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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1322 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Horst, Ulrich

Titel/Untertitel:

Wege in die Nachfolge Christi. Die Theologie des Ordensstandes nach Thomas von Aquin.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2006. VIII, 218 S. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. Neue Folge, 12. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-05-004239-8.

Rezensent:

Otto Hermann Pesch

Bekanntlich wurde Thomas, benannt nach der Grafschaft Aquino seines Vaters Landulph als jüngster Sohn unter noch drei Brüdern und fünf Schwestern nach der Sitte der Zeit, also mit fünf Jahren, als sog. »Oblate« (»Dargebrachter«) der machtvollen Benediktinerabtei Monte Cassino übergeben – nicht ohne Karrierehoffnungen der Eltern für den Sohn. Dies bedeutete – wie H. gegen die sententia communis nachweist (115–123) – eine Verpflichtung für das ganze Leben. Aus der Abtei auszuscheiden war nach geltendem Recht nur möglich als Übertritt in einen »strengeren« Orden (27) – was Rück­schlüsse auf den Lebensstandard in der alten Abtei zulässt. So tritt Thomas im Alter von 18 Jahren – nach kurzem Intermezzo als »weltlicher« Student an der Universität Neapel nach Ausbruch der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Papst Gregor IX. und Kaiser Friedrich II. – 1243 in den damals gerade gut 20 Jahre alten Orden der »Predigerbrüder« ein – nach dem Ordensgründer bald »Dominikaner« genannt. Auch ein einjähriger Hausarrest des auf der Reise von den Brüdern gekidnappten Thomas kann den jungen Mann nicht mehr von seinem Entschluss abbringen. Welche persönlichen Motivationen und theologischen Überzeugungen stehen hinter dieser Lebensentscheidung? Der neue Orden – ebenso wie die Franziskaner und noch andere ähnlichen Typs – war höchst umstritten; die Orden waren das im Weltklerus wegen ihrer attraktiven Seelsorgetätigkeit, an der Universität wegen der Konkurrenz ihrer Studienangebote in ihren Studienhäusern, bei den Bischöfen wegen ihrer unmittelbaren Unterstellung unter die Ju­risdiktion des Papstes. So kommt der 1256 – durch den Papst! – frisch zum Magister in Paris berufene Thomas von Anfang an in die Situation, die Lebensform seines Ordens verteidigen zu müssen – und von da an bis in sein Spätwerk, die Summa Theologiae, eine Theologie des Ordenslebens zu entwickeln, bei der »unter dem Strich« der Orden der Predigerbrüder nächst den Bischöfen der objektiv vollkommenste »Stand« in der Kirche ist. Aber nicht alles ist von vornherein klar. Diese Entwicklung zeichnet H. in minutiöser Analyse aller Details nach, so überzeugend unter Auswertung aller verfügbaren Quellen und der umfangreichen Sekundärliteratur, dass das Buch zum Standardwerk zum Thema werden dürfte.
Die äußeren Eckpunkte sind zwei große Kontroversen, in die sich Thomas – im Auftrag und als Anwalt seines Ordens – mit Streitschriften einschaltet, in denen auch die bei ihm sonst seltene Polemik nicht fehlt. Die erste Kontroverse betrifft die durch Wilhelm von St. Amour angeführte Attacke der Magistri aus dem Weltklerus gegen die neuen Orden, die Thomas, übrigens in Gemeinschaft mit Bonaventura aus dem Franziskanerorden, mit der Streitschrift Contra impugnantes Dei cultum et religionem (1256) beantwortet. Darin liefert er die erste große Selbstreflexion des immer noch jungen, aber durch Erfolge in Studium und Predigttätigkeit selbstbewusst und gerade im Universitätsmilieu attraktiv gewordenen Ordens (25–76). Der zweite Konflikt entwickelt sich mit und um Gerhard von Abbeville, der seit 1268 gegen den radikalen Franzis­kaner Thomas von York schrieb. Dieser hatte wegen der absoluten Besitzlosigkeit seinen eigenen Orden als den vollkommensten »Stand« in der Kirche hingestellt. Der Angriff des Gerhard aber zielte bald auf die Mendikanten insgesamt und bestritt ihnen den objektiven Status als »Stand der Vollkommenheit«. Dazu schrieb Thomas zunächst den ruhigen Traktat De perfectione vitae spiritualis (77–89). In einem weiteren Werk polemisierte Gerhard gegen die Praxis bei den Mendikanten, auch Jugendliche in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Das traf die Rekrutierungspraxis auch im Predigerorden und veranlasste Thomas neben zwei Quodlibeta zu der Streitschrift Contra doctrinam retrahentium a religione (90–115). In der Summa Theologiae (183–189) schließlich findet Thomas zu einer ruhigen, abgeklärten, vom keineswegs beendeten Streit freien Theologie des Ordensstandes (129–209).
Worin bestehen die entscheidenden Fortschritte der Entwicklung? Anders als in den frühen Äußerungen muss Thomas im Spätwerk nicht mehr die Existenz der neuen Orden verteidigen, wohl aber ihren Anspruch auf den objektiven status perfectionis. Vor allem drei Punkte kann Thomas nun abschließend klären. 1. Das Verhältnis von Aktion (Predigt, Lehre, Seelsorge) und Kontemplation (Studium): Tätigsein als die größere Liebe im Vergleich zur »bloßen« Kontemplation mit ihrem latenten religiösen Egoismus (gegen die alten Orden). 2. Das rein instrumentale Verständnis der Armut: Diese ist nicht Selbstzweck, sondern Freiheitsgewinn im Dienst der Verkündigung (gegen die Franziskaner). 3. Das Verständnis des Bischofsamtes als des absolut »vollkommensten« Standes wegen der Leitungsverantwortung für das Ganze der Kirche – gegen die gegenläufigen Thesen unter den Weltpriestern.
Bemerkenswert: 1. Die Spannung zwischen Aktion und Kontemplation hat Thomas in seinem persönlichen Lebensstil mustergültig ausgehalten, ist sich aber kaum des alltäglichen Konfliktpotentials in seinem Orden bewusst geworden – denn Kontemplation heißt bei Thomas vor allem: fortdauerndes Studium. 2. Die Interpretation des Armutsgelübdes steht zur Zeit des Thomas schon längst quer zur Realität, denn Besitz von eigenen Kirchen, Konvents- und Studienhäusern und wachsenden Bibliotheken ließen das Ideal der Besitzlosigkeit, schon gar den Verzicht auf Immobilien fortschreitend rein theoretisch erscheinen. 3. Die Hervorhebung des Bischofsamtes konnte sich kaum an zeitgenössischen großen Bischofsgestalten festmachen – eher im Gegenteil. Die Vorbilder sind die großen bischöflichen Kirchenväter: Athanasius, Ambrosius, Augustinus. Das Bischofsbild des Thomas ist wohl eher ge­dacht als »Bischofsspiegel« für die zunehmende Zahl von Dominikanerbischöfen. Nicht unerwähnt sei die Stärkung der Stellung des Papstes durch die Ordenstheologie des Thomas. Schließlich ist der Papst der oberste der Bischöfe. Zudem konnten die Kontroversen in Paris mehrfach nur durch ein Machtwort des Papstes, wenn nicht geschlichtet, so doch beendet werden. Ebenfalls nicht unerwähnt seien die von H. herausgearbeiteten latenten autobiographischen Hinweise in den Texten des Thomas: die Distanzierung von der Familie, vor allem von der Mutter; das Studium als »größter Trost«.
Das alles kann man nicht zusammenfassen. H. selbst bietet einen umfangreichen Rückblick (123–126.210–214). Er stützt sich zudem auf frühere eigene Studien. Das sich durchhaltende Leitmotiv ist der Titel des Buches: Wege in die Nachfolge Christi – nicht weniger! Die theoretischen und vor allem die praktisch-faktischen Probleme der reformatorischen Kritik am Ordensleben hat Thomas noch nicht ahnen können. H. widersteht ausdrücklich jeder vorschnellen Aktualisierung. Eben deshalb gibt das Buch einen spannenden Einblick in das theologische Denken des Mittelalters. Ehe wir das als vergangen in den Orkus der Kirchengeschichte verweisen, müssten wir wohl darüber nachdenken, wie denn in der Le­benswelt von heute eine kompromisslose Nachfolge Christi aussehen könnte, die die reformatorische Kritik nicht auf sich zieht, aber vor dem Ernst der fremden Stimme aus dem Mittelalter nicht die Ohren verschließt.