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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1370–1372

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Marten, Rainer

Titel/Untertitel:

Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2005. 203 S. 8°. Kart. EUR 22,00. ISBN 3-495-48186-9.

Rezensent:

Markus Buntfuß

Dass das neuzeitliche Christentum und die Religion der Moderne nicht nur eine ethische, sondern auch eine ästhetische Umformung und Profilierung erfahren haben und noch erfahren, ist eine Einsicht, die sich allmählich durchzusetzen beginnt und die ein wachsendes Forschungsinteresse an den Phänomenen von ästhetischer Religion und Kunstreligion in allen Geistes- und Kulturwissenschaften nach sich zieht. Ein zentrales Ergebnis dieser modernen Ästhetisierung der Religion ist die Entdeckung der poetischen Qualität von biblischer Bild- und religiöser Glaubenssprache. Seit dem mehr untergründigen als offenkundigen Zusammenwirken von Pietismus und Frühaufklärung ist ›Heilige Poesie‹ (Klopstock) eine bestimmende Sprachform der religiösen Erfahrung, weshalb die Romantiker zu der Überzeugung gelangen konnten, die Religion sei ihrem Wesen nach poetisch. Ob und in welchem Ausmaß sich aber auch die theologisch-philosophische Reflexionssprache einer impliziten Poesie verdankt, der sie nicht ansichtig wird, wenn sie sich als wissenschaftlich begründet und argumentativ gerechtfertigt ausgibt, ist eine noch weitgehend unbearbeitete und kontrovers diskutierte Frage.
Einen glänzend formulierten und gedankenreichen Vorstoß zu ihrer Beantwortung unternimmt Rainer Marten, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. und einer der kompetentesten Interpreten der Philosophie Martin Heideggers, in seinem Traktat über die poetische Inszenierung der Möglichkeit des Unmöglichen in Philosophie und Religion. Nicht in Gestalt einer fußnotenbewehrten Studie, sondern in neun locker aneinandergereihten Essays, die die Gelehrsamkeit M.s gleichwohl erkennen lassen, umkreist dieser die Dialektik von Aufklärung, Poetisierung und potenzierter Selbstpoetisierung in den religiös-philosophischen Weltentwürfen von Marc Aurel, Gilgamesch, Platon, Kant, Adorno, den Bakchen des Euripides, Anselm, Leibniz und der Bibel, um mit einer Schlussbetrachtung über »Die Möglichkeit zu glauben, dass Gott tot ist« zu enden.
Im Verlauf dieses gemischten Reigens einer eindringenden Auslegung ›großer Texte‹ umkreist M. die Möglichkeiten einer Poetisierung des Unmöglichen, die den Menschen mehr vermögen lässt, als er selbst vermag, und insofern dessen größte Selbstherausforderung darstellt. Indem M. dabei die frühromantisch-frühidealis­tische Frage nach der Möglichkeit einer Darstellung des Undarstellbaren in die sprachlogisch-hermeneutische Frage nach der Möglichkeit einer Bemächtigung des Unmöglichen transformiert, kommt neben der Konzentration auf Gott und das Unendliche auch die Fülle idealer, heilsgeschichtlicher und utopischer Welt­entwürfe in Philosophie und Religion in den Blick.
Der sich in den unterschiedlichsten Formen der Poetisierung artikulierende Sinn für das Unmögliche soll jedoch im Zuge der Interpretation nicht entlarvt, sondern bewusst gemacht werden. »Die Aufdeckung dieser insgeheimen Poesie, dient ihrer Erhellung nicht ihrer Entzauberung.« (7) Würden sich Philosophie und Religion ihrer eigenen Poetizität bewusst, entkämen sie ihrem performativen Widerspruch und hätten weder die Vernunftkritik noch die Religionskritik der Aufklärung zu fürchten. Aber um welchen Preis? Schaufeln sich eine Philosophie und Religion, die ihre Geltungs- und Gestaltungsansprüche als Poesie verstehen, nicht selbst das Grab? M. ist nicht dieser Auffassung. Er behauptet, dass die Einsicht in ihren poetischen Charakter weder den Entwurf des platonischen Idealstaates noch den biblischen Glauben an einen welttranszendenten Gott in die Belanglosigkeit bloßer Fiktion auflöst, sondern die gedankliche und sprachliche Bedingung der Möglichkeit darstellt, ihrer unmöglichen Möglichkeit gerecht zu werden. Hinsichtlich des religiösen Glaubens ist damit außerdem die Be­hauptung verbunden, dass die Entdeckung seines poetischen Charakters keinen Akt des Fremdverstehens darstellt, der dem gläubigen Selbstverstehen zwangsläufig als Missverständnis er­scheinen muss, sondern dass es die Möglichkeit eines religiösen Selbstverstehens gibt, das sich über seine Poetizität im Klaren ist, ohne an Lebensdienlichkeit und Orientierungskraft einzubüßen. Ob und wie sich diese beiden gegenläufigen Vollzüge von Selbstpoetisierung und Selbstaufklärung zu einer zweiten Naivität (Ricœur) verbinden lassen, um einen aufgeklärten, aber nicht abgeklärten Glauben zu ermöglichen, das mag jeder Leser nach der nicht immer leichten, aber überaus lohnenden Lektüre selbst entscheiden.