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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1338–1340

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ackermann, Sonja

Titel/Untertitel:

Christliche Frauen in der DDR. Alltagsdokumente einer Diktatur in Interviews. Hrsg. v. Bund katholischer deutscher Akademikerinnen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 373 S. 8°. Kart. EUR 19,80. ISBN 3-374-02325-8.

Rezensent:

Gisa Bauer

Der Band systematisierter und kommentierter Interviews mit ka­tholischen Frauen stellt das Substrat einer sechsbändigen Sammlung von Dokumentationen der Lebenserinnerungen und Berichte über Erfahrungen und Erlebnisse von Katholikinnen in der SBZ bzw. DDR dar. Die etwa 1500 maschinenschriftliche Seiten umfassende Sammlung der 97 Originalinterviews lagert im Archiv der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn, und man wird angesichts dieser Materialfülle Walburga Fischer-Gottlob als Vertreterin des für die Herausgabe zeichnenden Bundes katholischer deutscher Akademikerinnen nur zustimmen können, dass mit »dieser ersten Auswertung … nur ein kleiner Teil des Schatzes gehoben [ist], den die Dokumentation enthält« (13). Vor dem Hintergrund des Forschungsdesiderates, das sich bisher im Hinblick auf Dokumentation und systematisierte Darstellung der Lebenssituation von christlichen Frauen in der DDR stellte, gewinnt der von der Historikerin Sonja Ackermann bearbeitete Band seine besondere Bedeutung.
Die narrativen Interviews des Bandes wurden in der Bearbeitung mehreren Leitthemen zugeordnet, die den in den Gesprächen abgefragten Lebensabschnitten der interviewten Frauen folgen. Unter dem Thema »Die Fundamente der eigenen Position« (23–57) werden die Erfahrungen in der Kindheit, vor allem mit den Eltern und deren christlicher und politischer Einstellung, aber auch mit Pfarrern und im Religions- bzw. Christenlehreunterricht besprochen. Der folgende Schritt führt in die Jugend der befragten Frauen (»Begegnungen mit dem Sozialismus in der Jugend«, 59–225). Hier kristallisiert A. mehrere Schwerpunkte heraus: Zum einen kommen die Erfahrungsberichte zur Sprache, in denen die Schulzeit an der POS geschildert wird (61–116), des Weiteren die von Ambivalenz geprägten Entscheidungsfindungen für oder gegen die Pionierorganisation, die FDJ (117–153) und die Jugendweihe (154–171) und schließlich das Erleben der Schulzeit an der EO S (172–225). Quantitativ ebenso umfangreich präsentiert sich in dem Interviewband das Material zu den »Begegnungen mit dem Sozialismus im Erwachsenenalter« (227–368), das in die Aspekte »Berufsleben« (229–279), »Elternperspektive« (280–332), »Wahlen und Wahlverweigerung« (333–348) sowie »Begleitung von Wehrdienstverweigerern und Bausoldaten« (349–368) aufgefächert ist.
Die Stärke des Buches liegt zweifelsohne in der Veranschau­lichung der historischen Atmosphäre christlichen Lebens in der DDR mit all seinen offenen und versteckten Repressionen seitens des Staates und der staatlichen Institutionen. Diese Anschaulichkeit wird vor allem dadurch evoziert, dass die Protagonistinnen in längeren Zitaten selbst zu Wort kommen.
Wie A. einleitend betont, liegt der Auswertung kein sprachanalytischer Schwerpunkt zu Grunde (16). Dem Vorbehalt gegen die Methode der »oral history«, »deren subjektiver Gehalt zu groß sei« (16), begegnet A. mit dem Verweis auf die Subjektivität des schriftlichen staatlichen Aktenmaterials der DDR-Zeit, dem es im Sinne »eine[r] ausgewogene[n] Geschichtsschreibung« die »Erfahrungen und Perspektiven derjenigen, die in den Akten überhaupt nicht oder nur als Objekt zu Wort kommen« (17) gegenüber- bzw. an die Seite zu stellen gelte. Ziel der Interviewsammlung und -auswertung sei es, »einen Be­reich näher zu erschließen, der sowohl der Mentalitätsgeschichte und der Alltagsgeschichte der DDR zuzurechnen ist als auch in die engeren Gebiete der Frauen- und Kirchengeschichte gehört« (17). Ebenfalls einleitend weist A. darauf hin, dass für die Auswertung »die Erinnerungen und Einschätzungen der Befragten zu ähnlichen Situationen und Phänomenen diachron, überregional und ohne Berücksichtigung der Konfession und des beruflichen sowie des familiären Umfeldes miteinander verglichen [wurden]« (21). Durch dieses Vorgehen erscheine die »Gruppe christlicher Frauen aus den Jahrgängen von 1909 bis 1973 manchmal homogener« (21), als sie eigentlich sei. Gerade aber die »Zusammenstellung vergleichbarer Erinnerungen« ist ein Anliegen der Systematisierung der Interviews, wie A. selbst bemerkt (21.369).
Diese methodische Ausrichtung der Interviewsammlung ist nun aber auch ihre Schwäche, denn die resümierten Ergebnisse stellen zwar durchaus manchen interessanten Zusammenhang klarer heraus, in der Gesamtheit aber wiederholen sie das, was als »Zusammenschau vergleichbarer Erinnerungen« bereits Teil des kulturellen Gedächtnisses im Hinblick auf das christliche Alltagsleben in der DDR ist. Dazu gehören Feststellungen wie die, dass sich Christinnen »bewusster als andere mit den Forderungen des SED-Staats« auseinandersetzten, stärker Nachteile in Kauf nahmen, aus dem Glauben und der Kirchenzugehörigkeit »die Kraft schöpfen konnten, sich mit dem übermächtigen Staat auseinander zu setzen« (370), eine »eigenständige Position … in der sozialistischen Gesellschaft eingenommen haben« und damit den hohen »Anspruch des christlichen Glaubens« verdeutlichen, »der in der DDR gelebt wurde« (371) – kurz gefasst, dass die »Geschichte von Christinnen in der DDR … auch ein Stück dokumentierter Widerstandsgeschichte« ist (372). Dies alles lässt sich für den christlichen/kirchlichen Alltag in der DDR generell erheben. Eine der u .a. interessierenden Fragen, die leider weitestgehend offen bleibt, sich aber unmittelbar aus dem Titel des Bandes ableitet, ist die nach dem Frauenspezifischen an diesen Lebensläufen in einer Diktatur. Weiterhin hat die starke diachrone Betrachtung der Interviews unter Abstinenz einer Darstellung des historischen Kontextes auch manche Unschärfe zur Folge: Die kurzen Zusam­menfassungen von A. nach den jeweiligen Unterschwerpunkten, in denen Interview­auszüge geboten werden, konzentrieren sich auf die innertextliche Auswertung – dadurch geraten historische Fakten nicht nur in den Hintergrund, sondern beginnen zu verschwimmen. So ist es, um ein Beispiel zu nennen, nicht sonderlich erhellend, angesichts der Tatsache, dass der Religionsunterricht in den 1950er Jahren in der DDR abgeschafft und in der heute bekannten Form als Unterricht an den öffentlichen Schulen schließlich radikal verboten wurde, ohne jeden Unterschied bzw. ohne Erklärung nahezu synonym von Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht und Christenlehre zu sprechen (50–57).
Es bleibt hervorzuheben, dass die methodische Anlage des Bandes eine sehr gut lesbare, atmosphärisch dichte Kontur des Alltagslebens von christlichen Frauen in der DDR zeichnet, die bei einer differenzierten Betrachtung allerdings Fragen zur historiographischen Präzisierung aufwirft. A. betont selbst, an diesem Punkt seien weitergehende Arbeiten auf der Basis des Interviewmaterials lohnenswert (21).