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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1328 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Nissing, Hanns-Gregor

Titel/Untertitel:

Sprache als Akt bei Thomas von Aquin.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2006. XIV, 827 S. m. Abb. gr.8° = Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 87. Geb. EUR 212,00. ISBN 90-04-14645-8.

Rezensent:

Michael Basse

Diese umfangreiche Studie – eine Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn – verfolgt das Ziel, die Sprachkonzeption des Thomas von Aquin zu analysieren und dabei deren ›Aktualismus‹ hervorzuheben. Damit soll nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters geleistet werden, sondern auch die Relevanz dieser Konzeption für die Sprachphilosophie der Gegenwart aufgezeigt werden. Methodisch steht die Textinterpretation der beiden Aristoteles-Kommentare des Aquinaten zu Peri hermeneias (De interpretatione) und der Analytica posteriora im Mittelpunkt. Das Strukturierungsprinzip der Untersuchung bilden die drei Verstandestätigkeiten des Erfassens (Wahrnehmung), des Verbindens und Trennens (Urteil) sowie der Schlussfolgerung (Beweis). Die eingehende Analyse der thomanischen Reflexionen gewinnt durch die Berücksichtigung der philosophie- und bildungsgeschichtlichen Zusammenhänge an historischer und systematischer Tiefenschärfe.
In einem ersten Teil (33–247) werden die Prinzipien der thomanischen Sprachkonzeption bestimmt. Ausgehend von dem aristotelischen Verständnis des Menschen als vernunftbegabtes und soziales Lebewesen wird der Ursprung der Sprache in einen teleologischen Horizont gestellt und ihre Aktstruktur anthropologisch auf die Verfasstheit der Seele zurückgeführt. Den Bezugspunkt der Sprachanalyse bildet das gesprochene Wort, dem Thomas gegen­über den geschriebenen Zeichen eine Priorität beimisst und das als Ausdruck natürlicher wie auch als Zeichen willentlicher Spontaneität in den Blick kommt.
Erkenntnistheoretisch fundiert sind die thomanischen Überlegungen zum Zeichencharakter der Sprache in seiner Auffassung von den »Seeleneindrücken« (passiones animae). Vor allem trinitätstheologisch motiviert ist seine Lehre vom ›inneren Wort‹, die »das ›Herzstück‹ der thomanischen Sprachtheorie« (122) bildet. Dabei wird das ›innere Wort‹ in Analogie zum äußeren Sprachphänomen »als Produkt einer spontanen Formung durch den erkennenden Intellekt begriffen« (123). Zeichnet sich hier ein »operatives Verständnis der innermentalen Voraussetzungen des Sprechens« (161) ab, so nimmt dieses noch deutlicher Gestalt an, wenn die Rolle der Verstandestätigkeiten als »Strukturierungsprinzip von Sprache« (177) berücksichtigt wird.
Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage befasst sich der Vf. im zweiten Teil seiner Arbeit (249–488) mit dem Urteilsakt als dem »Angelpunkt menschlichen Sprechens« (249). Dabei stellt der ontologische Wahrheitsbegriff des Aquinaten den Bezugsrahmen seiner Sprachtheorie dar, in deren Zentrum das Verb ›esse‹ als »Quelle und Ursprung aller Verben« (381) steht, insofern es auf elementare Weise Existenzprädikat und Zeitbestimmung zugleich ist. Den für seine Arbeit insgesamt entscheidenden Fokus legt nun der Vf. darauf, die Prädikationstheorie des Aquinaten als Sprechakt- und Handlungstheorie zu entfalten. Dazu geht er von der thomanischen Analyse verschiedener Arten menschlicher Rede (›oratio‹) aus, die als ›Sprechakte‹ verstanden werden können, und zeigt dann auf, wie diese Sprachtheorie insbesondere im Zusammenhang der Tugendlehre des Aquinaten in eine »(umfassendere) Theorie des Handelns« (465) eingebunden wird. Damit verknüpft sind grundlegende Beobachtungen zur sozialen Dimension menschlicher Kommunikation, in der es nach Thomas ganz wesentlich um den Wahrheits- und Wirklichkeitsbezug von Sprache geht.
Im dritten Teil (489–705) wird schließlich der Frage nachgegangen, worin das »sprachliche Tätigsein« (491) an sein Ziel gelangt. Im Anschluss an die Zweite Analytik des Aristoteles und in der Konsequenz der teleologischen Grundstruktur des thomanischen Denkens rückt hier die ›demonstratio‹, d. h. der beweisende Syllogis­mus als »Paradigma einer wahren Rede« (491) in den Mittelpunkt der sprachphilosophischen Analyse.
Ein Proprium der thomanischen Konzeption ist es, dass sie über die Rhetorik hinaus auch »Formen mimetischer bzw. poetischer ›Vermittlung‹ von Erkenntnis« (622) integriert. Damit wird der um­fassenden »leib-seelischen Verfaßtheit des Menschen« (623) Rechnung getragen, aber eben in der vorherrschenden Perspektive der erkenntnisvermittelnden Funktion von Sprache, wie sie dem Le­benswerk des Aquinaten entsprach. Im Gesamtzusammenhang der »Theorie des Lehrens und Lebens« (635), die letztlich den Zielpunkt der thomanischen Sprachkonzeption bildet, hatte seine Re­flexion über Sprache auch eine wissenschaftstheoretische und wissenschaftspragmatische Bedeutung für die Ordnung der Wissen schaften und Disziplinen. Thomas ordnet sie der praktischen Phi­losophie zu und sieht zugleich ihren Nutzen in ihrer Ausrichtung auf das übergeordnete Ziel der ewigen Glückseligkeit (›beatitudo‹). Durch die Integration der Rhetorik und der Poetik ist der thomanische Entwurf gegen die Kritik gefeit, aristotelisch geprägte Sprachkonzeptionen gerieten unter das ›Joch der Logik‹. Demgegenüber ist es Thomas gelungen, die grundlegende Bedeutung des Urteilsaktes für eine umfassende Sprechakttheorie zu erschließen und so die Syllogistik auf die konkrete Kommunikationssituation zu beziehen.
Ist es in dieser Ausrichtung die primäre Funktion von Sprache, Erkenntnis zu vermitteln, so zeichnet sich die thomanische Sprachtheorie im Unterschied zur augustinischen Zeichentheorie dadurch aus, dass sie in den Prozessen des Lehrens und Lernens die Eigenständigkeit der menschlichen Vernunfttätigkeit betont. Damit verbunden ist eine »prinzipielle Aufwertung des äußeren Wortes«, dem in diesen Prozessen eine »konstitutive Bedeutung« zukommt (684). Das Ziel des Lehrens ist dann auf Seiten des Lernenden ein Wissenserwerb in Form eines intellektuellen Habitus’, der dadurch erreicht wird, dass der Lernende den Urteilsakt nachvollzieht, den der Lehrer »durch seine sprachliche Äußerung gewissermaßen ›vorführt‹« (687). Dieser Nachvollzug ist an die Zustimmung (›assensio‹) des Schülers gebunden, so dass dessen Eigenständigkeit gewahrt ist und er als »wirklicher Gesprächspartner« (689) ernst genommen wird. Das entspricht wiederum den anthropologischen Prämissen, denn diese Konzeption, die »ihre Bedingung und ihren Kern in einem zweck­freien Zur-Sprache-Bringen von Erkenntnis« (690) hat, resultiert aus der Wesensbestimmung des Menschen als vernunftbegabtes und soziales Lebewesen. Damit wird die ›doctrina‹ im Sinne des »lehrenden Sprechens zu einem anderen hin« zu einer »Lebensform« (690), der sich Thomas von Aquin im Kontext des spezifischen Selbstverständnisses seines Ordens verpflichtet sah, deren institutionelle Umsetzung an den Universitäten aber gerade zu seiner Zeit umstritten war.
Eine präzise Zusammenfassung (707–742), ein Quellen- und Li­teraturverzeichnis sowie ein Register schließen diese Studie ab, die sehr luzide die grundlegenden Intentionen und feinen Verästelungen der thomanischen Sprachtheorie herausarbeitet und dabei nicht nur die vielfältigen Verbindungen zu antiken und mittelalterlichen Traditionen, sondern auch zu den sprachphilosophischen Diskursen der Gegenwart aufzeigt. Gerade angesichts seines inhaltlichen Ertrages, der auch theologisch von großem Interesse ist, bleibt aber zu fragen, ob eine Straffung dieses voluminösen Bu­ches für dessen wünschenswerte Rezeption nicht vorteilhaft gewesen wäre.