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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1333–1335

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Happ, Martin

Titel/Untertitel:

Alte und Neue Bilder vom Heiligen Martin. Brauchtum und Gebrauch seit dem 19. Jahrhundert.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau Verlag 2006. 439 S. m. Abb. 8° = Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, 37. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-412-05706-0.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Zumeist werden Arbeiten über Brauchtum und Volksfrömmigkeit von Hobby- oder Regionalhistorikern verfasst, was nicht gegen sie spricht. Sie halten mit ihren Arbeiten einen wichtigen Zweig alltäglichen Lebens damit im Bewusstsein. Bei dieser Arbeit handelt es sich aber um eine Dissertation, die 2005 der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln vorgelegt wurde. Das ist bei der Lektüre und bei der Wertung der Arbeit unbedingt zu berücksichtigen.
Der Vf. stellt zunächst sehr kurz »Leben und Wirken des Martin von Tours« vor (11–19), 2. »Die Modellierungen Martins in der er­baulich-religiösen Gebrauchsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts« (20–91), 3. »Martin von Tours in Wissenschaft und Dichtung« (92–207), 4. »Das Martinsbrauchtum im 19. und 20. Jahrhundert« (208–348), 5. »Weitere Deutungsvarianten der Martinsgestalt und des Martinsbrauchtums« (349–349). 6. »Resumee« (395–417) beendet die Arbeit; Quellen-, Literatur- und ein Abbildungsverzeichnis sind beigegeben, Register nicht.
Unzweifelhaft gehört Martin von Tours zu den volkstümlichen Heiligen auch in Deutschland, wobei eine Nationalisierung des Heiligen nicht in Deutschland, wohl aber in Frankreich anzutreffen ist (209). In den Blickpunkt wissenschaftlichen Interesses tritt das Brauchtum im 19. Jh. Zur gleichen Zeit ändert sich das Brauchtum im römisch-katholischen Bereich, während in den Gebieten, in denen die evangelischen Kirchen dominierend sind, Martin von Tours mit Martin Luther in Parallele gesetzt wird. Eine deutliche Zunahme des Brauchtums kann nach Meinung des Vf.s nicht darüber hinwegtäuschen, dass »die prägende Kraft christlicher Legenden abnimmt ... und von einer Erosion der Symbole ... als einem Merkmal der ›post-modernen‹ Gesellschaft« gesprochen werden muss (395). Es zeigt sich: »Das Martinsbild des 19. und 20. Jahrhunderts ist ein mixtum compositum aus diversen historischen und theologischen Quellen. Dabei haben die sukzessive sich entwickelnden Formen von Heiligenverehrung und Brauchtum die his­torische Primärquelle überlagert« (413). Dafür bietet der Vf. viel Anschauungsmaterial – bis hinein in die Werbung für die Konsumgüterindustrie: »Ein ehemaliges (mittelalterliches) kirchlich-religiöses Deutungsmonopol ist offensichtlich gefallen: Sankt Martin ›wandert‹ aus der Kirche aus« (416). Andererseits ist aber auch festzustellen, dass Martin von Tours bis heute eine »sinnstiftende Funktion ausübt« und »Ausdruck für das Existenzverständnis von Menschen« gibt (6). So wird Martin von Tours in ganz unterschiedlicher Weise ›gebraucht‹ oder oft missbraucht.
Der Vf. schließt sich (nicht unkritisch) der Auffassung an, dass es sich bei Martin von Tours um eine historische Gestalt handelt, einem »hyperkritischen Martinsbild« folgt er nicht. Andererseits aber bezieht er auch sehr persönlich Stellung, wenn er sich (mit Reinhold Schneider u. a.) dafür entscheidet, dass Martin von Tours zu den christlichen Soldaten zählt, die den Kriegsdienst verweigert oder Kritik an der Bischofshierarchie seiner Zeit geübt haben (19.78.188 ff.). Die römisch-katholische Frömmigkeit sah in seiner Vita eine ›Gebrauchsanleitung zum Katholischsein‹ (20 ff.). Martinslieder und -anrufungen (»Martinus, Mann der Gnade, sei unser Schutzpatron, führ’ uns auf deinem Pfade hinauf zu Gottes Thron ...!«, 32) werden im Laufe der Zeit seltener. Häufig wird Martin von Tours zum bekannten »Bild katholischer Heldengeschichte«, doch nur selten wird er für den Dienst römisch-katholischer Soldaten in der Wehrmacht instrumentalisiert (38 f.). Aber er wird noch in den 1950er Jahren, ja 1993 zum »heiligen Krieger« stilisiert (52.179).
Vielfach wird die Gestalt des Martin von Tours in Literatur und darstellender Kunst verwendet. Um religiöse Phänomene zu erschließen, nimmt schon die Kindergartenliteratur auf ihn Bezug. Die Mantelteilung wird »als Symbol der Mitmenschlichkeit« interpretiert (75). Sogar in die Comicliteratur hält er Einzug. Später werden Beispiele für Parodien und Satiren aufgeführt (183 ff.). Luise Rinser, Eugen Drewermann u. a. forderten, auch my­thi­sche Elemente in die Legendendarstellungen aufzunehmen (95.149). Dass aus religionspsychologischer Sicht zahlreiche Bräuche einen abergläubisch-magischen Hin­tergrund besitzen, ist unzweifelhaft. Aber auch den »Teufelskreis von Angst und Mitleid: Das Helfersyndrom« bei Drewermann u. a. ordnet der Vf. hier ein (155).
Dann kommt der Vf. (warum nicht im zweiten Kapitel?) auf die Kinder- und Jugendbücher zu sprechen. Den Memoriervers »Martin, von Dir lerne ich. Gern schenke und gern teile ich« bezeichnet er als ein »religiös motiviertes Dressat« (176). Das ist in der Heiligenliteratur kein Einzelfall. Und selbst das DDR-Ministerium für Staatssicherheit missbrauchte den Namen von Martin von Tours als IM-Name für Hermann Kant (202).
Im Abschnitt über »Martinsbrauchtum in volkskundlicher Sicht« bezieht sich der Vf. vor allem auf den Bereich Rheinland-Westfalen. Dabei untersucht er besonders die Bräuche Heischegang und Laternenumzug, ohne aber diese ganz in ihrer Genese erklären zu können. Ob wirklich der Laternenumzug von Lk 11,33–36 als Perikope für den 11. (!!) November erklärt werden kann, bezweifelt selbst der Vf. (227). Die geradezu flächendeckende Verbreitung des Umzugs in den letzten 30 Jahren über die Konfessionsgrenzen hinweg (der Vf. nennt Duisburg ebenso wie Erfurt) ist ein auffallendes Phänomen. Zweifellos spielt dabei eine Rolle, dass hier die Gestalten von Martin von Tours und Martin Luther gemeinsam geehrt werden sollen. Dies zeigt aber wiederum, dass das christliche Motiv dieser Umzüge deutlich ist; den Widerspruch zur Feststellung des Vf.s, dass die prägende Kraft christlicher Symbole abnimmt, erkennt er anscheinend nicht. Das Martinsbrauchtum wird in seinem ganzen Facettenreichtum analysiert – bis hin zur Musik (die akustische Gestaltung der Aufführung einer Martins-Vesper kam s. E. »bisweilen einer Hörbelästigung gleich« (333). Auch in der »alternativen Kultur« ist die Gestalt von Martin von Tours angekommen.
Zurzeit sei eine genauere Analyse der Verbreitung des Namens »Martin« noch nicht möglich, doch erweise sich, dass der Name in evangelischen Gebieten wesentlich häufiger vergeben wird als in römisch-katholischen (338). Insgesamt zeige sich, dass »die Martinsgestalt im Protestantismus ... in erster Linie im Kontext der Gestalt des Reformators« steht, aber ebenso »auch in der Linie einer mittelalterlichen römisch-katholischen Frömmigkeitspraxis« (349). Zum Verständnis dessen, was die evangelisch-lutherische Kirche vom »Dienst der Heiligen« lehrt, wäre ein Verweis auf CA XXI nötig. So würde auch die vom Vf. nicht weiter erklärte »ökumenische Dynamik, die schon 1972 zu DDR-Zeiten, z. B. von Erfurt aus, auch auf andere Städte abstrahlte«, verstehbar. Und schließlich wurde auch noch Martin Luther King in die Reihe der zu ehrenden Martins aufgenommen (357 f.). – Selbst Analogien zu anderen Weltreligionen werden gezogen, die Martins-Gestalt in der heutigen Maya-Religion, in esoterischen Zusammenhängen oder im Werk Jakob Lorbers vorgestellt, dazu in der altkatholischen Frömmigkeit oder in der Anthroposophie (die Reihenfolge ist verblüffend), zuletzt im nichtreligiösen Kontext bzw. in politischer Instrumentalisierung, der Gebrauch des Martin-Namens im Gesundheitswesen und in der Konsumgüterindustrie.
Das Buch reflektiert das Brauchtum um die Gestalt des Martin von Tours in all seinen Facetten. Doch mangelt der Darstellung eine Systematisierung. Es gibt zahlreiche Wiederholungen bzw. gleiche Sachverhalte werden an verschiedenen Stellen dargeboten. Das zeigen auch die hier aufgeführten Zitate. Ein Register wäre schon deswegen eine Hilfe gewesen. Zweifellos bietet das Buch eine umfassende Darstellung dieses Brauchtums. Das ist anerkennend hervorzuheben.