren suchen, sondern Weltanschauungen sind es ebenso. Da Gesellschaften von dem Input, dem Austausch und von der freien Konkurrenz solcher Geltungsansprüche leben, weil sie sich dadurch in einem fortwährenden Prozess der Wertvergewisserung »re-formieren«, kann die grundsätzliche Legitimität der Vertretung solcher Geltungsansprüche an sich nicht in Rede stehen. Es geht im gesellschaftlichen Diskurs vielmehr darum, auch dort den »missionarischen Impetus« zu entdecken, wo er von Vertretern bestimmter Wertmuster oder Weltanschauungen selbst nicht gesehen wird. Die etwa in den Massenmedien gepflegten Vorstellungen, Bilder und Ikonen dessen, was (bewusst oder unbewusst) unter einem »guten Leben« verstanden wird, werden von den Machern sicherlich nicht als »missionarisch« betrachtet, sie wirken jedoch in diese Richtung, da sie einen bestimmten Lebensstil mit universaler Ausstrahlungskraft kommunizieren und durch die Art der Darstellung implizit oder explizit auch einfordern. Nur durch die sorgsame Aufarbeitung dieser Phänomene kann es zu einem fairen Austausch über verschiedene Geltungsansprüche kommen, der nicht schon da­durch bestimmte Optionen im gesellschaftlichen Diskurs ausschließt, dass ihnen vorgeworfen wird, »missionarisch« zu sein.

Andererseits ist gefordert, die grenzüberschreitende Kommunikation verschiedener Religionen, religiöser und weltanschaulicher Gruppen, Medienkulturen usw. genauer auf ihre Methoden und Zielvorstellungen hin zu untersuchen. Missionswissenschaft und Religionswissenschaft sind damit aufgerufen, stärker als bisher die Missionen – und das heißt auf universale Geltungsansprüche zielende Kommunikationsvorgänge – der Religionen und Weltanschauungen zu untersuchen. Der Diskurs um religiöse, weltanschauliche, kulturelle und sonstige Missionen in den pluralis­tischen Gesellschaften ist dringend notwendig, um einerseits eine Kultur der Transparenz und damit eine Kultur des Vertrauens weiter zu entwickeln. Andererseits bedarf es jedoch auch der kritischen Analyse, um dort Veränderungen anzumahnen, wo durch den Verweis auf die eigenen Geltungsansprüche versucht wird, andere Geltungsansprüche strukturell mundtot zu machen. Aus der Darstellung wurde deutlich, dass manche religiösen Geltungsansprüche und Umsetzungsstrategien mit den Grundlagen des Rechtsstaates schlicht nicht vereinbar sind. Hier eröffnet sich ein weites Diskursfeld unter anderem um die Frage des Verhältnisses von Religionsfreiheit (im aktiven wie passiven Sinne) einerseits und den Grundwerten und -prinzipien des Rechtsstaates andererseits.

Nur dadurch, dass eine Balance gehalten wird zwischen einerseits der Freiheit, Geltungsansprüche werbend und missionarisch einbringen zu dürfen, ohne deswegen gleich als »fundamentalis­tisch« abgestempelt zu werden (obwohl es natürlich auch eine ganze Reihe fundamentalistischer Ansätze gibt), und andererseits der Achtsamkeit darauf, dass im Namen der eigenen Geltungsansprüche die Freiheit der Artikulation anderer nicht eingeschränkt wird, kann das Miteinander in einer pluralistischen Gesellschaft gelingen.

Summary


The article deals with the question of how different types of islamic da´wa – the »Call to Islam« that addresses Muslims on the one hand and people of other faiths on the other – relate to the societies they are acting in. Firstly, it is shown that in the 20th century a great number of new da´wa-organizations with different profiles emerged. Secondly, four major models of current da´wa-theology and da´wa-strategy are outlined: (1) the purifying-individualistic mo­del, (2) the revolutionary-procedural model, (3) the reformistic-organi­zational model and (4) the liberative-cooperative model. The question is raised, whether these different approaches threaten the basis of pluralistic societies or contribute to social justice, peace and equal­ity. Whatever the answer, it is obvious that there is an urgent need for research on missionary religions and their in­fluence on societies.

Fussnoten:

1) Ich greife in diesem Aufsatz einige Aspekte meiner im Jahre 2005 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingereichten Habilitationsschrift heraus. Die Arbeit ist inzwischen erschienen unter dem Titel: H. Wrogemann: Missionarischer Islam und gesellschaftlicher Dialog. Eine Studie zur Begründung und Praxis des Aufrufs zum Islam (dacwa) im internationalen sunnitischen Diskurs, Frankfurt a. M. 2006.
2) Vgl. etwa die länderspezifischen Studien in P. L. Berger (Hrsg.), Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften. Ein Bericht der Bertelsmann Stiftung an den Club of Rome, Gütersloh 1997. Aus gesellschaftstheoretischer Sicht vgl. die viel beachteten Beiträge von C. Taylor u. a., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 1993, und J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1999.
3) Aus der kaum mehr überschaubaren Literatur sei auf folgende Titel verwiesen: J. Barr, Fundamentalismus, München 1981; Y. M. Choueiri, Islamic Funda­mentalism, Boston (MA) 1990; M. Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990; D. J. Krieger/C. J. Jaeggi, Fun­damentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart, Zürich 1991; M. E. Marty/R. S. Appleby (Eds.), Fundamentalism observed, Chicago-London 1991; Th. Meyer, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Hamburg 1991; F. Mernissi, Die Angst vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie, Frankfurt-Zürich 1992; M. E. Marty/R. S. Appleby, Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden gegen die Moderne, Frankfurt a. M.-New York 1996.
4) Kritische Forschungsüberblicke u. a. bei: W. Schiffauer, Islamischer Fundamentalismus – Zur Konstruktion des Radikal Anderen, in: Neue Politische Literatur 1 [1995], 95–105; ders., »Zur Kritik von Fundamentalismustheorien«, in: Ders., Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland. Eine Studie zur Herstellung religiöser Evidenz, Frankfurt a. M. 2000, 315–334. – Für begriffliche Klärungsversuche vgl. z. B. M. E. Marty/R. S. Appleby, Conclusion: An Interim Report on a Hypothetical Family, in: M. E. Marty/R. S. Appleby (Eds.), Fun­damentalism observed, 814–842, und: A. Grünschloss (2004): Was heißt ›Fundamentalismus‹? Zur Eingrenzung des Phänomens aus religionswissenschaftlicher Sicht, http://www.user.gwdg.de/ ~agruens/fund/fund.html (Lit.), ab­­ge- rufen am 13.07.04.
5) Aus theologischer Sicht sei zur Pluralismusdebatte unter anderem verwiesen auf folgende wichtige Arbeiten: E. Herms, Pluralismus aus Prinzip, in: Ders., Kirche für die Welt, Tübingen 1995, 388–431; ders., Vom halben zum ganzen Pluralismus. Einige bisher übersehene Aspekte im Verhältnis von Staat und Kirche, in: Ders., Kirche, 388–431; ders., Pluralismus aus christlicher Identität, in: J. Mehlhausen (Hrsg.), Pluralismus, Gütersloh 1995, 15–19; C. Schwöbel (1996): Art. Pluralismus II. Systematisch-theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXVI, 724–739; ders., Christlicher Glaube im Pluralismus, Tübingen 2003; M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992; ders., Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995; ders., Der missionarische Auftrag der Kirchen in pluralistischen und multireligiösen Kontexten, in: Missionarische Kirche im multireligiösen Kontext, Weltmission heute Nr. 25, Hamburg 1996, 47–64; ders., Christentum und strukturierter Pluralismus, in: A. Feldtkeller (Hrsg.), Konstruktive Toleranz – Gelebter Pluralismus, Frankfurt a. M. 2001, 89–109.
6) Vgl. R. Schulze, Geschichte der Islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 2002.
7) Zu den einzelnen Personen und Organisationen vgl. H. Wrogemann (2006): Missionarischer Islam und gesellschaftlicher Dialog, 85–186.
8) Vgl. R. Schulze, Islamischer Internationalismus im 20. Jahrhundert. Un­tersuchungen zur Geschichte der Islamischen Weltliga, Leiden u. a. 1990.
9) In diesem Zusammenhang sei an ein Diktum von E.-W. von Böckenförde erinnert: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« (E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, 92–114, 112).
10) H. Wrogemann (2006): Missionarischer Islam, 273–297.
12) Vgl.G. Flügel, Concordantiae Corani Arabicae. Ad Literarum Ordinem et Verborum Radices, Lipsiae 1842, 148 f. Die Wurzel q-t-l bedeutet im I. und II. Stamm u. a. »töten« bzw. »morden«, im III. Stamm u. a. »kämpfen« bzw. »be­kämpfen«, im VI. und VII. Stamm u. a. »miteinander kämpfen« sowie im VIII. Stamm »kämpfen«, »mit sich selbst im Kampf liegen«. Vgl. H. Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch-Deutsch, Wiesbaden 51985, 1001.
13) Vgl. etwa 2,251 (David tötet Goliath); 4,94; 5,33; 18,74; 20,40; 28,19 f. u. ö.
14) Vgl. etwa 4,95; 5,35,54 u. ö.
15) Vgl. etwa: 2,154; 3,157–158.196.195; 4,74.100; 22,58; 47,4.
16) H. Wrogemann (2006): Missionarischer Islam, 229–260.
17) W. Welsch, Vernunft heute, in: F. Fulda/R.-P. Horstmann (Hrsg.), Vernunftbegriffe in der Moderne, Stuttgart 1994, 380–407,391.
18) Welsch, Vernunft, 394.
19) Welsch, Vernunft, 397.
20) Zum Thema vgl. u. a. auch: J. Bohmann, Öffentlicher Vernunftgebrauch. Das rationalitätstheoretische Grundproblem des politischen Liberalismus, in: K.-O. Apel/M. Kettner (Hrsg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt a. M., 1996, 266–295; M. Kettner, Einleitung, in: K.-O. Apel/M. Kettner (Hrsg.), Die eine Vernunft, 7–16; R. A. Mall, Zur interkulturellen Theorie der Vernunft – Ein Paradigmenwechsel, in: H. F. Fulda/R.-P. Horstmann (Hrsg.), Vernunftbegriffe, 757–774.
21) Vgl. H. Wrogemann (2006): Missionarischer Islam, 318–347.
22) Den folgenden Ausführungen liegen zu Grunde: F. Esack, Qur´an, Liberation and Pluralism: An Islamic Perspective on Interreligious Solidarity Against Oppression, Oxford-Boston 1996; ders., On Being A Muslim. Finding a Religious Path in the World Today, Oxford-Boston 1999. – »In South Africa the term ›Is­lamist‹ refers to those who are committed to Islam in a comprehensive manner, with particular emphasis on actualizing its ideals in the socio-political sphere.« (Esack, Qur´an, XI).
23) Esack, Qur´an, 14: Weiter nennt Esack: Ebrahim Rasool, Sa´diyya Shaikh sowie Abdulkader Tayob.
24) Es finden sich insbesondere Referenzen zu lateinamerikanischen christlichen Befreiungstheologen wie Juan Luis Segundo, Gustavo Gutierrez sowie Leonardo und Chlodovis Boff, wie auch Verweise auf viele Klassiker der Hermeneutik wie Hans-Georg Gadamer, Rudolf Bultmann und andere. Unter hermeneutischem Gesichtspunkt werden im Bereich islamischer Geisteswissenschaft besonders die Arbeiten von Fazlur Rahman und Mohammed Arkoun gewürdigt.