Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1342–1344

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Gailus, Manfred, u. Hartmut Lehmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nationalpro­tes­tantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes. M. 2 Abb.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 472 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 214. Lw. EUR 66,00. ISBN 978-3-525-35866-5.

Rezensent:

Christian Polke

Konfessionen sind hybride Kulturgestalten. Abhängig von politischen und sozialen Faktoren bilden sie fernab derjenigen Gebilde, die sie langfristig prägen, mitunter Seitenstränge aus, die ihren Nachkommen Kopfzerbrechen bereiten. Das Phänomen des Nationalprotestantismus darf gerade in Deutschland mit Fug und Recht dazu gezählt werden. Insofern verwundert es kaum, dass es in der theologischen Forschung nach 1945 zunächst einmal kaum beachtet wurde. Dieser von M. Gailus und H. Lehmann herausgegebene Sammelband versucht hier Abhilfe zu schaffen.
In klar strukturierten und teilweise umfangreichen Beiträgen wird eine Sichtung der unterschiedlichen Facetten nationalprotestantischer Mentalitäten vom Kaiserreich bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes vorgenommen.
Nach einführenden Überlegungen von H. Lehmann (7–17) geben F. Becker (19–44) und F.-M. Kuhlemann (45–78) in komplementären Beiträgen die protestantischen Bewusstseinslagen zwischen Euphorie und Trauma wider. Die folgenden fünf Beiträge – angefangen mit M. Pöhlmanns Studie zu Krisenbe- wäl­tigungsstrategien im Verbandsprotestantismus (81–102) – widmen sich den geistigen Signaturen der Jahre zwischen 1870/1 und 1945. Kriegsbegeisterung (vgl. G. Brakelmanns [103–114] und D. L. Bergens [115–131] Beiträge) und Säkularisierungsängste (vgl. L. Hölschers Aufsatz [133–147]) laufen dabei zu­sammen. Das anbrechende Medienzeitalter verschärft die neue Unsicherheit, wie R. Schieder berichtet (149–162). Die dritte Abteilung befasst sich mit pro­tes­tantischen Lebensläufen, wobei außer dem Aufsatz von Th. Kaufmann (165–222) alle anderen Beiträge sich auf die Zeit des Dritten Reiches konzentrieren. M. Gailus (223–261) stellt uns Menschen auf der Grenze zwischen evange­lischem Christentum und überzeugter NS-Gläubigkeit vor. S. Hermle (263–306) befasst sich mit dem Schicksal nichtarischer Christen. An die vergessenen Frauen im Kirchenkampf erinnert D. Herbrecht (343–359), während P. Noss (307–342) ihre männlichen Mitstreiter als theologische Leuchttürme kennzeichnet. Über eine unerfreuliche »Ökumene« im Zusammenhang des Holocaust klärt uns schließlich J. S. Conway (361–375) auf. Der Band schließt mit einer kontroversen Darstellung über verborgene Kontinuitäten (vgl. C. Vollnhals [379–431]) und Diskontinuitäten (vgl. D. Pollack [453–466]) nationalprotestantischer Gesinnungen über den Epochenbruch von 1945 hinaus, wobei der vorletzte Beitrag von R. P. Erikson (433–451) in diesem Zusammenhang die Frage nach der Verantwortung und Rolle kirchenhistorischer Arbeit selbst aufwirft. Aus Platzgründen kann ich mich im Folgenden nur auf einige Aufsätze konzentrieren.
Müsste man die Ursachen für das Erstarken national gesinnter Protestantismen auf einen Nenner bringen, hätte das Stichwort ›Säkularisierungsangst‹ gute Chancen. Wo unter Menschen oder in Ge­sellschaften die Angst um den Verlust der eigenen religiösen oder nationalen Identität um sich greift, wächst die Anfälligkeit für Euphorien und Traumatisierungen gleichermaßen. Deutschlands weltpolitisches Auf und Ab zwischen 1870/71 und 1945 bietet hierfür reichlich Anschauungsmaterial. Angesichts von wachsenden Austritten und flottierender Religiösität erscheint für die Kirchen Krisenbewältigung nun im Sinne einer frontalen Verbandsapologetik lukrativ, wie M. Pöhlmann berichtet. Ob man aber für das Erstarken von völkischen Protestantismen unter Theologen einen wenig sorgfältig ausgearbeiteten Religionsbegriff verantwortlich ma­chen darf (102), scheint fraglich.
Auch bezüglich der zeitgenössischen Wahrnehmung von Sä­kularisierungsvorgängen und damit verbundenen Sorgen ist vor Anachronismen zu warnen. Zwar gab es schon unter den Hohenzollernkönigen ausgeprägte Klagen »über den Verfall der Religiösität« (139). Aber gerade der liberale Protestantismus wusste stets um eine mildere Variante der Verweltlichung im Sinne einer Ab­legung der kirchlichen Gestalt des Christentums (144), worauf L.Hölscher aufmerksam macht. Dass sich der Ton in den Weimarer Jahren verschärfte, ist nicht zuletzt der Schwäche dieser Protestantismusgestalt geschuldet, wie man an den Anfängen evangelischer Rundfunkarbeit ersehen kann. So wurde die Ambivalenz dieses Mediums schnell erkannt. Doch wich die anfängliche Skepsis alsbald dem intensiven Einsatz auf dem Felde der Volksmission, getreu dem Motto: »Volksbildung ist Volkbildung« (159). Protes­tantische Rundfunkarbeit zielte, wie R. Schieder herausstellt, auf eine Rechristianisierung der urbanisierten Gebiete des Reichs im progermanischen Geist und mit antirömischem Affekt. Etatistisch orientiert an der Einheit des Volkswillens arbeitend, verleugnete man die urevangelischen Traditionsbestände von Individualität, Pluralität und Rezeptionsautonomie. Die Geschichte ging langfris­tig gut aus: Das Projekt scheiterte an der Rezipientenfreundlichkeit des Mediums »Radio«. Die konfessionelle und nationale Ab­schottung verkehrte sich in ihr Gegenteil und statt Propaganda empfing man mit dem Volksempfänger BBC.
Als Kabinettstück des Bandes darf der Beitrag von Th. Kaufmann gelten. In einer Gegenüberstellung der Familiengeschichten der Harnacks und Seebergs zeichnet er die Spannweite der Einstellungen von Protestanten gegenüber Kaiserreich und Weimarer Republik nach. Sein Anliegen: Prosopographie in mentalitätsgeschichtlicher Absicht. Während Reinhold Seebergs konservatives Kulturluthertum eine »Affirmation des wilhelminischen Machtstaates« (182) nahe legte und dieses sich 1933 in ein emphatisches Plädoyer für den Führerstaat verwandelte, ist die Biographie Adolf von Harnacks von stärkeren Spannungen gekennzeichnet. Dabei sieht Kaufmann die unterschiedlichen Mentalitäten an ihrer gemeinsamen Wiege im Baltikum vorgezeichnet. Zeugt Harnacks Weg vom Stolz auf die Herkunft bei gleichzeitigem Bewusstsein ererbter kultureller Vielfalt (183), paart sich Seebergs Baltentum von Anfang an mit der Sorge vor einer Russifizierung deutschen Kulturraums; ein Erbe, das er noch seinen Enkeln vermittelt. Der mentale Graben zwischen beiden scheint nach 1918 unüberwindbar, wie das Schick­sal ihrer Söhne bitter offenbart. Während sich Erich Seeberg dem NS-Staat rücksichtslos anbiederte, verlor Axel von Harnack durch das NS-Regime sein Leben. Beide, »Harnack und Seeberg waren deutsche Patrioten« (219), und dennoch lagen Welten zwischen ihnen. Die Stärke von Kaufmanns Beitrag verdeutlicht zugleich die Schwächen der anderen Arbeiten dieses Abschnitts. Im Bemühen um angemessene Würdigung von Biographien geraten diese bisweilen zu bloßen Aufzählungen von Lebensläufen (vor allem bei Gailus, 223 ff.). Was bei D. Herbrechts Beitrag über die vergessenen Frauen im Kirchenkampf noch gerechtfertigt erscheint, ist angesichts der breiten Forschungslage zu Personen wie Barth oder Bonhoeffer schlicht unverständlich.
Damit kommen wir zum letzten Schwerpunkt des Bandes: der Auseinandersetzung um die verborgenen (Dis-)Konti­nuitäten na­tio­nalprotestantischer Gesinnung. Zuvor erinnert uns J. S. Conway aber daran, wie verhalten die Reaktionen beider großer Kirchen auf das allmähliche Bekanntwerden des Holocausts ausfielen. Das Un­recht, welches Juden als Juden zugefügt wurde, verkannten selbst viele Gegner des NS-Regimes. Noch die Stuttgarter Schulderklärung von 1945 blendet diese Frage aus. Dies und andere Indizien führen C. Vollnhals zu der Behauptung, dass Kontinuitäten nationalprotestantischer Mentalitäten in der Kirche bis weit in die 50er Jahre vorherrschten. Die Rolle von Bischöfen wie Wurm im Rahmen der Entnazifizierungsvorgänge und der Nürnberger Prozesse lässt da manches Urteil ins Wanken geraten. Gleichwohl be­schleicht einen an anderer Stelle der Verdacht, hier würde aus einer sicheren Gegenwartsposition über frühere Generationen der Stab gebrochen. Dass sich eine angesichts drohender Gebietsverluste, schwieriger Ernährungslage und Massenflucht zugegebenermaßen pathetisch formulierte EKD-Stellungnahme von 1947 »wie selbstverständlich des aus der NS-Ideologie überkommenen Klischees vom fehlenden Lebensraum bediente« (413), muss sauber nachgewiesen und darf nicht schlicht durch gleiche Wortwahl konstatiert werden. D. Pollack warnt von daher zu Recht vor einer Entlastung des Historikers durch gelungene Nachweise verbor­gener Kontinuitäten. Selbst die in den Jahren zwischen 1945 und 1948 statistisch wieder steigende Akzeptanz nationalsozialistischer Überzeugungen darf nicht einfach mit einer Unbelehrbarkeit der Deutschen gleichgesetzt werden, sondern muss im Lichte der Ereignisse der Besatzungspolitik in den einzelnen Zonen sorgfältiger untersucht werden. Soziologisch informierte Mentalitätsanalyse lebt vom Wechselspiel mit der Ereignisgeschichte und trägt zu einer genaueren Erforschung der Vergangenheit bei (466). Im Band hätte man davon bei anderen Autoren gerne mehr gelesen.
Das Verhältnis von nationaler und religiöser Identität stellt ein wichtiges Kapitel neuzeitlicher Christentumsgeschichte dar. Insofern das prekäre Verhältnis von Glaube und Politik hier auf die Probe gestellt wird, sind Erfolgs- wie Verlustgeschichten lehrreich für die Zukunft. Historische Forschung darf dabei nicht kontextvergessen arbeiten. Darum bemüht sich dieser Sammelband, auch wenn notwendige Begriffsklärungen (Was ist Nationalprotestantismus? Was verstehen die Autoren unter Mentalität? etc.) im Vorfeld der Einzelstudien leider fehlen. Wirksame Vergangenheits­bewältigung, das zeigt die Geschichte der Stuttgarter Schulder­klärung allemal, muss ohne Tabus auskommen. Mahnend lautet da­her eine rabbinische Weisheit: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.